Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

MonBERLIN


E


s gibt drei Erinnerungen, bei denen ich – ein fast Paw-
low’scher Reflex – weinen muss: die Geburt meiner Kin-
der, die Liebeserklärung von Hugh Grant in „Notting
Hill“, als er Julia Roberts bittet, ihm noch einmal eine Chance
zu geben, und die Nacht des 9. Novembers 1989, als die Ost-
deutschen plötzlich auf die andere Seite der Mauer strömten,
mit dem etwas verstörten Blick von Rehen im Scheinwerfer-
licht. Natürlich könnte ich jetzt meine eigenen Gedanken den
seit Wochen nicht abreißenden Analysen hinzufügen. Ich
könnte versuchen zu erklären, warum im Osten ein Viertel der
Bürger, die zur Wahl gehen, einer rechtsextremen Partei ihre
Stimme geben. Könnte sie als undankbar bezeichnen. Oder mil-
dernde Umstände ins Feld führen: Der Übergang vom einem
zum anderen System war zu brutal ... doch: HALT!
Wie Sie alle will ich mich heute lieber an die Nacht erinnern,
in der die ganze Welt den Atem anhielt. Ich war gerade erst
nach Deutschland gekommen und wohnte für ein paar Wochen
am Rande des Alexanderplatzes im Palast Hotel, diesem riesi-
gen Dampfer mit getönten Scheiben, wo die internationalen
Journalisten untergebracht waren. An die Pressekonferenz mit
Günter Schabowski erinnere ich mich nur
verschwommen: ein Stück Papier mit einer
Anweisung, deren Sinn nicht einmal er
selbst zu verstehen schien.
Ich erinnere mich, dass ich Bauch-
schmerzen hatte, als ich ins Hotel zurück-
ging. Was sollte ich schreiben? Dass die
Mauer wirklich fallen würde, hätte ich zu
diesem Zeitpunkt nicht gewagt vorherzusa-
gen. Ich erinnere mich an die ruhige
Stimme des Chefs vom Dienst, den ich an-
rief, und an die Totenstille, die mit einem
Mal im Redaktionssaal in Paris herrschte.
An meine Panik: „Es ist mir völlig unklar, was jetzt offiziell gül-
tig ist, und was wir bringen können!“ Und an sein: „Immer mit
der Ruhe, die Druckereien streiken gerade. Morgen gibt es so-
wieso keine Zeitung!“ An meine Erleichterung. Die Gewerk-
schaften gaben mir eine Galgenfrist.
Ich erinnere mich, wie ich am Checkpoint Charlie gemeinsam
mit Tausenden Ostberlinern wartete. Und dann setzte sich die
Menschenmenge plötzlich ganz langsam in Bewegung. Unsere
Schreie. Unsere Tränen. Eine völlig Unbekannte fiel mir um
den Hals, wir umarmten uns fest. Das konnte nicht wahr sein!
Und die Menge überquerte die Grenze, vorbei an den Kontroll-
posten, den Grenzsoldaten, den Hunden.
Ich erinnere mich an Karl-Heinz und Sabine, ein junges Paar,
mit dem ich die ganze Nacht den Ku’damm hoch und runter spa-
zierte. Es war die einzige Adresse, die sie im Westen kannten.
Ihr größte Sorge war: Werden wir wieder zurückkönnen? Ihre
Kinder waren bei der Großmutter in Pankow geblieben. Die bei-
den hielten sich an der Hand wie Hänsel und Gretel im finste-
ren Wald.
Ich erinnere mich an das Entsetzen meiner Freunde im Prenz-
lauer Berg, als sie ihre Landsleute mit Plastiktüten in der Hand
zurückkommen sahen: „Jetzt ist alles vorbei.“
Ich erinnere mich an die Verblüffung. Das Ereignis war zu
groß, zu brutal für eine gelassene Freude.
Ich erinnere mich, dass ich mich sehr klein gefühlt habe inmit-
ten der Menschenmassen und mehrmals gedacht habe: Was für
ein unglaubliches Glück, heute Nacht hier zu sein. Und ich
denke es noch immer: was für ein unglaubliches Glück.


— Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.


Was für ein


Riesenglück,


in jener Nacht


in Berlin


gewesen


zu sein


Von Pascale Hugues

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Von Sigmar Gabriel

E


s geht munter durcheinander in
der aktuellen Sicherheitsdebatte,
die sich vielleicht nicht zufällig
rund um den 30. Jahrestag des Mau-
erfalls abspielt. Eigentlich ist ein


  1. Jahrestag nichts Besonderes. In der Re-
    gel feiert man 25- oder 50-jährige Jubiläen
    und nicht 30-jährige. Aber es paaren sich die
    nationalen Verunsicherungen über die spür-
    bare kulturelle, wirtschaftliche und inzwi-
    schen sogar politische Teilung Deutschlands
    mit den Irritationen und Unsicherheiten in-
    nerhalb Europas und des transatlantischen
    Bündnisses. Da sollen Jahrestage offenbar
    symbolisch dort Sinn stiften, wo er konzep-
    tionell und inhaltlich verloren gegangen
    scheint. Die Erinnerung an wahrhaft he-
    roische Zeiten, an eine sensationelle Ge-
    schichte soll Leerstellen füllen.
    Die Leere im innerdeutschen Verhältnis
    nicht nur zwischen Ost und West, sondern
    auch zwischen Stadt und Land, arm und
    reich, integriert und desintegriert. Ein
    Deutschland, das keine Vorstellung davon
    zu haben scheint, wo es am Ende des jetzt
    beginnenden neuen Jahrzehnts stehen will,
    wenn die Neugeborenen von heute volljäh-
    rig werden. Politische Verantwortung sieht
    anders aus. Die Leere in einem Europa, das
    seine Geschichte so oft beschwören muss,
    weil es in Ost und West völlig unterschiedli-
    chen Vorstellungen über die Zukunft folgt.
    Die Leere im transatlantischen Verhältnis, in
    dem die einstige Führungsnation des Wes-
    tens neue geopolitische Prioritäten setzt, die
    außerhalb Europas liegen und die viel weit-
    reichender sind, als das tägliche Trump-Bas-
    hing bei uns vermuten lässt. Und nicht zu-
    letzt die Leere innerhalb der Nato, die weder
    weiß, wo ihre Grenzen liegen sollen, noch
    wie sie mit der drohenden erneuten atoma-
    ren Rüstungsspirale, dem mittleren Osten,
    der Türkei, Russland, China oder auch nur
    mit dem Ruf nach sicherheitspolitischer Au-
    tonomie der Europäer umgehen soll.
    Wenn der französische Präsident diesen
    Zustand als „Hirntod“ der Nato beschreibt,
    dann heißt das ja, dass er keine Hoffnung auf
    eine Wiederbelebung mehr hat und nun an
    die Entnahme der noch funktionsfähigen Or-
    gane gehen will, um sie nach Europa zu trans-
    plantieren. Im Kern spiegelt sich bei Macron
    der blanke Gaullismus wider: ein von den
    USA unabhängiges Europa, das global gestal-
    tet – und in dem Frankreich aufgrund seines
    Nuklearmachtstatus und der Mitgliedschaft
    im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
    und seiner territorialen Ausdehnung auf al-
    len Kontinenten der Welt der entscheidende
    Faktor zum Ausgleich der europäischen
    Machtinteressen wird.


Dass dies Europa vermutlich eher spalten
als einen wird, scheint dem französischen
Präsidenten egal zu sein. Noch jedenfalls
dürften die Polen, Balten und andere Ost-
und Mitteleuropäer eher den USA die Bereit-
schaft zur Verteidigung ihrer Freiheit zu-
trauen als den Deutschen und Franzosen. Zu
sehr bestimmen Geografie und Geschichte
noch den Blick auf die Gegenwart und die
Zukunft.
Es ist das Verdienst der Bundesverteidi-
gungsministerin Annegret Kramp-Karren-
bauer, dass sie darauf nach Antworten sucht
und die öffentliche Diskussion nicht scheut.
Ihr Problem ist nur, dass sie nicht selber zu
denken scheint, sondern auf die uralten und
gelegentlich schlicht unsinnigen Ideen ihrer
Soldatenbehörde zurückgreift. Denn nichts
anderes ist der Vorschlag für einen „Nationa-

len Sicherheitsrat“, den die Verteidigungsmi-
nisterin nun aufgewärmt hat und der wie ein
manövrierunfähiges U-Boot immer wieder
durch die sicherheitspolitische See treibt.
Denn es gibt ihn ja längst, den Bundessi-
cherheitsrat. Und das Putzige ist, dass die
Verteidigungsministerin und ihr oberster
Soldat diesem Gremium auch angehören –
ebenso wie der Außenminister, der Innenmi-
nister, der Finanzminister, der Entwicklungs-
hilfeminister, alle Geheimdienste und die
obersten Polizeibehörden des Bundes. Von
Cyber- und Terrorabwehr, Rüstungsexpor-
ten bis zu sicherheitspolitischen Lagebil-
dern kann und wird dort alles diskutiert.
Und dies unter der Leitung der Bundeskanz-
lerin. Was also soll der „Nationale Sicher-
heitsrat“ von Annegret Kramp-Karrenbauer
noch tun, was im Bundessicherheitsrat nicht
heute schon geschieht oder geschehen kann?
In Wahrheit erhoffen sich die „Strategen“
des Verteidigungsministeriums seit Jahren
mit diesem Vorschlag nur, dass eine höhere
Instanz – sprich ein nationaler Sicherheitsbe-
rater im Kanzleramt – hilft, das lästige Au-
ßenministerium zu entmachten. Denn die
Verfasser dieser Vorschläge im Bundesvertei-
digungsministerium (BMVg) leiden darun-
ter, dass sie nur für Verteidigungspolitik zu-
ständig sind. Sicherheitspolitik umfasst aber
weit mehr, und die Federführung dafür liegt
nun mal beim Außenministerium.
Wenn es nur um die üblichen Rangeleien
zwischen zwei Bundesministerien ginge,
wäre das nicht weiter schlimm. Obwohl es
nicht schlecht wäre, wenn auch die Beamten
des BMVg die deutsche Verfassung kennen
würden. Und nach der kann kein nationaler
Sicherheitsrat und schon gar nicht ein Sicher-
heitsberater im Kanzleramt dem Außen-
oder dem Entwicklungsminister Vorschrif-
ten machen. Man muss in der Zusammenar-
beit einer Koalition überzeugen und nicht be-
fehlen.
Aber dahinter steckt eben leider mehr:
eine fatale Verengung der Sicherheitspolitik
auf Fragen der Militäreinsätze. Deutschland
hat aber längst einen viel moderneren Be-
griff von „vernetzter Sicherheit“, bei dem
man ganz gewiss auch den Einsatz militäri-
scher Mittel und militärischer Gewalt gegen
Terror, Bürgerkriegsparteien oder poten-
ziell feindliche Aggressoren im Instrumen-
tenkasten haben muss, aber der darf sich da-
rauf nicht reduzieren. Krisenprävention, Di-
plomatie, Entwicklungshilfe, Klimaschutz,
wirtschaftliche und internationale Zusam-
menarbeit gehören eben auch dazu und sind

oft langfristig das einzig wirksame Mittel zur
Herstellung friedlicher Lebensverhältnisse.
Deshalb ist Verteidigungspolitik ein Unter-
fall der Sicherheits- und vor allem Friedens-
politik – der letzte Begriff scheint irgendwie
aus der politischen Mode gekommen zu sein.
Was wir wirklich als neue Institution brau-
chen, ist ein europäischer Sicherheitsrat un-
ter Einschluss der Briten, selbst wenn sie die
EU verlassen haben. Denn im Kern hat Eu-
ropa doch das Problem, keine gemeinsame
Sicht auf die Welt zu haben. In Libyen unter-
stützen Deutschland und Italien den völker-
rechtlich legitimierten, aber schwachen Mi-
nisterpräsidenten in Tripolis. Frankreich da-
gegen unterstützt dessen Bürgerkriegsgeg-
ner General Haftar. Und alle drei zusammen
jammern über den unkontrollierten Flücht-
lingshandel von bewaffneten Schlepperban-
den an der libyschen Küste.
Da ist offenbar nicht nur die Nato „hirn-
tot“, sondern vor allem die europäische Zu-
sammenarbeit. Um das zu ändern, muss
man eigentlich nur die Staats- und Regie-
rungschefs der EU zusammen mit den Au-
ßen- und Verteidigungsministern alle vier
Wochen gemeinsam tagen lassen. Schon der
Zwang, sich den unterschiedlichen Sichtwei-
sen auf die Welt regelmäßig zu stellen, wäre
ein heilsamer Fortschritt.
Eines ist den „Strategen“ aus dem BMVg
allerdings gelungen: Ihre Vorschläge bestim-
men die Debatte. Keiner fragt mehr, wie es
eigentlich um die Einsatzfähigkeit der Bun-
deswehr bestellt ist. Die ist ja derzeit nicht
einmal mehr in der Lage, ein altes Segel-
schulschiff mit vertretbarem Kostenauf-
wand zu sanieren. Auch in der Verteidi-
gungspolitik gilt die alte Fußballregel: „Die
Wahrheit ist auf dem Platz.“ Und da ist auch
große Leere.
Eigentlich braucht Deutschland das Ge-
genteil eines hinter verschlossenen Türen
geheim tagenden nationalen Sicherheitsra-
tes: nämlich eine öffentliche Diskussion
über unser sicherheitspolitisches Selbstver-
ständnis in einer sich völlig veränderten
Weltordnung. Die politische Führung
Deutschlands muss doch die Gesellschaft
vom notwendigen Wandel in der Außen-
und Sicherheitspolitik überzeugen. Davon,
dass es nicht Donald Trump ist, dem zu-
liebe wir mehr Geld in die deutsche und
europäische Verteidigungsfähigkeit inves-
tieren, sondern dass dies in unserem eige-
nen Interesse liegt. Davon, dass wir keine
„große Schweiz“ sein können, die wirt-
schaftlich erfolgreich, geopolitisch aber ir-

relevant ist. Denn dies macht uns zum Spiel-
ball anderer Mächte. Davon, dass wir un-
sere Interessen nicht mehr auf amerikani-
sche Flugzeugträger projizieren können,
weil die längst auf dem Weg in den Pazifik
sind. Dass wir nicht mehr die Wahl haben
zwischen Null-Risiko und Risiko, sondern
häufig zwischen zwei Risiken werden wäh-
len müssen. Denn der eine, die USA, will
nicht mehr jedes Risiko alleine tragen.

Zu alldem gehört in Zukunft auch die Be-
reitschaft, gemeinsam mit anderen Europä-
ern militärische Mittel einzusetzen. Aber be-
vor das ein nationaler Sicherheitsrat be-
schließt, muss doch unsere Gesellschaft in
der Mehrheit dazu bereit sein. Die Verteidi-
gungsministerin kann ja mal die deutsche Ge-
sellschaft zu ihrer Wehrbereitschaft befra-
gen. Die Ergebnisse dürften eher zeigen,
dass wir davon noch weit entfernt sind. Die
Aussetzung der Wehrpflicht war übrigens da-
für eine große strategische Fehlentschei-
dung, weil die Bundeswehr heute weit weni-
ger Teil unserer Gesellschaft ist als zu Zeiten
der Wehrpflicht. Nicht die Bundeswehr hat
sich von der Gesellschaft abgewandt, son-
dern große Teile der Gesellschaft von der
Bundeswehr, weil eben nicht mehr die eige-
nen Kinder potenziell zu dieser Armee gehö-
ren.
In dieser öffentlichen Debatte steckt der
richtige Kern der Diskussion, die Annegret
Kramp-Karrenbauer mit ihren Forderungen
nach einem europäischen Engagement in Sy-
rien und mit ihrer Grundsatzrede zu Recht
begonnen hat. Sie füllt damit die sicherheits-
politische Leerstelle, die von der Kanzlerin
derzeit hinterlassen wird.
Es wird Zeit, dass andere politische Par-
teien in diese Diskussion einsteigen. Der po-
litische Streit wird uns guttun und am Ende
auch Klarheit schaffen.

— Sigmar Gabriel war Vorsitzender der SPD
und mehrfacher Bundesminister – unter ande-
rem Außenminister – und ist Autor der Holtz-
brinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel
gehört. Seit Juni dieses Jahres ist Gabriel Vor-
sitzender der Atlantik-Brücke zur Pflege der
deutsch-amerikanischen Beziehungen.

Ich erinnere


mich


12 DER TAGESSPIEGEL MEINUNG NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019


Putziges aus der Soldatenbehörde


Was im Bundesverteidigungsministerium falsch gemacht wird und wo AKK trotzdem recht hat. Ein Gastbeitrag


Es gibt den Bundessicherheitsrat



  • da ist ein Nationaler


Sicherheitsrat ganz überflüssig


Offenbar ist nicht nur die Nato
„hirntot“, sondern auch die
europäische Zusammenarbeit

STUTTMANN D


In 75 Jahren haben Sie den Tagesspiegel zur größten Zeitung der
Hauptstadtregion gemacht. Dafür danken wir Ihnen 75 mal.
Welchen Dank haben wir vergessen? Schreiben Sie uns bitte an
[email protected] oder melden Sie sich unter 030 - 2902 1- 32653

Danke, dass Sie den Tagesspiegel


als zeithistorische Quelle schätzen.


(Folge 13) Ob Wissenschaftlerin, Leser oder Filmproduzentin: Sie alle wenden sich


an das Archiv des Tagesspiegels, weil Sie wissen: Wir haben in den letzten 75 Jahren


mit großer Sicherheit über wichtige Ereignisse berichtet. Ihr Interesse und Ihr


Vertrauen in unsere Archivrecherchen führen uns den Nutzen unserer Arbeit jeden


Tag wieder vor Augen.


Ihre Sonja Rückert,Dokumentarin


Sie haben den Tagesspiegel zur Nr. 1 gemacht. Wir sagen Danke.

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