Die Welt Kompakt - 12.11.2019

(Joyce) #1

D


er gute, alte Theodor
Storm war ja noch
relativ anspruchslos.
Angesichts der nun
anbrechenden langen Herbst-
und Winterabende im trauten
Heim dichtete er einst: „Der Ne-
bel steigt, es fällt das Laub,
schenk ein, den Wein, den hol-
den, wir wollen uns den grauen
Tag, vergolden, ja vergolden.“
Gold geht ja noch. Aber das
Bling-Bling vor den putzig auf
Waldeinsamkeitsklause deko-
rierten deutschen Wohnzim-
merfenstern, das uns demnächst
erwartet, hätte den Dichter aus
Husum vielleicht doch eher vor
einer Überdosis Heimeligkeit
warnen lassen, anstatt diese
auch noch zu besingen.

VON TILMAN KRAUSE

Nun ist die gesegnete Ad-
ventszeit ja noch nicht angebro-
chen, aber wenn wir ehrlich sind,
brauchen wir sie auch gar nicht.
Wir lieben es inzwischen ja das
ganze Jahr über kuschelig. Und
auf Instagram sind die erfolg-
reichsten Hashtags mit Beiträ-
gen im dreistelligen Millionen-
bereich „#nature“, „#naturelo-
vers“, „#naturephotography“.
Dort sieht man junge Eltern, die
gern mit Kindern und Tieren ko-
sen. Wer sich die Bilder an-
schaut, die immer auch eine In-
szenierung von Familienglück
und nachbarschaftlicher Harmo-
nie in naturbelassener Gemein-
schaft darstellen, mag das alles
wahlweise kitschig, komisch,
aaaber vielleicht auch einfach lie-ber vielleicht auch einfach lie-
benswert finden. Eines ist es
aaaber mit Sicherheit: ein beherz-ber mit Sicherheit: ein beherz-
ter Rückgriff ins 19. Jahrhundert.
Und ein beherzter Rückgriff
auf das motivische Repertoire
eines Malers, der wie kein ande-
rer das Glück im Winkel und die
Wonnen der Idylle darstellen
wollte, so sehr, dass er wie kaum
ein Zweiter seiner Zunft zur na-
tionalen Kultfigur avancierte.
Die Rede ist von Ludwig Richter,
der von 1803 bis 1884 lebte. Ein
Sachse, geboren in Dresden,
und, abgesehen von Studienrei-
sen nach Frankreich und Italien,
dort auch lebenslang ansässig,
von dem sein vom Erfolg bedeu-
tend weniger begünstigter Kol-
lege Wilhelm von Kügelgen be-
reits 1865 sagte: „Richter ist der
Liebling des deutschen Volkes,
das sich in seinem Besten und
Allerheiligsten von ihm verstan-
den fühlt.“
Ludwig Richter, der schon mit
2 1 Jahren den Vorsatz fasste,
„immer nach alter, deutscher
WWWeise streng rechtschaffen zueise streng rechtschaffen zu
leben und rein zu bleiben“, hielt
sich bis ins hohe Alter an folgen-
den Grundsatz: „In der Kunst
soll Tiefe und Einfachheit mein
Bestreben sein. Der „fromme
Kindersinn“ auf Richters Bildern
ist raffiniert, suggestiv und mit
großer handwerklicher Könner-
schaft hergestellt. Ein so pro-
grammatisches Gemälde wie
„Der Brautzug im Frühling“
zeigt ein seltsam aus der Zeit ge-

fffallenes, in seiner Gewandungallenes, in seiner Gewandung
ans Mittelalter erinnerndes jun-
ges Paar, von fröhlichen Kindern
und wissend lächelnden Alten
umgeben. Sie treten eben aus
einem grün glänzenden Wald
heraus, dessen knorrigste Bäu-
me sich geradezu zärtlich über
sie breiten. Der Weg, den sie nun
beschreiten werden, ist von der
Sonne beschienen. Sein Sand
glänzt wie Gold. Im Hintergrund
blaut viel heller Frühlingshim-
mel, und eine spitzgieblige Burg
fffehlt selbstverständlich auchehlt selbstverständlich auch
nicht. Keine Frage: Hier wird auf
einen „Lebensweg“ angespielt,
auf dem den Menschen, die ihn
einschlagen, alles zum Besten
gereichen muss.
Nicht anders eine weitere
Ludwig-Richter-Ikone, seine
„Genoveva in der Waldeinsam-
keit“. Kein Gedanke mehr daran,
dass hier, einer Heiligenlegende
zufolge, eine fälschlich des Ehe-
bruchs geziehene junge Prinzes-
sin gezeigt wird, die mit ihrem
kleinen Sohn in der Wildnis aus-

gesetzt wurde. Die Lichtung, auf
der die beiden Vertriebenen, zu-
sammen mit einer freundlich
dreinblickenden Hirschkuh so-
wie zwei niedlichen Häschen,
ruhen, ist vielmehr ganz als Ge-
borgenheitsraum konstruiert.
Er erinnert an einen „Hortus
conclusus“, in dem sogar die
etwas nach vorn geneigten Fel-
sen ihre Bedrohlichkeit verlie-
ren und sich zur schützenden
Höhle formieren.
AAAber Malerei ist ja eigentlichber Malerei ist ja eigentlich
Hochkultur. So richtig zu sich
selber und zu seiner propagier-
ten Genügsamkeit findet Lud-
wig Richter erst im Holzschnitt,
in der Graphik, in Aquarell und
Zeichnung. Auch hier spürt man
die Akkuratesse eines an Dürer
geschulten Könners seines Fa-
ches, aber vor allem spürt, ja in-
haliert man deutsches Gemüt,
wie man zu Richters Zeiten sag-
te, in Reinkultur. Ja, hier, in den
Illustrationen zu Bechsteins
Märchen, zu den „Volksbü-
chern“ oder im „Familienbuch“

mit dem Titel „Beschauliches
und Erbauliches“: Da schießt es
geradezu über, das treuherzige,
traute Glück im seligen Abseits.
Ein Universum an eingefriede-
ten Bezirken wird da entfaltet, in
dem sich Zweige und Reben ge-
fffügig ranken zum Schutz vonügig ranken zum Schutz von
Schlummernden und Liebenden.
Hier hat, im wörtli-
chen wie im über-
tragenen Sinne,
keine Rose Dornen,
denn alle sind ganz
lieb zueinander.
Wem das nur
biedermeierlich,
kleinmeisterlich,
kindlich vorkommt, dem sei ge-
sagt, dass es sich hier um die in
ihrer Zeit populärste Ausfor-
mung von etwas handelt, das
der Historiker Hagen Schulze
einmal als die so ungemein
deutsche „Sehnsucht nach dem
Gottesreich auf Erden“ bezeich-
nete, „in dem das Lamm sich
zum Löwen schmiegt, in dem
die Gegensätze sich vereinigen
und das Prinzip des Guten ein
für allemal den Sieg davon-
trägt.“ In der Gestaltung dieser
Sehnsucht, die stets mit dem
Ausblenden von Konflikten ein-
hergeht, sind wir wohl tatsäch-
lich Weltmeister. Man kann
auch sagen: Wir sind Weltmei-
ster in Regression.
Denn was ist die Quintessenz
unserer international noch im-
mer so immens beliebten klassi-
schen Musik anderes als ein
überwältigend vielgestaltiger
Ausdruck dieser Sehnsucht nach
dem Absoluten, das sich in den
Formen des Innerlichen, Klei-
nen, Umhegten, Arabesken dar-
bietet. Sicher, Beethoven kom-
ponierte seine „Eroica“, und
Wagner wuchtete mit dem vier-
gliedrigen „Ring des Nibelun-
gen“ eine ganze Kosmogonie auf
die Bühne. Aber mit welcher In-
brunst singt das Volk von Bra-
bant im ersten Akt des „Lohen-
grin“, bevor das „Gottesgericht“
stattfindet, sein demütiges
„Weil unsere Weisheit Einfalt
ist“! Hier erklingt eine so emo-
tionale Musik, wie sie Wagner
sonst nur für Liebesszenen
komponierte.
Ja, Ludwig Richter mag aus
dem Kanon verschwunden sein


  • als Impulsgeber, als Prototyp
    einer Lebenshaltung mit dem
    entsprechenden Ausdrucks-
    vokabular lebt er munter fort,
    erlebt sogar im Moment eine be-
    trächtliche Renaissance. Das hat
    man in Schweinfurts Museum
    Georg Schäfer begriffen und
    präsentiert den Vergessenen mit
    viel Gespür für sein unterirdi-
    sches Fortwirken (bis hin zu
    Spielzeug und einer knuddeli-
    gen, kleinen Käthe-Kruse-Pup-
    pe) als Mann der Stunde. Selten
    hat eine Kunstausstellung so
    viel über aktuelle Befindlichkei-
    ten zu erzählen gewusst!


T„Ludwig Richter: Schöne
heile Welt“, im Museum Georg
Schäfer, Schweinfurt. Bis 19.
Januar

Idylle war
ssein Marken-
zzeichen:
Ludwig
Richters
„„Genoveva“
(((1848)1848)

MUSEUM GEORG SCHÄFER, SCHWEINFURT

Deutsche


Kuschelkultur


Woher kommt eigentlich unser Hang


zur Regression? Die Wurzeln liegen bei


einem Maler, den heute kaum noch


jemand kennt: Ludwig Richter


KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,12.NOVEMBER2019 SEITE 20


EUROPÄISCHER FILMPREIS

„Systemsprenger“
zweimal nominiert

Das deutsche Drama „Sys-
temsprenger“ – inzwischen
mit einer halben Million
Kinozuschauern – ist für den
Europäischen Filmpreis no-
miniert. Auch die elfjährige
Hauptdarstellerin Helena
Zengel ist im Rennen um eine
der Auszeichnungen. „Sys-
temsprenger“ ist das Debüt
von Nora Fingscheidt um ein
extrem schwieriges Kind.

RECHTSSTREIT

Woody Allen und
Amazon einigen sich

Woody Allen und Amazon
haben ihren Rechtsstreit
beigelegt. Allen hatte Amazon
auf 68 Millionen Dollar ver-
klagt. Das Unternehmen hatte
wegen erneut Missbrauchs-
vorwürfe aus den 90er-Jahren
den US-Vertrieb des fertig-
gestellten „A Rainy Day in
New York“ abgesagt und die
Produktion von drei verein-
barten Filmen gestrichen. Das
Gericht teilte nichts zu den
finanziellen Details mit

KOMPAKT


D


ie Bedarfsprüfung ist
die Maßnahme der
Stunde. Bei der
Grundrente wurde sie ausge-
spart und heißt Einkommens-
prüfung, was nicht ganz das-
selbe ist. Die Bedarfsprüfung
sollte in allen gesellschaftli-
chen Bereichen eingeführt
werden. Der Gesetzgeber ver-
bietet schon heute den Besitz
von mehr als einem Ehepart-
ner. Aber warum müssen sich
nur die Bedürftigen einer Prü-
fung unterziehen? Die Wohl-
habenden sollten ihren Bedarf
ebenso nachweisen müssen.
Wer zehn Millionen besitzt,
hat eigentlich keinen weiteren
Bedarf mehr und wenn, muss
er plausible Gründe angeben
können. Wer ein Auto hat,
braucht mit Sicherheit kein
zweites, es sei denn, es gelingt
ihm nachzuweisen, dass er
beide Fahrzeuge gleichzeitig
lenken kann. Und wer hat
schon wirklich Bedarf für
mehr als 50 Schweine oder
Hühner? Für eine Wohnung
kann man jederzeit Eigenbe-
darf anmelden, aber bei
300.000 wird die Sache un-
glaubwürdig. Man darf jetzt
schon gespannt sein, wie Von-
ovia oder Deutsche Wohnen
ihren grotesk übertriebenen
Bedarf begründen werden.

Zippert


zappt

Free download pdf