Die Welt Kompakt - 12.11.2019

(Joyce) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 12. NOVEMBER 2019 WISSEN 27


Nanopartikeln sollte eine Art
Immunisierung hergestellt
werden, Enzyme in Tabletten-
ffform sollten das Gluten un-orm sollten das Gluten un-
schädlich machen. Es gab auch
den Ansatz einer Impfung.
WWWas ist daraus geworden?as ist daraus geworden?
Eine Heilung der Zöliakie, in dem
Sinne, dass Patienten unge-
hemmt glutenhaltige Nahrungs-
mittel verzehren können, liegt in
weiter Ferne. Es wird versucht,
Medikamente zu entwickeln, die
es ermöglichen sollen, die ver-
steckten kleineren Dosen von
Gluten, die außer in Spezialnah-
rung fast überall vorkommen, zu
tolerieren. Das würde den Pa-
tienten viel Stress ersparen. Glu-
ten in hohen Dosen wie in Brot,
Gebäck oder Nudeln werden sie
aaauch mit Medikamenten in ab-uch mit Medikamenten in ab-
sehbarer Zukunft nicht zu sich
nehmen können. Wir sind gerade
in der Abschlussphase einer klini-
schen Studie an Patienten, in der

S


eit als acht Jahren isst
der Arzt und Biochemi-
ker Detlef Schuppan
keinen Weizen mehr.
Keine Brötchen, keine Nudeln,
keinen Kuchen. Nicht, weil er an
einer Weizenunverträglichkeit
leidet wie so viele der Patienten,
die zu ihm in die Ambulanz für
Zöliakie und Dünndarmerkran-
kungen an der Mainzer Universi-
tätsklinik kommen. Schuppan
meidet Weizen, weil dieser seiner
Forschung nach entzündliche
Prozesse im Körper verstärkt.
Der Wissenschaftler erklärt am
Telefon, warum eines unserer
wichtigsten Lebensmittel krank
machen kann.


VON PIA HEINEMANN

WELT: Herr Schuppan, von der
WWWeizenunverträglichkeit Zö-eizenunverträglichkeit Zö-
liakie haben wohl die meisten
schon gehört. Menschen, die
daran leiden, vertragen das
Klebereiweiß Gluten nicht. Sie
selbst haben die entscheiden-
de Forschung zum Verständ-
nis dieser Erkrankung 1997 in
„Nature“ publiziert.
DETLEF SCHUPPAN:
Ja, obwohl
diese Erkrankung auch damals
schon beileibe nicht neu war.
Mitte des vergangenen Jahrhun-
derts hat der niederländische
Arzt Willem Karel Dicke erstmals
erkannt, dass viele der zu dieser
Zeit oft schweren Wachstums-
und Gedeihstörungen von Kin-
dern auf Weizen zurückzuführen
waren: Er hatte festgestellt, dass
der Zustand dieser Kinder sich
nämlich während des Krieges, als
WWWeizen wegen Ernährungseng-eizen wegen Ernährungseng-
pässen nicht nur Verfügung
stand, deutlich gebessert hat. Sei-
ne anschließende Forschung hat
bestätigt, dass die Ursache im
WWWeizen lag, und zwar im Gluten.eizen lag, und zwar im Gluten.


Zöliakie ist auch eine schwere
Erkrankung bei Erwachsenen.
WWWie bewirkt denn das Glutenie bewirkt denn das Gluten
die charakteristische Entzün-
dung der Dünndarmschleim-
haut?

Es handelt sich um eine immuno-
logische Reaktion, bei der Ab-
wehrzellen in die Dünndarm-
schleimhaut einwandern und
dort eine Entzündungsreaktion
aaauslösen. Das kann dazu führen,uslösen. Das kann dazu führen,
dass Nährstoffe nicht mehr aus-
reichend aufgenommen werden
können. Es kann also zu schwe-
ren Mangelerscheinungen kom-
men, und es kann ebenfalls eine
Reihe von Folgeerkrankungen
aaausgelöst werden. Die Haupt-usgelöst werden. Die Haupt-
symptome sind entgegen der
landläufigen Meinung zumeist
nicht Durchfall, Blähungen oder
VVVerstopfung, sondern es gibt eineerstopfung, sondern es gibt eine
Bandbreite an Symptomen au-
ßerhalb des Magen-Darm-Trak-
tes, die häufig leider nicht als Zei-
chen einer Zöliakie erkannt wer-
den. Ist die Erkrankung diagnos-
tiziert, müssen die Patienten ein
Leben lang Gluten meiden.


Bislang müssen Zöliakiepa-
tienten vollständig auf Gluten
verzichten. Dabei gab es im-
mer wieder hoffnungsvolle
AAAnsätze für eine Therapie: Mitnsätze für eine Therapie: Mit


gespielt: Der Mensch isst ihn
seit der neolithischen Revolu-
tion vor etwa 11.000 Jahren.
Der Urweizen war eines der
ersten Getreide, die unsere
sesshaft gewordenen Vorfah-
ren angebaut haben. Manche
AAAnthropologen glauben sogar,nthropologen glauben sogar,
dass der Genuss von Weizen
und anderem Getreide unsere
Gehirnentwicklung maßgeb-
lich gefördert hat.
Das mag sein. Aber der moder-
ne Weizen hat mit dem Getrei-
de, das die ersten Ackerbauern
gepflanzt haben, nur noch we-
nig zu tun. Man kann das gut
anhand der Chromosomen er-
klären: Der Urweizen, also das
Einkorn, hat einen doppelten
Chromosomensatz. Dadurch,
dass der Weizen im Laufe der
Jahrtausende beständig durch
Einkreuzung und Züchtung op-
timiert wurde, hat sich auch das
Erbgut massiv verändert. Hoch-

WWWie äußern sie sich?ie äußern sie sich?
Die betroffenen Patienten reagie-
ren mit Verzögerung auf die al-
lergieauslösenden Proteine, wo-
bei die Symptome unspezifisch
sind: Bauchkrämpfe, Blähungen,
gespannter Bauch, Probleme mit
dem Stuhlgang, Völlegefühl oder
aaauch Übelkeit. Dies sind die typi-uch Übelkeit. Dies sind die typi-
schen Reizdarmsymptome, die
allerdings nicht sofort nach dem
VVVerzehr auftreten, sondern ofterzehr auftreten, sondern oft
um Stunden oder sogar bis zu ei-
nem Tag verzögert. Wir wissen
aaaus unseren Studien, dass etwaus unseren Studien, dass etwa
zzzwei Drittel der Patienten mitwei Drittel der Patienten mit
Reizdarmbeschwerden bezie-
hungsweise einer Reizdarmdiag-
nose eine derartige verzögerte
aaatypische Allergie haben, vorwie-typische Allergie haben, vorwie-
gend gegen Weizen.

Trotzdem kann man den Ein-
druck gewinnen, Weizenun-
verträglichkeit wäre ein neuer
Ernährungshype.

Amylase-Trypsin-Inhibitoren,
Proteine, die im Weizen und in
allen glutenhaltigen Getreiden
vorkommen, aber nicht mit dem
Gluten verwandt sind. ATI akti-
vieren bei allen Menschen Ent-
zündungszellen im Dünndarm.
Normalerweise bemerkt ein
Mensch davon nichts, weil es
sich um eine unterschwellige Re-
aaaktion handelt. Menschen, die anktion handelt. Menschen, die an
einer chronischen Erkrankung
leiden, zeigen aber eine Ver-
schlechterung nach dem Verzehr
von ATI. Dies betrifft vor allem
AAAutoimmunerkrankungen wieutoimmunerkrankungen wie
chronisch entzündliche Darmer-
krankungen, Rheuma und multi-
ple Sklerose, aber auch Stoff-
wechselerkrankungen wie Fett-
leber und Typ-2-Diabetes. Ver-
zichten diese Patienten konse-
quent auf Weizenprodukte, ver-
bessern sich ihre Symptome
meist deutlich.

Könnte das nicht auch ein Pla-
cebo-Effekt sein?
Die Effekte sind um vieles grö-
ßer als der erwartete Placebo-
Effekt, deshalb gehen wir von ei-
ner klinischen Wirksamkeit der
AAATI aus. Was im EinzelnenTI aus. Was im Einzelnen
durch die ATI in den entzünde-
ten Geweben geschieht, können
wir mit immunologischen Me-
thoden nachweisen und quanti-
fffizieren. Die Effekte sind frap-izieren. Die Effekte sind frap-
pierend: Das Weglassen von ATI
ffführt häufig zu einer Normali-ührt häufig zu einer Normali-
sierung des kranken Gewebes,
häufig vergleichbar mit oder so-
gar besser als die wirksamsten
Medikamente.

Muss man also alle modernen
WWWeizenmehle verteufeln?eizenmehle verteufeln?
Die entzündungsfördernde Akti-
vität kann tatsächlich stark
schwanken. Wir können nicht sa-
gen, dass jedes Weizenmehl glei-
chermaßen schlecht ist – denn
die Zusammensetzung kann sich
alle paar Jahre ändern, wenn die
Bauern und der Weltmarkt auf
neue Sorten setzen.

Gibt es einen sicheren Test auf
AAATI-Sensitivität?TI-Sensitivität?
Einen Bluttest gibt es nicht, wir
können aber eine klinische Diag-
nose stellen. Eine ATI-Sensitivi-
tät nehmen wir bei allen Patien-
ten an, die eine chronisch ent-
zündliche Erkrankung haben, das
sind zwischen fünf und zehn Pro-
zent der Bevölkerung. Die klini-
sche Diagnose lässt sich dann
stellen, wenn die Symptome sich
bei einer weizenfreien Diät in-
nerhalb von zwei bis vier Wochen
bessern.

WWWenn im Weizen so viele Risi-enn im Weizen so viele Risi-
ken stecken – sollte man dann
besser auf Abendbrot, Sonn-
tagsbrötchen und Pasta ver-
zichten?
QQQualität geht vor Quantität.ualität geht vor Quantität.
WWWenn sie hochwertiges Backwerkenn sie hochwertiges Backwerk
essen, können Sie sich darauf ver-
lassen, dass das Backhandwerk
traditionell vieles richtig ge-
macht hat.Traditionelle Sorten
wie Durum-Hartweizen und Din-
kel sind für viele Patienten ver-
träglicher als der moderne
Durchschnittsweizen.

WWWer Weizen nicht verträgt,er Weizen nicht verträgt,
muss sich einschränken
PA/ BILDAGENTUR-O/ DPA

Gefahraus dem Korn


Immer mehr Menschen glauben, an einer


Weizenunverträglichkeit zu leiden. Nur ein Hype –


oder ist modernes Getreide wirklich ungesund?


mit einer Tablette täglich das fürit einer Tablette täglich das für
die Zöliakie entscheidende En-ie Zöliakie entscheidende En-
zzzym in der Darmschleimhaut blo-ym in der Darmschleimhaut blo-ym in der Darmschleimhaut blo-
ckiert wird, die Transglutamina-kiert wird, die Transglutamina-
se. Damit soll die Immunwirkunge. Damit soll die Immunwirkung
des Glutens bei Zöliakiepatien-
ten verhindert werden. Die Aus-
wertungen werden in einem hal-
ben Jahr vorliegen.

In den Supermärkten gibt es
immer mehr glutenfreie Pro-
dukte. Erkranken heute mehr
Menschen an Zöliakie als vor
2 0, 30 Jahren?
Die Häufigkeit der Zöliakie hat in
den letzten 50 Jahren deutlich
zugenommen. Aber auch die Di-
agnostik ist durch den Bluttest,
den wir vor 20 Jahren entwickelt
haben, sehr viel unkomplizierter
geworden, sodass mehr Fälle er-
kannt werden. Glutenfreie Pro-
dukte werden aber auch von
Menschen gekauft, die nicht an
einer Zöliakie leiden, sondern an
Reizdarm und anderen nahrungs-
mittelbedingten Beschwerden.
AAAuch sie profitieren, denn ge-uch sie profitieren, denn ge-
meinsam mit dem Gluten treten
aaauch andere krank machendeuch andere krank machende
Proteine im Weizen auf, die
durch glutenfreie Produkte ver-
mieden werden können.

WWWeizen hat in unserer Evoluti-eizen hat in unserer Evoluti-
on eine enorm wichtige Rolle

gezüchtet wurde zum Beispiel
auf hohen Ertrag, Wetterbe-
ständigkeit, Schädlingsresis-
tenz sowie Wachstums-, Ernte-,
Lager- und Verarbeitungsfähig-
keit. Moderner Weizen hat ei-
nen sechsfachen Chromoso-
mensatz und 105.000 Gene, die
aaabgelesen werden und entspre-bgelesen werden und entspre-
chend viele Proteine codieren.
Im Korn sind deshalb sehr viele
verschiedene Proteine enthal-
ten, auf die das menschliche Im-
munsystem empfindlich reagie-
ren kann.

WWWas passiert dabei im Körper?as passiert dabei im Körper?
Da gibt es drei verschiedene Re-
aaaktionen. Auch bei Weizenprotei-ktionen. Auch bei Weizenprotei-
nen gibt es typisch allergische
Sofortreaktionen der Lunge, der
Haut und der Schleimhäute oder
im Verdauungssystem wie zum
Beispiel beim Bäckerasthma oder
der klassischen Weizenallergie.
Diese Allergien lassen sich mit
üüüblichen Allergietests gut fest-blichen Allergietests gut fest-
stellen. Allerdings sind diese Fäl-
le relativ selten. Viel häufiger ha-
ben wir es mit zwei Erkrankungs-
klassen zu tun, die von uns erst in
den letzten Jahren entdeckt und
wissenschaftlich aufgeklärt wur-
den. Diese sind die atypischen al-
lergischen Reaktionen auf Wei-
zen und die nicht allergische ATI-
Sensitivität.

Es mag erscheinen wie ein Hype,s mag erscheinen wie ein Hype,
aaaber hier waren die Verbraucherber hier waren die Verbraucherber hier waren die Verbraucher
offenbar über lange Zeit weiterffenbar über lange Zeit weiter
als die Wissenschaft. In der Tatls die Wissenschaft. In der Tat
ist die Anzahl der Menschen, diest die Anzahl der Menschen, die
klar belegbar an einer weizenbe-
dingten Erkrankung leiden, sehr
hoch. Langsam sprechen sich die
wissenschaftlichen und klini-
schen Befunde aber bei den Ärz-
ten herum, international scheint
dies etwas schneller zu gesche-
hen als in Deutschland.

Man hört in diesem Zusam-
menhang viele Begriffe: Glu-
tensensitivität, Nicht-Zölia-
kie-Nicht-Allergie-Weizenun-
verträglichkeit und Nicht-Zö-
liakie-Glutenunverträglich-
keit.
Diese Begriffe waren ein Ver-
such, die Symptome zu ordnen.
Inzwischen wissen wir, dass die
Reizdarmsymptome, an denen
immerhin 15 Prozent der Bevöl-
kerung leiden, im Wesentlichen
auf die atypischen Nahrungsmit-
telallergien zurückzuführen
sind. Darüber hinaus gibt es aber
auch viele Symptome, die mit
WWWeizenkonsum zusammenhän-eizenkonsum zusammenhän-
gen, die nicht den Magen-Darm-
Trakt betreffen und die man bis-
her nicht einordnen konnte.
Hier spielt die ATI-Sensitivität
eine zentrale Rolle. ATI steht für
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