Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

RECHT & UNRECHT



  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


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Davor fürchten sich alle Zuschauer: Der Aushang des Schildes »Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen«

Foto: Gordon Welters für DIE ZEIT

Ende der Vorstellung


Bilder des Verbrechens (I): Zwei Prozesse über brutalen Missbrauch in Berlin – einmal wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen, das andere Mal nicht. Warum? VON URSULA MÄRZ


H


in und wieder wird man an
Restauranttüren von dem
Schriftzug »Geschlossene Ge-
sellschaft« überrascht und
muss, wenn man ihr nicht
angehört, wieder umkehren.
An diese Situation erinnert
das Schild an der Tür von Saal 704 des Berliner
Landgerichts. Es beschränkt den Zutritt. Nur den
Prozessbeteiligten ist er gestattet, der Öffentlichkeit
nicht. Weder der Presse noch dem Volk, in dessen
Namen das Urteil ergeht.
Der erste Verhandlungstermin ist für 9.15 Uhr
angesetzt. Auf dem Flur hat sich ein dichter
Menschenpulk versammelt, darunter ein Dutzend
Zeitungsreporter, mehrere Fotografen und das
Drehteam eines TV-Senders. Beobachtet man das
Spektrum der Delikte, die am Berliner Kriminal-
gericht, dem größten in Deutschland, zur Anklage
kommen, dann lässt sich sagen, Kindesmissbrauch
zählt mittlerweile zu den häufigsten. Es vergeht
kaum eine Woche, in der kein entsprechender
Prozess beginnt – wenn auch in der Regel mit
weniger Publikumsandrang als an diesem Morgen
vor Saal 704.
Bei den zwei Angeklagten, so ist der Presse-
mitteilung zu entnehmen, handelt es sich um die
Adoptivgeschwister Bayarsaikhan H., 51 Jahre alt,
und Gabriele K., 55 Jahre alt. Sie ist die Mutter
der drei Mädchen, die von 2006 bis 2017 schwe-
ren sexuellen Missbrauch erlitten. Das ihr vorge-
worfene Verbrechen wirkt besonders verstörend.
Gabriele K. soll ihre Töchter Bayarsaikhan H. re-
gelrecht zur Verfügung gestellt, sie immer wieder
überredet haben, die Missbrauchshandlungen des
Onkels über sich ergehen zu lassen. In der Presse-
mitteilung ist zudem von der »Herstellung kinder-
pornografischer Schriften« die Rede, was die Ver-
mutung nahelegt, die Angeklagten hätten von
dem verabredeten Missbrauch auch noch ge-
schäftlich profitiert.


Im Sensationsprozess Vera Brühne wurden
intimste Detail ihres Sexlebens ausgebreitet


Ein paar Tage später beginnt in Saal 817 des Berli-
ner Kriminalgerichts die Hauptverhandlung gegen
Alexander N., es geht um das gleiche Delikt. Der
45-Jährige hat seinen Stiefsohn, seine Tochter so-
wie drei ihrer Schulfreundinnen missbraucht. Das
Szenario, das sich zum Prozessauftakt vor Saal 817
bietet, ist jedoch keineswegs das gleiche, vier Zu-
hörer lockt der vermeintlich durchschnittliche Fall
an, kein Vergleich mit der elektrisierten Menge vor
Saal 704: Dieser Fall ragt heraus. Er ist spektakulä-
rer, er ist es aus einem einzigen Grund: der Rolle
der Gabriele K. Von Eltern, die nicht wahrhaben
wollen, was ihren Kindern im familiären Umfeld
angetan wird, hört man öfter. Von einer Mutter,
die ihre Töchter buchstäblich zur Vergewaltigung
freigibt, eher selten. Was in diesem Prozess zur
Sprache kommt, verspricht die düstersten Gewölbe


sittlicher und seelischer Verrohung auszuleuchten.
Und das Verhältnis der Öffentlichkeit zum Justiz-
geschehen unterliegt nun mal der Ökonomie des
Sensationellen.
Ein boulevardbekanntes Model wie Gina-Lisa
Lohfink, das (zu Unrecht) zwei Männer der Ver-
gewaltigung beschuldigt, mobilisiert eine Publi-
kumsschlange, die sich von der Sicherheitskon-
trolle im Foyer des Gerichtsgebäudes bis weit auf
die Straße zieht. In den Prozess gegen einen er-
bärmlichen Junkie, der zum fünften Mal wegen
Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz vor
dem Richter steht, verirrt sich kein Mensch. Viel-
leicht auch deshalb nicht, weil die Freiheit, Prozes-
sen beizuwohnen, als immer schon da gewesene
Selbstverständlichkeit erscheint – was historisch
keineswegs zutrifft.
Noch bis ins 19. Jahrhundert trieben in
Deutschland vereinzelt Geheim- und sogenannte
Inquisitionsgerichte ihr Unwesen, die in Amtsstu-
ben und auf dem Papierweg ihre undurchsichtigen
Urteile anfertigten. Der Kampf um die heutige
Form von Gerichtsverfahren, um Öffentlichkeit
und Mündlichkeit, liegt ein paar Wimpernschläge
der Geschichte zurück. Er endete, zwischen Kon-
servativen und Liberalen fast ein halbes Jahrhun-
dert lang erbittert ausgetragen, erst mit dem Erlass
der Reichsjustizgesetze 1877. Seitdem stehen die
Gerichtssäle jedermann offen. Seitdem haben die
Bürger ein machtvolles Instrument in der Hand:
die Kontrolle der Justiz.
Um 9.30 Uhr wird der Haupteingang von Saal
704 geöffnet. Die Fotografen und der Kamera-
mann des TV-Teams stürmen voran. Sie haben
nur ein paar Minuten, um ihre Bilder zu schießen,
vor dem Prozessbeginn müssen sie den Saal ver-
lassen haben. Staatsanwältin, Verteidiger, Neben-
klagevertreterin, Richter und Schöffen haben be-
reits ihre Plätze eingenommen. Unter dem hekti-
schen Kameraknattern wirken sie wie die Statisten
eines ta bleau vivant, das eine Gerichtsszene nach-
stellt. Auf der vordersten Zuschauerbank drängen
sich Zeitungsreporter mit Notizblöcken in der
Hand, durch den hinteren Saaleingang strömt das
Publikum. Reflexhaft richten sich alle Blicke auf
Bayarsaikhan H. und Gabriele K., die ihre Gesich-
ter hinter silbrigen Kartonfolien verbergen. Zu er-
kennen sind eine korpulente, ungepflegt wirkende
Frau und ein Mann von auffallend schmächtiger,
schlaff in sich zusammengesunkener Gestalt. Wer-
den sie sich zur Tat erklären? Werden die Opfer
erscheinen? Und wer oder was ist eigentlich die
Öffentlichkeit, die es wissen will?
Das war im 19. Jahrhundert einfach zu sagen:
die realen Prozessbesucher. In der Epoche der Mas-
senmedien meint der Begriff noch etwas anderes.
Was im Gerichtssaal geschieht, erreicht über Zei-
tung, Fernsehen und Internet Millionen. Sie sind
indirekt dabei, sie sind die »erweiterte Öffentlich-
keit«, wie Peter-Paul Albers sie in einer rechtswis-
senschaftlichen Studie nennt. Diese multiplizierte
Massenöffentlichkeit, warnt er, könne erheblichen

Stimmungsdruck auf die Justiz ausüben. Das
schrieb er nicht 2010 nach den publizistischen Ex-
zessen des Kachelmann-Prozesses. Er schrieb es


  1. Zwölf Jahre zuvor hatte das Münchner
    Landgericht die Erstürmung durch eine aufgeheizte
    Volksmenge erlebt, die nach dem Anblick einer als
    »Lebedame« betitelten und des Doppelmordes be-
    schuldigten Frau gierte: Vera Brühne. Es war da-
    mals der Sensationsprozess schlechthin und das
    Paradebeispiel eines Prozesses, der die Öffentlich-
    keit zum Monster moralischer Vorverurteilung
    verzerrte. In einer Klatschillustrierten analysierte
    ein selbst ernannter Sexualkundler die Beschaffen-
    heit von Brühnes Vagina. Intimste Details ihres
    Liebeslebens drangen bis in den letzten Winkel
    der Bundesrepublik, die mehrheitlich der Über-
    zeugung war: Diese Frau hat aus Besitzgier eiskalt
    gemordet. Am Ende eines tendenziös und fahrläs-
    sig ermittelnden Verfahrens wurden Vera Brühne
    und der Mitangeklagte Johann Ferbach zu lebens-
    langer Haft verurteilt. Die Bürger kontrollierten
    nicht die Justiz. Sie übertrugen vielmehr ihren ver-
    heerenden kollektiven Kontrollverlust auf den
    Gerichtssaal.
    »So, ich glaube, das reicht«, beendet der Vor-
    sitzende das Knipsen und Filmen, »würden Sie
    jetzt bitte den Saal verlassen.« Der Gerichtsdiener
    beschleunigt den Abgang der Fotografen mit
    wischen den Armbewegungen. Die Angeklagten
    Bayarsaikhan H. und Gabriele K. lassen die Kar-
    tonfolien sinken. Ihre energielosen, fahl erlosche-
    nen Gesichtszüge spiegeln nicht das Geringste
    von der Macht psychischer Manipulation, mit
    der sie die drei Mädchen jahrelang tyrannisiert
    haben müssen. Der Vorsitzende eröffnet die Ver-


handlung. »Gibt es Anträge?« Die Vertreterin der
Nebenklage hebt die Hand. Sie beantragt den
Ausschluss der Öffentlichkeit von der kompletten
Hauptverhandlung, auch von der Verlesung der
Anklageschrift.
Die soll 1000 Einzeltaten beinhalten und 52
Seiten lang sein. Ein Umfang, der darauf schließen
lässt, dass sie die Missbrauchstaten detailliert dar-
stellt. Allein das könnte die Intimsphäre der Opfer
verletzen, und deren Schutz genießt heute eine
hohe Bedeutung. Das Persönlichkeitsrecht von
Angeklagten, Zeugen und Opfern – zumal min-
derjährigen – stellt sich dem Öffentlichkeitsprin-
zip im Jahr 2019 robuster in den Weg als zu Zeiten
des Brühne-Prozesses. Die Kammer zieht sich zur
Beratung zurück. Der Reportertrupp und die Zu-
hörer verlassen den Saal und warten auf dem Flur.

Manchmal kann die Öffentlichkeit nur bei
Zeugenaussagen ausgeschlossen werden

Um 9.45 Uhr geschieht etwas Ungewöhnliches.
Die Tür von Saal 704 öffnet sich, der Gerichts-
diener erscheint und hängt das Schild an die Klin-
ke. Ungewöhnlich deshalb, weil die Öffentlichkeit
normalerweise im Saal und aus dem Mund des
Richters erfährt, dass und warum entschieden
wurde, sie auszuschließen. »Wie jetzt«, fragt der
Fernsehreporter, »das war’s? Keine Begründung?
Können Sie drin noch mal nachfragen?« Der Ge-
richtsdiener gerät in die etwas kuriose Rolle eines
Kuriers. »Hab ich so verstanden, aber ich frag noch
mal«, sagt er und verschwindet nach drinnen.
Nach einer Minute steckt er den Kopf durch die
Tür. »Der Vorsitzende sagt, das ist in Ordnung so.«
Etwas verwirrend aber auch. In Saal 817, ein
Stockwerk höher, liegen ein paar Tage später die
Dinge nämlich ganz anders. Hier erfährt die Öf-
fentlichkeit, die aus den vier Besuchern besteht,
die vollen Namen, das Alter und die Familienver-
hältnisse der Kinder, an denen sich Alexander N.
verging. Mehrere Opferanwältinnen sind anwe-
send. Keine stellt einen Antrag auf Ausschluss der
Öffentlichkeit. Zu keinem Zeitpunkt der Ver-
handlung hängt das Schild an der Tür. Eine Viertel-
stunde nach ihrem Beginn wird ein Filmprojektor
aufgebaut und die richterliche Vernehmung von
zwei der missbrauchten Mädchen auf eine Wand
von Saal 817 übertragen: Sie sind sechs und sieben
Jahre alt, sitzen an einem Tisch, im Hintergrund
sind Plüschtiere und Spielzeug zu erkennen, ein
betont unpolizeiliches Setting.
Tatsächlich werden die Kinder in keinem Mo-
ment zu Aussagen gedrängt oder in ihren Scham-
gefühlen verletzt – und dennoch: Als Zuhörer
rechnet man die naiven Formulierungen, mit de-
nen sie von »Badewannenspielen« und »Ponyspie-
len« im Bett des Alexander N. erzählen, unwill-
kürlich zu den Praktiken des sexuellen Missbrauchs
hoch, den sie erfuhren. Dieser Denkvorsprung hat
etwas Unbehagliches, auch Unangemessenes. Die
Mädchen werden zu Frauen heranwachsen, die ir-

gendwann realisieren, dass fremde Menschen ih-
nen dabei zusahen, wie sie einer Richterin gegen-
übersaßen, unruhig mit den Beinen wackelten,
den Kopf senkten und ihre Hände schützend auf
den Bauch pressten. Für die Prozessbeteiligten ist
die Filmvorführung in Saal 817 zwingend. Für die
Öffentlichkeit wäre sie problemlos zu vermeiden
gewesen.
Auf die Frage, weshalb sie den Ausschluss der
Öffentlichkeit nicht beantragt habe, antwortet
eine der Anwältinnen auf dem Weg in die Kanti-
ne: »Ach, das ist doch harmlos. Das machen wir
nur bei den ganz großen Missbrauchsprozessen.«
Was meint sie mit groß? Das Delikt? Das Publi-
kum? Da springt die Dame schon um die Ecke.
Offensichtlich ist das Verhältnis zwischen Öffent-
lichkeit und Persönlichkeitsrecht nicht nur emp-
findlich, sondern auch interpretationsfähig. In
Saal 704 tagt eine rigoros geschlossene Gesell-
schaft. In Saal 817 herrscht freier Eintritt. Einen
juristischen Mittelweg gäbe es durchaus: den teil-
weisen Ausschluss der Öffentlichkeit. Diesen Weg
beschritt im August 2018 das Landgericht Frei-
burg und im September 2019 das Landgericht
Detmold. Beide verhandelten Missbrauchsfälle,
deren Dimension landesweit für Entsetzen sorgte,
den Fall von Staufen und den Campingplatz-Fall
von Lügde. Und beide Gerichte entließen die Öf-
fentlichkeit nur bei jenen Zeugenaussagen, die
eine Identifizierung der Opfer ermöglicht hätten,
und bei der Vorführung von Tatvideos. »Das kann
man machen«, sagt die Anwältin, die den Jungen
aus Staufen vertrat, der von seiner Mutter und ih-
rem Lebensgefährten jahrelang gequält und im
Darknet zur kommerziellen Vergewaltigung ange-
boten wurde, »es kostet halt Zeit, weil der Aus-
schluss jedes Mal neu beantragt und entschieden
werden muss«. Im Übrigen hätte sie einen »kom-
pletten Ausschluss der Öffentlichkeit hier im Sü-
den gar nicht durchgekriegt«. Das Freiburger
Landgericht gehört zu Baden-Württemberg. Und
in Baden-Württemberg scheint eine andere Luft zu
wehen als in Berlin. In Berlin wiederum hängt das
Schild an einer Saaltür, an der anderen nicht. Je
länger man es anschaut, desto mehr verkompliziert
sich die Realität, die es abbildet.
Es ist 10 Uhr, der Menschenpulk vor Saal 704
löst sich auf. Der Fernsehreporter, dessen Habitus
etwas eigenartig Cowboyhaftes an sich hat, ist sau-
er. Mit irgendwas muss er seinen Magazinbeitrag,
der noch am gleichen Abend gesendet wird, ja
füllen. »Ausschluss der Öffentlichkeit« ist keine
prickelnde Meldung. Er glaubt die Adresse des
Hauses zu kennen, in dem die Großmutter der
drei Mädchen wohnt, die von Bayarsaikhan H.
und Gabriele K. missbraucht wurden. Vielleicht
wohnen da sogar die Mädchen. »Okay«, sagt er
zum Kameramann, »dann fahren wir halt da hin
und drehen das Haus.«

»Bilder des Verbrechens« erzählt in loser Reihe
Geschichten, bei denen ein Foto im Mittelpunkt steht

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Illustration: Lea Dohle

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