Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

Zweifeln Sie nie an sich,


Christoph Biemann?


In der »Sendung mit der Maus« ist er der Schlaumeier vom Dienst: Der Mann im grünen Pulli


über prügelnde Lehrer, jugendliche Arroganz und seine Sympathie für den »Zauberlehrling«


DIE ZEIT: Herr Biemann, Sie sind der Christoph
aus der Sendung mit der Maus, der im grünen Pulli.
Das wissen nicht nur Kinder, auch sehr viele
Erwachsene sagen: Der hat mir die Welt erklärt.
Gab es eine solche Figur auch für Sie?
Christoph Biemann: Im Fernsehen nicht. Es war
meine Mutter, die mir die Dinge erklärte. Oft ein-
fach, aber eben so, dass ich es verstanden habe.
ZEIT: Was waren Ihre Eltern von Beruf?
Biemann: Mein Vater war Baukaufmann, aber er
ist früh gestorben, da war ich sieben. Meine Mutter
war Laborantin an der Pädagogischen Hochschule.
Die Familie kam aus Ludwigslust in Mecklenburg-
Vorpommern. Als ich zwei war, sind wir in den
Westen gegangen, nach Hildesheim. Meine Oma
haben wir später nachgeholt, die hat in der DDR
in einer Bibliothek gearbeitet und dort Vorlese-
nachmittage organisiert. Ich war oft dabei.
ZEIT: Sie sind häufiger in den Osten gefahren?
Biemann: Ja, eine meiner frühesten Erinnerungen
ist, wie ich mit einem Stapel Micky Maus-Hefte
über die Grenze wollte. Ich war sieben oder acht
Jahre alt, und vor mir stand diese dralle Frau in
Uniform, sagte: »Diesen imperialistischen Quatsch
musst du nicht haben!«, und nahm mir die Hefte
weg. Ich verstand die Welt nicht mehr.
ZEIT: Waren Sie schon als Kind neugierig?
Biemann: Sehr. Ich war verschrien bei meinen
Freunden, vor allem bei deren Eltern, weil ich bei
denen zu Hause immer alles angefasst habe. Viele
dieser Familien kamen aus Polen oder waren Sow-
jetdeutsche. Bei denen gab es oft diese Kalte-
Pracht-Zimmer, in denen alles glitzerte, Figuren
und Nippes, das hat mich angezogen. Bring den
nicht mehr mit, sagten die Eltern dann.
ZEIT: Was haben Sie mit Ihrer Neugierde gemacht?
Biemann: Ich fand Experimente aufregend, hatte
aber nichts, womit man welche machen konnte.
Keine Materialien, keine Experimentierkästen.
Also las ich in den Büchern den Versuchsaufbau,
hab jeden einzelnen Schritt in Gedanken durch-
gespielt und in meiner Fantasie ein Radio gebaut
oder ein Floß aus Korken.
ZEIT: Wollten Sie Wissenschaftler werden?
Biemann: Zuerst Botaniker, später Plankton-For-
scher. Bis ich mit zwölf Jahren im Urlaub im frühe-
ren Jugoslawien einen Filmemacher getroffen habe.
ZEIT: So kamen Sie zum Fernsehen?
Biemann: Bis dahin wusste ich nicht, dass das ein
Beruf ist, Filmemacher. Dieser jedenfalls drehte
einen Dokumentarfilm über Liebe und Freund-
schaft fürs ZDF. Er hatte zwei hübsche Töchter,
und ich durfte ab und zu mit an den Strand und
auch mal die Kamera halten. Ein Jahr später habe
ich mir eine Super-8-Kamera gekauft, von meinem
ersten Geld, das ich beim Jobben verdient hatte.
ZEIT: Warum wollten Sie Filme machen?
Biemann: Ich wollte immer Dinge erklären. Die
68er-Bewegung hat bei mir zu einem starken
aufklärerischen Impuls geführt. Ich wollte den
Kapitalismus erklären, die Ursachen der Luftver-
schmutzung, ihre Auswirkungen auf die Gesund-
heit. Ich las ständig Zeitung, hörte den ganzen Tag
Radio. So kam es wohl, dass ich irgendwann das
Gefühl hatte, sehr schlau zu sein. Zumindest
dachte ich, ich wüsste mehr als andere.
ZEIT: Klingt so, als konnte die Schule damals
nicht so viel zu Ihrem Wissen beitragen.
Biemann: Viele unserer Lehrer konnte man nicht
ernst nehmen, die kamen noch aus der Nazi-Zeit.
Die waren hart und aggressiv, prügelten auch
noch. Brecht hat mal gesagt: Was man in der
Schule am besten lernt, ist, mit den unmöglichsten
Typen klarzukommen. Jedenfalls hatte ich mit 16
ein komplett ausgebautes Weltbild, war klar links
und wusste genau, was gut und was schlecht ist.
Rückblickend denke ich, das war ziemlich arro-
gant, aber das gehört wohl zum Jungsein dazu.
ZEIT: Sie waren kurz vor dem Abitur für ein Jahr in
den USA, das war damals eher ungewöhnlich ...
Biemann: ... das war mitten in der Hippie-Zeit, es
war einfach alles anders dort. Der Lebensstil, die
politischen Debatten, die alternativen Kommu-
nen. In der Schule wurde wegen des Viet nam-
kriegs oft gestreikt, dann fiel der Unterricht aus.
ZEIT: Wo genau waren Sie?
Biemann: In Boston. Die U-Bahn fuhr direkt zur
Harvard University. Da bin ich oft hingefahren,
hab mich in Psychologie-Vorlesungen gesetzt, das
interessierte mich. Erst viel später wurde mir so
richtig klar, was für ein Mann da vor mir stand:
Skinner, der berühmte Psychologe, der den Beha-
viorismus populär gemacht hat. Er hat das Verhal-
ten von Menschen mit naturwissenschaftlichen
Methoden erforscht – und sprach so leicht und
anschaulich über seine Praxis und die Patienten, die
er behandelte. Später ging ich auch in Deutschland
ab und zu in Psychologie-Vorlesungen, und immer
habe ich mich gefragt, warum die den Stoff so lang-
weilig präsentierten. Der Unterschied war riesig.
ZEIT: Wie war das, nach diesem Jahr zurückzu-
kommen nach Deutschland?
Biemann: Ich wollte so schnell wie möglich fertig
werden mit der Schule. Meine Mutter hat mich
machen lassen. Die wusste nach diesem Jahr: Der
kommt schon klar. Nur manchmal hat sie gesagt:
»Ach, mach doch später mal einen Doktor!« Sie
hatte für eine Zeit in einer Arztpraxis gearbeitet,
seitdem galten Ärzte als Vorbild in unserer Familie.
ZEIT: Sie selbst wussten recht früh, was Sie woll-
ten. Zweifelten Sie denn nie an sich?
Biemann: Meine Frau sagt manchmal: »Was bist
du nur für ein Mensch? Du gehst einfach so


MEINE SCHULE DES LEBENS


Stationen


geradeaus durchs Leben.« Sie selbst hat viel mehr
Brüche in ihrer Biografie. Aber ich bin einfach
sehr davon überzeugt, dass ich okay bin. Das hab
ich sicher meiner Mutter zu verdanken, weil sie so
gelassen war und mir in all meinen Entscheidun-
gen absolute Freiheit gegeben hat.
ZEIT: Ist das bei Ihren Kindern auch gelungen?
Biemann: Meine Tochter hatte eine schwierige
Phase als Teenager, war so ein patziges und lust-
loses Mädchen. Ich hab damals gesagt: Solange
deine Schulnoten stimmen, mach, was du willst.
Und wenn du Probleme hast, bin ich da. Heute ist
sie Juristin im Bundeswirtschaftsministerium.
ZEIT: Welche Art von Bildung war Ihnen wichtig
für Ihre Kinder?
Biemann: Ich habe immer versucht, ihre Fragen zu
beantworten. Und Langeweile hab ich bekämpft,

dafür hatte ich kein Verständnis. Wenn euer Kopf
leer ist, müsst ihr was reintun, hab ich gesagt.
ZEIT: Lehrer klagen heute oft über faule, desinte-
ressierte Schüler, die sich durch nichts motivieren
lassen. Fällt Ihnen das auch auf, wenn Sie mit
Kindern und Jugendlichen arbeiten?
Biemann: Das sehe ich eher selten. Ich sehe auch
nicht, dass da eine Generation den Bach runtergeht.
ZEIT: Sehr optimistisch! Wie weckt man denn die
Motivation fürs Lernen?
Biemann: Bei der Maus haben wir dafür eine Art
Werkzeugkasten. Humor muss dabei sein, Unter-
haltung, eine Geschichte. Diese Maus-Prinzipien
bringen wir inzwischen sogar Hochschulprofessoren
bei. Die halten Kurzvorlesungen zu Maschinen-
bau, Mathematik für Pharmazeuten oder Statistik
für Psychologen. Und wir sagen ihnen danach,

wie sie das besser und unterhaltsamer erklären
können.
ZEIT: Haben Ihre eigenen Kinder eine Rolle ge-
spielt bei der Entwicklung der Maus-Prinzipien?
Biemann: Als meine Tochter noch klein war, fand
sie die Sachgeschichten aus den Fabriken, in denen
wir zeigten, wie etwas hergestellt wird, total lang-
weilig. »Lasst die doch weg!«, sagte sie. Wir begrif-
fen, dass diese oft komplizierten Sachverhalte Ge-
schichten brauchen. Und so entstanden die klas-
sischen Maus-Filme: Das ist der Christoph, der will
etwas aufschreiben, aber er macht einen Fehler, jetzt
braucht er einen Radiergummi und fragt sich – wo
kommen die Radiergummis eigentlich her?
ZEIT: Sie bekommen für die Maus viele Fragen
von Kindern geschickt. Längst sind nicht alle be-
antwortet. An welche trauen Sie sich nicht ran?
Biemann: An das Impfen, das ist zu umstritten.
ZEIT: Doch nicht bei den Kindern?
Biemann: Aber die Eltern sind kompliziert. Da
gibt es so viele Verstrickungen. Die kann ich nicht
ignorieren. Für einen Fünf-Minuten-Film ist das
Thema zu komplex. Da trau ich mich nicht ran.
ZEIT: Für wen machen Sie die Filme denn eigent-
lich? 70 Prozent Ihrer Zuschauer sind Erwachsene.
Die Maus ist längst keine Kindersendung mehr.
Biemann: Ich mach die Filme vor allem so, dass sie
mir gefallen.
ZEIT: Die Kinderprogramme der Konkurrenz
sind schneller und schriller als die Maus. Ist das
keine Bedrohung?
Biemann: Nein, vor denen haben wir keine Angst.
Wir machen das auf unsere Art unterhaltsam,
nicht anbiedernd, nicht marktschreierisch. Und
nicht billig. Wir gehen davon aus, dass Kinder von
sich aus neugierig sind, da braucht es nicht hier
noch Tierbabys und da noch ein paar Kätzchen.
ZEIT: Aber viel geändert hat sich in den vergange-
nen Jahrzehnten nicht. Läuft die Maus Gefahr,
zum Dinosaurier zu werden?
Biemann: Der Vorteil der Maus ist einfach, dass
die Eltern sie schon gesehen haben. Das haben die
anderen Sendungen nicht. Die Eltern denken:
Wenn ich das Kind vor der Maus parke, mache ich
nichts falsch, da muss ich kein schlechtes Gewissen
haben. Davon profitieren wir.
ZEIT: Wie erfolgreich ein Kind heute durch die
Schule kommt, hängt in Deutschland stark vom
Elternhaus ab. Die Maus gibt es seit bald 50 Jah-
ren – kann sie die Welt gerechter machen?
Biemann: Da habe ich meine Zweifel. Wir er-
reichen mehr die bil dungs orien tier ten Familien.
Wenn ich durch Köln gehe, merke ich sofort, wel-
che Kinder RTL 2 gucken und welche die Maus.
ZEIT: Woran merken Sie das?
Biemann: Die RTL-Kinder erkennen mich nicht.
ZEIT: Aber Sie bilden in der Maus ja sehr bewusst
eine große gesellschaftliche Bandbreite ab, treffen
für Ihre Filme Professoren ebenso wie Handwer-
ker. Warum ist Ihnen das wichtig?
Biemann: In unserer Gesellschaft geht es viel um
Akademisierung. Abitur, Studium, das scheint der
einzige Weg zum Glück zu sein. Das finde ich
schade. Vor Kurzem hab ich mit einer Dachdecke-
rin gedreht, die völlig darin aufgeht, mit Schiefer
zu arbeiten. Die tut das aus tiefstem Herzen.
ZEIT: Sie haben sich mit Ihrem Buch Buchstaben-
zauber ganz aktuell auch in die Lesedebatte einge-
mischt. Warum?
Biemann: Ich möchte, dass Kinder lesen, alle, auch
die aus den sogenannten bildungsfernen Familien.
Ich wollte Eltern zeigen, dass es nicht schwer ist,
Kinder zum Lesen zu verführen, weil sie in den
Büchern noch echte Abenteuer erleben können.
Aber die Eltern müssen auch selbst lesen – und zwar
nicht nur abends, wenn die Kinder das nicht sehen.
ZEIT: Reichen Krimis, oder müssen Klassiker her?
Biemann: Wenn Klassiker, dann Brecht. Weil er
gesellschaftliche Probleme anprangert. Besonders
mag ich den Kaukasischen Kreidekreis, für unser Zu-
sammenleben noch heute ein wichtiges Buch. Eine
Mutter streitet mit einer Magd um ihr Kind. Die
Magd hatte es aufgezogen, weil die Mutter es auf
der Flucht zurückgelassen hat. Am Ende lässt die
Magd es los, um dem Kind nicht wehzutun. Das ist
ein hochaktueller Text, man denke nur an das Ge-
zerre um Scheidungskinder. Für mich ist die Bot-
schaft: Hört auf die Weisheit des Herzens.
ZEIT: Gerade wird wieder diskutiert, ob man in
der Schule Goethe lesen muss. In Nordrhein-West-
falen ist der Faust nicht mehr Teil des Abiturs ...
Biemann: ... bei mir kam der Faust auch nicht vor.
Der ist in den Wirren der 68er-Bewegung völlig
untergegangen. Goethe galt als elitär. Ich habe
dann später entdeckt, was mir entgangen ist – und
sogar den Zauberlehrling auswendig gelernt.
ZEIT: Wieso das?
Biemann: Weil man sich so einen Text ganz anders
aneignet. Man spürt, was da drinsteckt, an Hal-
tung, an Wendungen, stellt sich viel konkreter die-
sen Typ vor. Wie er da sitzt, der Zauberlehrling, ein
bisschen ignorant. Er denkt, er weiß so viel, aber
eigentlich weiß er fast gar nichts. Da finde ich
mich wieder.
ZEIT: Aber Sie sind der Christoph, der alles weiß.
Biemann: Klar weiß ich viel: wie ein Berliner her-
gestellt wird, wo die Bananen wachsen, wie man
Meerrettich vermehrt. Aber ich hab von vielem
auch keine Ahnung. Und das ist ja das Gute an
meinem Job: Ich darf dumm sein von Beruf.

Das Gespräch führten
Stefanie Kara und Jeannette Otto

Christoph Biemann, heute 67, wächst in
Hildesheim auf. In seine Schulzeit fallen
die politischen Wirren von 1968

Zwanzig Jahre alt ist er auf diesem Foto.
Biemann studiert damals an der Hochschule
für Fernsehen und Film in München

Bereits seit 1972 arbeitet der Filmemacher für
die »Sendung mit der Maus«, seit 1982 auch
als Ansager und Darsteller vor der Kamera

Mehrfach wird Biemann für seine Arbeit
geehrt, unter anderem mit dem Grimme-Preis
und dem Bundesverdienstkreuz

»Ich bin überzeugt


davon, dass ich okay bin«


In unserer Gesprächsreihe
»Meine Schule des Lebens«
erzählen prominente Menschen
von ihrem Bildungsweg

Foto: Sandra Stein für DIE ZEIT; kl. Foto: privat


  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 WISSEN 41

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