Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

POESIE DES ALLTAGS


Dass im Dienst nicht
immer alles nach Plan
läuft, weiß Norbert Horst
gut. Der Bestsellerautor
ist Kriminalhauptkom-
missar. Seit 24 Jahren
arbeitet er bei der Bie-
lefelder Polizei. Sein
Roman „Todesmuster“ wurde mit dem
Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. In
Horsts neuem Buch „Bitterer Zorn“ jon-
glieren der Dortmunder Kommissar
Thomas Adam und seine Kollegin Jana mit
drei Fällen gleichzeitig: dem Verschwin-
den eines minderjährigen Einbrechers
sowie den Entführungen des Kindes eines
Mafiaclans und einer Unternehmers -
gattin. Obendrauf ist eine verdeckte Infor-
mantin in Gefahr. Erneut gelingt es Horst,
den eher nüchternen Ermittlungsalltag
mit einer eigentümlichen Poesie und
Melancholie realistisch zu beschreiben,
ohne dabei in falsche Romantik zu ver-
fallen. Spannend ist das Buch sowieso.
(Goldmann, 13 Euro) Hanna Lüthi

KOKS ODER KARINE?


Manchmal spricht Ryan
zu seiner toten italieni-
schen Mutter; ihr erzählt
er, wie er alles für ein
Risotto besorgt – für ein
Mama-Risotto – und es
dann doch nicht kocht.
Denn: „Dich zu vermissen
war wichtiger, als zu essen.“ Große Gefüh-
le gehören zu dem jungen Dealer aus dem
irischen Cork, der durch Lisa McInerneys
neuen Roman „Blutwunder“ marodiert.
Druck gehört auch dazu: Sein Boss Dan
importiert neue Wunderpillen von der
Camorra, was zu mächtig Ärger führt. Es
wird Zeit, dass Ryan sich entscheidet.
Will er Geld und Gewalt, Koks und Frauen?
Oder will er einen Schulabschluss und
seine wunderbare Ex-Freundin Karine zu-
rück, vielleicht sogar ein Kind? McInerney
beschreibt das ohne moralische Wertung.
Es ist eine Sause durch Ryans Leben.
Man lernt viel, nicht nur über Drogen.
Und bleibt am Ende ratlos. (Liebeskind,
22 Euro) Stefan Schmitz

LAHME GÄULE IM GALOPP


Worum es geht? Sekunde,
erst mal ein kurzes Bei-
spiel für Mick Herrons
Großartigkeit: „Es war ein
uraltes Ding, ein Nokia,
schwarzgrau mit unge-
fähr so vielen Funktionen
wie ein Flaschenöffner.“
Wer Herrons ersten Roman „Slow Horses“
gelesen hat, kennt bereits den Sarkasmus
und den lakonischen Humor, mit dem
er vom öden Alltag der „lahmen Gäule“
erzählt, einer Truppe MI5-Agenten, die
wegen mehrerer Verfehlungen in einer
ranzigen Geheimdienstfiliale so lange
stumpfsinnige Tätigkeiten verrichten
müssen, bis sie kündigen. Doch ihre
Instinkte und Fähigkeiten sind noch längst
nicht in Pension. Die brauchen sie auch, als
sie in „Dead Lions“, angeführt von ihrem
muffigen, dickleibigen Chef Jackson Lamb,
einen Oligarchen bewachen müssen und
als ein Ex-Spion tot aufgefunden wird. Vier
weitere Lamb-Romane warten noch auf
ihre Übersetzung. Das Warten wird hart.
(Diogenes, 24 Euro) Bernd Teichmann

BÖSE GEISTER


Sieben Wochen bleiben
dem elfjährigen House-
boy Ren, um den einst am-
putierten Finger seines im
Sterben liegenden Herrn
wiederzufinden – andern-
falls wird dessen Seele für
alle Ewigkeit rastlos auf
Erden wandern. Schicksal und Verbrechen
führen ihn mit der Schneiderin Ji Lin
zusammen, die in einer Tanzhalle unfrei-
willig an einen mumifizierten Finger ge-
rät. Yangsze Choos Roman „Nachttiger“
spielt in den frühen 1930er Jahren in Bri-
tisch-Malaya (dem heutigen Malaysia)
in einer Welt des Aberglaubens, wird be-
völkert von bösen Geistern, Serienmör-
dern und menschenfressenden Kreaturen.
Choo ist Malaysierin, lebt mit Mann,
Kindern und Hühnern im kalifornischen
Palo Alto und beschreibt sich als „Angst-
hasen, der keine Horrorfilme gucken mag“.
Was mal wieder die These stützt, dass
die übelsten Fantasien den friedlichsten
Lebensumständen entspringen. (Wunder-
raum, 22 Euro) Dirk van Versendaal

BITTERER KAFFEE


Da, wo in Brooklyn die
Hipster wohnen, gibt es
viele Möglichkeiten, sich
den Kaffee zubereiten zu
lassen: als Flat White oder
Cold Brew etwa. In der
schäbigen Ecke von Brook-
lyn, in der Amy Falconetti
wohnt, schmeckt der Kaffee weiterhin
bitter und sauer. Amy war mal eine von
denen, die nach einem verfeinerten Cool-
ness-Grad leben. Mit Mitte 30 aber küm-
mert sie sich grau und brav um das
Wohl alter Damen. Als sie ein Verbrechen
wittert und dem vermeintlichen Übel-
täter folgt, muss sie mit ansehen, wie
dieser erstochen wird (fies: Messer in den
Hals). Bald verfolgt der Mörder auch sie.
William Boyle ist mit „Einsame Zeugin“
eine nicht immer elegant geschriebene
Charakterstudie einer Zwangsneuroti-
kerin gelungen, die in ein Verbrechen ver-
wickelt wird. Wäre das Buch ein Kaffee,
dann käme er aus der einfachen Maschi-
ne. Er weckt trotzdem die Lebensgeister.
(Polar, 20 Euro) Oliver Creutz

TIEFE TÄLER, KALTE SEELEN


Am Morgen des 22. März
1999 wurde die Leiche der
20-jährigen Erika Knapp
in einem Bergsee trei-
bend gefunden. Ein
Selbstmord, da waren die
Dorfbewohner sich einig,
die „narrische Erika“, die
aus Tarotkarten die Zukunft las, hatte sich
das Leben genommen. 20 Jahre später
findet ihre Tochter Sibylle im Briefkasten
ein Tatortfoto, das es nicht geben dürfte.
Mithilfe des Schriftstellers Tony sucht sie
nach dem Mörder ihrer Mutter – und stößt
auf weitere Todesfälle. Der ehemalige
Lehrer Luca D’Andrea kommt aus Bozen
und schreibt über seine Heimat Südtirol
so grauslich gut, dass schon sein Thril ler-
debüt „Der Tod so kalt“ (2016) sich welt-
weit mehr als 400 000-mal verkaufte.
Auch mit „Der Wanderer“ liefert er, was
seine Leser so lieben: tiefe Täler, dunkle
Wälder, kalte Seelen. Die ideale Kamin-
ofenlektüre also. (Penguin, 15 Euro)
Dirk van Versendaal

Gäule in London – hier sind die Herbstkrimis



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