Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1
Mein Mann Faruk verkauft starken arabischen Kaffee auf
der Straße, den Becher zu 250 Libanesischen Lira, das sind etwa
15 Euro-Cent. Eigentlich ist er gelernter Automechaniker, aber er
musste seine kleine Werkstatt aufgeben, weil er die Miete nicht mehr
bezahlen konnte. Das lag an unseren Schulden. Bei der Geburt
meines Sohnes Omar verlangte das Krankenhaus 2000 US-Dollar in
bar, bevor sie mich aufnahmen. Mein Mann musste das Geld leihen.
Am Ende hatten wir 7000 Dollar Schulden. Ich möchte, dass meine
Kinder ein besseres Leben bekommen als wir, aber ich habe keine
Hoffnung, dass die Proteste etwas für uns ändern. Wenn ich könnte,
würde ich dieses Land morgen verlassen. Ach, könnten wir nur!
Vorhin wollte ich einen Liter Milch für die Kinder kaufen. Der kostete
auf einmal 2700 Lira, bisher waren es immer 2000 gewesen.“

Libanon
Fatin Haider, 27, Hausfrau

Irak
Ali Hassan al-Wa’ili, 27, Tagelöhner

Seit drei Tagen schlafe ich auf dem Sadrain-Platz in Nadschaf
in diesem Trauerzelt. Ich demonstriere hier, um an den Tod meines
Cousins Ibrahim zu erinnern. Er ist am 3. Oktober von Sicherheits-
kräften erschossen worden. Auf diesen Fotografien ist er zu sehen.
Nun setze ich seinen Kampf fort. Für gute Schulen, gute Kranken-
häuser, ordentliche Straßen und für ein Land, in dem sich alle an die
Gesetze halten. Viele hier rufen Slogans gegen den Iran. Das liegt
daran, dass der Iran sich so sehr im Irak einmischt. Unsere Politiker
sind wie eine Mafia. Sie verkaufen sich an fremde Mächte, an
den Iran und die USA und Saudi-Arabien. Sie bestehlen das Volk
und haben keine Menschlichkeit. Ich habe Hoffnung für die Zukunft.
Aber solange wir diese korrupten Politiker nicht loswerden,
wird sich nichts ändern.“

„„


„Killun ya’ani killun – Alle heißt alle!“,


skandieren Iraker und Libanesen aller Re-


ligionen: Wir wollen sie alle loswerden.


„Von Bagdad bis Beirut: Wir sind ein Volk,


und wir wollen leben.“


Europa, und vor allem Deutschland, soll-

te zuhören. Denn genau die Regierungen,


gegen die die Menschen nun aufbegehren,


hat auch die Bundesregierung im Namen


der Stabilität im krisengeschüttelten Na-


hen Osten über Jahre hinweg mit Milliar-


denhilfen gestützt. In beiden Ländern sind


deutsche Soldaten im Rahmen internatio-


naler Koalitionen im Einsatz.


Erst im April war Iraks Premierminister

Adil Abd al-Mahdi zu Besuch in Berlin.


Bundeskanzlerin Angela Merkel lobte „das


Bemühen des Ministerpräsidenten für ein


friedliches Miteinander in der Region“. Seit


Anfang Oktober haben irakische Sicher-


heitskräfte und mit ihnen verbündete Mi-


lizen mindestens 249 Demonstranten ge-


tötet, viele mit gezielten Kopfschüssen.


Den Ministerpräsidenten des Libanon,
Saad al-Hariri, besuchte die Kanzlerin ver-
gangenes Jahr in Beirut. Hauptthema der
Gespräche war die deutsche Hilfe für die
mehr als eine Million syrischen Flüchtlin-
ge, die das 4,5-Millionen-Einwohner-Land
seit Jahren beherbergt. Bei der Pressekon-
ferenz wünschte Merkel Hariri aber auch
deshalb „viel Erfolg, weil Sie ein Beispiel
für viele andere Länder in der Welt geben
können, dass man etwas für die Menschen
im Lande zustande bekommt“.
Vergangenen Dienstag ist Hariri unter
dem Druck der Proteste zurückgetreten.
Im windschiefen Zelt auf dem Märtyrer-
Platz startet Patrick Khalifeh, der verletz-
te Aktivist, während des Gesprächs mit
dem stern eine spontane Umfrage unter
seinen Mitstreitern. „Hand hoch: Wer ist
verheiratet? Wer kann sich eine eigene
Wohnung leisten?“ Keiner meldet sich.
„Wer hat eine Freundin?“ Einer von zehn
jungen Männern, alle um die 30.

„Wozu sollte ich auch eine Beziehung an-
fangen? Es wäre doch nur ein leeres Verspre-
chen“, sagt Khalifeh. „Ich kann in diesem be-
schissenen Land keine Kinder in die Welt
setzen. Den Fehler haben schon meine El-
tern gemacht.“ Alle im Zelt haben ein abge-
schlossenes Studium. Job und Einkommen
hat nur einer. „Aber ein Viertel des Gehalts
geht allein für die Generatorrechnung drauf,
weil es Strom nur drei Stunden am Tag gibt.“
Auch Hassan, der Tuktuk-Fahrer vom
Bagdader Tahrir-Platz, hat sehr einfache
Träume. „Ich möchte eine sichere Arbeit
haben. Aber mit diesen Politikern ändert
sich nichts zum Besseren, alles wird nur
immer schlimmer.“
Angesichts der düsteren Aussichten ist es
erstaunlich, wie friedlich und gut gelaunt
der Protest im Libanon und im Irak in den
vergangenen Tagen gewesen ist. Straßen
und Plätze am Tigris und im Zedernstaat
glichen einer Partyzone. In Libanons zweit-
größter Stadt Tripoli legten Abend für 4


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