Mittwoch, 13. November 2019 WIRTSCHAFT 25
«Die Barbar en stehen vor dem Tor»
Donald Trump hat das Vertrauen zwischen den Staatenerodieren lassen. Das erschwere den Kampf gegen eine künftige Krise,
sagt der frühere Chefökonomdes Währungsfonds Maurice Obstfeld im Gespräch mit Thomas Fuster
Herr Obstfeld, Siewaren wirtschafts-
politischer Berater von Präsident
BarackObama.Wenn auchDonald
Trump bei Ihnen anklopfen würde, was
rieten Sie ihm?
MeinRatschlag wäre: Beenden Sie den
Handelskrieg! DieserKrieg ist eine Be-
lastung für dieWeltwirtschaft und daher
auch für die USA. AmerikasWirtschaft
mag derzeit relativ stark sein.Das be-
deutet aber nicht, dass die USAimmun
sind gegenüber der handelspolitischen
Verunsicherung in zahlreichenLändern.
DieamerikanischeWirtschaft profitiert
momentan noch von der Steuerreform
desJahres 20 17 und von diversen staat-
lichenAusgabenprogrammen. Letztere
kurbeln dieWirtschaft aber nur kurzfris-
tig an und sindkeine Quelle für perma-
nentesWachstum.
Waswirddas wirtschaftliche Erbe von
Trump sein?Was werden wir in Ge-
schichtsbüchern dereinst über seine Prä-
sidentschaft lesen?
Das Erbe wird sehr unvorteilhaft sein.
Man wird festhalten, dass dieseRegie-
rung im Dienst eines kurzfristig höheren
Wachstums die zentralen Herausforde-
rungen vernachlässigt hat. Ich denke an
den Klimawandel, die Infrastruktur,die
Ausbildung der Arbeiter. Keines dieser
Probleme wird angegangen.Auch nicht
die Staatsverschuldung, dasSystem der
sozialen Sicherung oder die Kranken-
versicherung.TrumpsWirtschaftspoli-
tik beschränkt sich auf dieKürzung der
Steuern, die Erhöhung derAusgaben
und das Ankurbeln derWirtschaft für
die nächstenWahlen.
Zudem ziehen sich die USA von der
multilateralen Bühne zurück.
Ja, früher agierten die USA als wirt-
schaftlicheFührungskraft. Man sorgte
dafür, dass andere Staaten gemeinsam
undkooperativ agierten.Wir sahen das
2009 bei der Bekämpfung der globa-
lenFinanzkrise, aber auch in der Nach-
kriegszeit, als die USA denWiederauf-
bau und den Handel vorantrieben.Das
erhöhte denWohlstand in vielen Staa-
ten und trug letztlich auch zumKollaps
der Sowjetunion bei. Dieses grosseVer-
mächtnis wird nun verspielt.Kommt es
erneut zueiner Krise und benötigt deren
Bekämpfung eine globale Koopera-
tion, wird es schwierig.Es braucht viel
Zeit, bis Nationen einander vertrauen.
DochVertrauen kannrasch erodieren –
und dieTr ump-Regierung leistet hierzu
ganze Arbeit.
UmTrump aus demWeissen Haus zu
verdrängen, verfolgt dieDemokratische
Partei einen prononcierten Linkskurs.
Ist das erfolgversprechend?
Es wäre einFehler, aufradikal linke
Programme zu setzen. Eine solche Stra-
tegie wäreder sichersteWeg,um eine
Wiederwahl vonTr ump zu ermöglichen.
Die Herausforderung für jedeRegie-
rung besteht darin, einePosition zu fin-
den zwischenkomplett freien Märkten
und staatlichem Interventionismus –
wobei diesePosition sowohl fürWachs-
tumals auch für sozialeKohäsion sor-
gen muss.
Ist das in derVergangenheit gelungen?
Ab den1990erJahren bis zumAus-
bruch derFinanzkrise haben sich viele
Volkswirtschaften zu stark in die Rich-
tung des Marktes bewegt. Sie schenk-
ten den Nebenwirkungen vonWachs-
tum,Technologie und Globalisierung
zu wenig Beachtung.Es braucht daher
einenAusgleich.
Anwelche Nebenwirkungen denken Sie?
Etwa an diePolarisierung in der Arbei-
terschaft und die wachsenden Un-
gleichheiten bei Einkommen oderVer-
mögen.Aber auch an diePolarisierung
zwischen urbanen, kosmopolitischen
Gegenden und ländlichen oder klein-
städtischenRäumen. Das sind wichtige
Themen, und sie haben negativeFolgen;
denken Sie anTr ump oder den Brexit.
Europa blieb bisher von Schlimmerem
verschont. Doch dieBarbaren stehen
vor demTor. Die wirtschaftspolitischen
Schwerpunkte müssen nun neu gesetzt
werden – und diese Neugewichtung
muss glaubwürdig sein und klarkom-
muniziert werden. Sonst droht Ärger.
Was heisst das?Weniger Marktund
mehr Staat?
Ichrede nicht von einerVerstaatlichung
der Wirtschaft oder einer schweren
Hand des Staates beim Einsatz der
Ressourcen. Das wäre freiheitsfeind-
lich, ineffizient und frustrierend für all
jene, die aufsteigen wollen. Es geht um
einen graduellen Prozess, bei dem der
Markt weiterhin eineRolle spielt.Es
ist beispielsweise unrealistisch, in den
USA über Nacht ein nationales Gesund-
heitssystem etablieren zu wollen. Man
darf den Privatsektor nicht dämonisie-
ren, bloss weil er Gewinne anstrebt.Das
wärekurzsichtig.
Warum fühlensich immer mehr Leute
alsVerlierer der Globalisierung?
Es geht nicht nur um die Globalisie-
rung, sondern generell um die moderne
Wirtschaft. EinTeil der Bevölkerung –
und das gilt für viele Industrieländer –
fühlt sich benachteiligt. Diese Leute fin-
den, dieWirtschaftspolitik sei bisher vor
allem darauf ausgerichtet gewesen, den
ausländischen Staaten oder den einhei-
mischen Eliten zuReichtum zu verhel-
fen, und zwaraufihreKosten. DieseVer-
ärgerung macht es Demagogen einfach,
für alle Übel dasAusland, den Handel
und dieMigration verantwortlich zu ma-
chen.Wobei es hier nicht nur um ökono-
mische, sondern auch kulturelle Sorgen
geht.Viele Menschen sehen die natio-
nale Identität in Gefahr.Wirtschaftliche
und kulturelle Sorgen sind eng mitein-
ander verflochten.
Oft wird vor allem diewestliche Mit-
telklasse alsVerliererin bezeichnet. Zu
Recht?
Die Mittelklasse hat von der Globalisie-
rung und dem technischenWandel profi-
tiert. Güter aus demAusland sind günsti-
ger geworden und stehen heute in grös-
serer Zahl zurVerfügung. Dies hat aber
auchAuswirkungen auf den Arbeits-
markt. Man kann sich die Globalisierung
als eineTechnologie vorstellen, die dazu
führt,dass ProduktionundKonsumeffi-
zienter werden.Wiejede neueTechno-
logie verändert auch die Globalisierung
dieVerteilung der Einkommen.Entspre-
chend wichtig bleibt die soziale Mobi-
lität. Zudem müssen die Leute in ihrer
Arbeit wieder einenWert erkennen und
zu Selbstachtung finden.Das sind Dinge,
die wir zu wenig ernst genommen haben.
Noch läuft dieWirtschaft ziemlich rund.
Dochsollte es erneut zu einer Krise
kommen,stellt sich dieFrage, obdie
Politik noch gegensteuern könnte. Etwa
in der Geldpolitik.
Sollte diePolitik nicht mehr gegen-
steuernkönnen, wäre ich sehr besorgt
über die politischenFolgen einer neuer-
lichen und dramatischen Krise. Doch ich
glaube nicht, dass die Geldpolitikkei-
nerlei Munition mehr hat.
Was bleibt denn möglich? Noch tiefere
Zinsen?
Ja, selbst in der Schweiz, wo die Nega-
tivzinsen schon bei 75Basispunkten lie-
gen. Die Schweiz verfügt zudem über die
Option von Devisenkäufen.Das funktio-
niert aber nur kurzzeitig und taugt nicht
als permanentesRegime – auch deshalb
nicht, weil man mit solchen Interven-
tionen den Zorn der USA und anderer
Handelspartner auf sich ziehenkönnte.
Grundsätzlich steht den Notenbanken
weiterhin auch die Möglichkeit von An-
leihekäufen offen, wie dies die Europäi-
sche Zentralbank ja derzeit beweist.
Aber wirken diese Massnahmen noch?
Sie wirken weniger als früher. Jestär-
ker man sie strapaziert, desto grösser
werden die Nebenwirkungen und desto
kleiner werden die positiven Effekte.
Deshalb muss auch dieFiskalpolitik tä-
tig werden. Ob diePolitiker dazu fähig
und willens sind, ist unklar. Sie waren
bisher glücklich, dass die Zentralbanken
dieLast getragen haben. In einer künf-
tigen Krise müssen aber auch diePoli-
tikerVerantwortungübernehmen.Dar-
über sollten sich dieRegierungenschon
heute Gedanken machen:Wie sorgt man
dafür, dass eine fiskalpolitische Stimu-
lierung produktiv wirkt, welche Bedürf-
nisse will man decken, wohin soll das
Geld fliessen?
Dadurchwerden die Schuldenweiter
steigen.
DieSchweiz ist dank der Schulden-
bremse ja in einerkomfortablenLage.
Ja, aber anderswosieht esweniger kom-
fortabel aus.
Wenn der Staat seine Mittel produk-
tiv einsetzt, erhöhen seine Investitio-
nen dasPotenzialwachstum.Das ver-
breitert die Steuerbemessungsgrund-
lage und erleichtert die Schuldenlast.
Ich denke etwa an Investitionen in eine
grüneWirtschaft, für eine bessere Bil-
dung oder für ein effizienteres Gesund-
heitswesen. Zudem haben wir sehr nied-
rige Zinsen.Das verringert die Zinsen-
last, selbst bei wachsenderVerschul-
dung. Hierkann auch dieGeldpolitik
eine wichtigeRolle spielen, indem sie
die Zinsen niedrig hält. Derzeit müssen
wir uns über Inflationjakaum Sorgen
machen. Gefragt sind neue Ideen.
Anwelche neuen Ideendenken Sie?
ZumBeispiel an Helikoptergeld, also
an die direkteAuszahlung von Noten-
bankgeld an den Staat oder die Bürger?
Die Idee von Helikoptergeld wirkt
auf viele Leute angsteinflössend. Aber
es würde funktionieren. Und wenn es
Werkzeuge gibt, die funktionieren, sollte
man darüber nachdenken, wie sie auf
sichereWeise eingesetzt werdenkönn-
ten. Denken Sie daran:Wenn es uns im
Falle eines dramatischen Abschwungs
nicht gelingt, Gegensteuer zu geben, hat
dies dramatische politischeKonsequen-
zen. DieseFolgen wären weit gravieren-
der als unsere derzeitigen Bedenken zur
geldpolitischen Unabhängigkeit oder zu
denGrenzen des Staatshaushalts.
Gibt es denn keine Grenzen mehr?
Stellen Sie sich vor, zuIhnen käme
ein sehr kranker Patient. Siekönnen
ihn mit einem Antibiotikum heilen.
Soll man diesemPatienten das Anti-
biotikum bloss deshalb verweigern und
ihn sterben lassen, weil man sich Sor-
gen macht, dass er aufgrund der vielen
Antibiotika eineResistenz entwickelt
und das Medikament beim nächsten
Mal nicht mehr wirkt?Wohl kaum.
Wenn es eine schwere Krise gibt,muss
man handeln.
Doch wiegen die unerwünschten Neben-
wirkungen nicht schon heute schwerer
als die positivenFolgen? Ich denke an
die extrem expansive Geldpolitik und
die negativen Zinsen, die zu einerVer-
zerrung an den Finanzmärkten führen.
Natürlich gibt es Nebenwirkungen. Die
einzelnen Notenbanken haben aber
kaum Einfluss auf das Niedrigzins-
umfeld. Die global sehr tiefenRealzinsen
sind einResultat globalerFaktoren.
Strukturelle Gründe wie die Alterung
derBevölkerung oder die höhere Spar-
neigung sind zur Erklärung der nied-
rigen Zinsen also bedeutsamer als die
Geldpolitik der Notenbanken?
Ja, davon bin ich überzeugt. Es gibt
ganz offensichtlich einen Überschuss
von Ersparnissen gegenüber Investitio-
nen. Hinzukommt die allgegenwärtige
politischeVerunsicherung.Das führt zu
einer höheren Nachfrage nach sicheren
Vermögenswerten.
Wie soll man darauf reagieren?
Etwa, indem man denTr ansfer von Ka-
pital in ärmereLänder fördert. Dort
gibt es viele Investitionsmöglichkeiten,
vor allem im ökologischen Bereich.Das
würde die globalen Realzinsen nach
oben treiben, was den Zentralbanken
entgegenkäme. Hilfreich wäre auch ein
Abbau der politischenVerunsicherung.
Daher nochmals:Wir brauchen neue
und kreative Ideen.
Eine vermeintlich kreative Idee ist die
«moderne monetäre Theorie» (MMT).
Sie geniesst in linken Kreisen der USA
grosseSympathien und besagt, dass sich
ein Staat nicht umDefizite kümmern
muss, solange er sich in der eigenen
Währung verschulden kann.Was halten
Sie davon?
MMT ist eine gefährliche Doktrin.Kurz-
fristig mag eine monetäreFinanzierung
möglich sein und eine positiveWirkung
haben. Aber sie istkein Ersatz für lang-
fristige Strukturreformen. Irgendwann
kommt es zur Inflation. Und unter In-
flation leiden die Einkommensschwa-
chen und die Mittelklasse am meisten.
Für mich erscheint die MMT wie eine
linkeVersion der angebotsorientierten
Wirtschaftstheorie. Letztere gibteben-
falls vor, mankönne alles haben, was
man wolle: Steuern senken und gleich-
zeitig die Schulden verringern. Nun
heisst es bei denVerfechtern der MMT:
Man kann Geld drucken und damit ein
Gesundheitswesen, einen Green New
Deal und vieles andere finanzieren.
DochRessourcen sind begrenzt. Man
kann nicht alles haben.
«Es wäre ein Fehler,
auf radikal linke
Programme zu setzen.
Das wäre der sicherste
Weg für eineWiederwahl
von Trump.»
Maurice Obstfelds Ratschlag an PräsidentTrump ist eindeutig:«Beenden Sie den Handelskrieg!» CHRISTOPHE MORIN / BLOOMBERG
«DieIdee
von Helikoptergeld
wirkt auf viele Leute
angsteinflössend. Aber
es würde funktionieren.»
Berater mit Einfluss
tf.·Maurice Obstfeld gehört zu den
weltweit einflussreichsten Ökonomen.
Das hat nicht nur damit zu tun, dass
er zusammen mitKennethRogoff ein
Lehrbuch zur internationalen Makro-
ökonomie verfasst hat, das an Univer-
sitäten rund um den Globus verwendet
wird. Der 67-jährige Amerikaner übte
in seiner Karriere auch viele wichtige
Ämter ausserhalb derWissenschaft aus.
So gehörte er etwa zumTeam derWirt-
schaftsberater vonBarack Obama.Vo n
2015 bis 20 18 agierte er ausserdem als
Chefökonom des InternationalenWäh-
rungsfonds (IMF). Nach seinemWeg-
gang vom IMFkehrte Obstfeld, des-
senRat von diversen Zentralbanken
nachgefragt wird, an die University of
California zurück.Das Interview mit
dem Experten zuFragen der Makro-
ökonomie fand amRand des diesjähri-
gen NZZSwiss InternationalFinance
Forum (SIFF) statt.