FEUILLETON Mittwoch, 13. November 2019 Mittwoch, 13. November 2019 FEUILLETON
Wo wir sind,
ist vorne.
Die neue
globale Elite
Einst waren die Eliten konservativ, doch das hat sich
mit der Globalisi erung grundlegend geändert: Heute
kommen sie jung daher, kumulieren viel kulturelles
Kapital und arbeiten i n Zukunftsbranchen. Mit ihrer
Moral stossen sie aber auf Widerstand.
Von Alex ander Grau
DasWoher spielt keineRolle mehr für die globalen Eliten, vonBedeutung ist nurmehr dasWohin. ANUSHREEFADNAVIS / REUTERS
gravierend:War bis weit in das 20.Jahr-
hundert hinein Kritik an den Eliten im
Grunde nichtsanderes als Kritik an
deren ökonomischen und sozialen Pri-
vilegien,so hat die heutige Elitenkritik
Züge einesKulturkampfes. Hier geht
es nicht mehr primär um ökonomische
Ausbeutung, um Chancengleichheit
oder auch nur Gerechtigkeit, hier geht
es um kulturelle Deutungshoheit.
Zukunfts- und Herkunftsmoral
Verschärft wird diese Auseinander-
setzung um die kulturelle Deutungs-
hoheit dadurch, dass sie in einer nivel-
lierten Mittelstandsgesellschaft statt-
findet, deren zentraleWerte Gleichheit,
Gleichberechtigung und Gerechtigkeit
sind und die sich viel auf ihreflachen
Hierarchien und ihre kritische Haltung
gegenüberAutoritäten einbildet. Das
bedeutet: Die modernen Eliten wol-
len nicht mehr elitär sein,sondern ge-
ben sich allein schon äusserlich lässig,
jugendlich, casual und sportlich.
Das Widerstreben der modernen Eli-
ten, Elite zu sein,entschärft denKul-
turkonflikt aberkeinesfalls. Im Gegen-
teil. Gerade weil wir in tendenziell eli-
tenfeindlichen Gesellschaften leben, in
denen nicht einmaldie Elite von sich
behaupten würde, Elite zu sein, und sie
sich schon äusserlich kaum von anderen
sozialen Gruppen unterscheidet, ent-
steht ein Egalitätsanspruch, der die fak-
tischvorhandenen normativen Differen-
zen noch pointierter hervortreten lässt.
Zwar trägt man zumTeil dieselbe
Kleidung,geht in dieselben Geschäfte,
richtet sich bei demselben schwedischen
Möbelhaus ein, hört dieselbe Musik und
teilt andere popkulturelleVorlieben.
Allerdings werden diese popkulturellen
Versatzstücke grundlegend anderskon-
textualisiert. Dienen sie den einen zur
Bestätigung ihrerkosmopolitischen und
flexiblen Existenz, so sind sie den ande-
ren lediglich Beiwerk ihrer traditionel-
len Lebenswelt.
Aber das ist nur ein Seitenaspekt.
Entscheidender ist die spezifischeMoral,
die aus dem Lebensgefühl der neuen Eli-
tenresultiert. Denn sie ist letztlich das
entscheidende Distinktionsmerkmal, das
die neuen Eliten von den Nichteliten,
aber auch von den alten Eliten trennt.
Dadie neuen Eliten sich vor allem
als progressiv, alsAvantgarde definieren,
ist die von ihnen proklamierte Moral zu-
nächst auf eine Überwindung des Über-
lieferten und Gegebenen ausgerichtet.
Man versteht sich alsVorkämpfer des
Modernismus, alsReformkraft, die die
Menschheit in eine bessereZukunft
führt. Man gibt sich progressiv und fei-
ert die Überwindung desGestern. Über-
lieferteVorstellungen und tradierte
Wertehaltungen gelten als verdächtig.
Sie gilt es hintersichzulassen.
Zum Habitus der neuen Eliten ge-
hört daherkonsequenterweise eine Be-
schäftigung in sogenannten Zukunfts-
branchen. Man arbeitet im IT-Bereich,
imKultur- oder Medienbetrieb, viel-
leicht aberauch bei einem weltweit agie-
rendenKonzern oder einer internatio-
nalen Organisation. Und da man sich in
diesem Umfeld ausschliesslich unter sei-
nesgleichen bewegt, vereinigen sichKos-
mopolitentum und Provinzialität,Welt-
offenheit und Borniertheit zu einer his-
torisch singulären Ideologie.
Eine Frage der Gesinnung
Elite zu sein, wirdzueiner Gesinnungs-
und Lifestylefrage, wobei sich Gesinnung
und Lifestyle miteinander verschränken.
NationaleKulturen hält man per se für
überholt, Grenzen jeder Art fürAus-
druck von Borniertheit, man ist poly-
glott und bastelt sich seinen individuel-
len Lebensstil aus denVersatzstücken des
globalen kulturellen Angebots: Man liebt
französischeFilme, entspannt bei indi-
schemYoga, geniesst italienischeKüche
und bevorzugt skandinavisches Design.
Manbewohnt die gentrifiziertenViertel
unserer Grossstädte, nicht ohne die Gen-
trifizierung zu beklagen, hat ein Netflix-
Abo, konsumiert die neueste amerikani-
sche Hype-Serie im Original, bucht seine
Ferien bei Airbnb und liest den «Guar-
di an». Natürlich online.Vorallem aber
fühlt man sich alsTeil einer neuen, glo-
balenKultur undAvantgarde, besagter
Hyperkultur, die in Berlin und Zürich
ebenso zu Hause ist wie inSydney.
Diese Hyperkultur ist in ihrerRadi-
kalität neu. Allerdings kündigte sie
sich seit zweihundertJahren an, als die
«schrecklichen Kinder der Neuzeit»
(Peter Sloterdijk) zum Massenphäno-
men wurden. Denn die Moderne ist die
erste Epoche, deren Identität darin be-
steht, sich permanent selbst überwinden
zu wollen. Die Moderne will modern
sein. Und modern sein bedeutet, fort-
schrittlich zu sein. Exponent dieser Zer-
schlagungdesVorhandenen und Über-
lieferten war über zweiJa hrhunderte
das Bürgertum. Und es ist nurkonse-
quent, dass am Ende der Moderne die
Selbstzerstörung des Bürgertums im
Namen der Bürgerlichkeit steht.
Seit der Neuzeit war das Bürgertum
der sozialeTräger derFortschrittsideo-
logie, ganz einfach deshalb, weil seine
gesellschaftlicheReputation nicht auf
überlieferten Privilegien beruhte, son-
dern auf wirtschaftlichem Erfolg. Das
war selbstredend eine Kampfansage an
denAdel, der seine Stellung und seine
Macht aus derTr adition bezog, aus der
Vergangenheit, aus der Genealogie.
Doch für das bürgerliche Bewusstsein
und seinen Machtanspruch sind genea-
logische Argumente wertlos. ImRahmen
der bürgerlichen Ideologie zählt nur das
Individuum, sein Selbstentwurf, sein Er-
findergeist, seine Innovationskraft.
Der Legitimation durch Herkunft
setzt der Bürger die Rechtfertigung
durch individuelle Leistung entgegen.
DerWert eines Individuums, ja der Sinn
des Lebens ermisst sich ausschliesslich
daran, was der Einzelne aus diesemsei-
nem Leben macht.Waren Fragen indi-
vidueller Selbstverwirklichung bis weit
in das19.Jahrhundert hinein allenfalls
Probleme einer kleinen Minderheit,
so wird die individuelle Sinnsuche im
20.Jahrhundert zunehmend zur Massen-
erscheinung. Doch millionenfach insze-
nierte Individualität istkeine. Es istdas
Grunddilemma des modernen Indivi-
duums:Wenn alle unverwechselbar sein
wollen, werden alle gleich.
Beschleunigt werden diese Entwick-
lungen durch eine Neudefinition von
Jugend undJugendlichkeit in der Mo-
derne. Galten in vormodernen Gesell-
schaften die Alten und das Alter als
Hüter des kulturellenWissens, so erfor-
dert die urbane und technisierte Gesell-
schaft Flexibilität, Spontanität und Be-
geisterungsfähigkeit. DieJugend wird
zum Ideal.Das Alte und Altherge-
brachte hingegen wirkt überholt und
unattraktiv. Schliesslich beginnt man in
Kategorien wie «in» und «out» zu den-
ken, wobei etwas «out» ist, sobald die
Masse begriffen hat, dass es «in» ist.
Aus Leistungwird Moral
Entsprechend beglaubigen die neuen
Eliten ihren Elitenanspruch über Eigen-
schaften, diekonstitutiv für eine indi-
vidualistische Wohlstandsgesellschaft
sind.Zugleich sind diese AttributeAus-
weis ökonomischerKompetenz und ge-
hören zur Sprache der Erfolgreichen
und Dynamischen: Kreativität, Origi-
nalität, Flexibilität, Internationalität,
Offenheit, Neugierde. Entscheidend
ist nun, dass man diese Eigenschaften
auch als moralischeWerte verstehen
kann.DieReputation der neuen Eliten
beruht darauf, dass genau dieseWerte
aus der ideologischenRumpelkammer
moderner Ökonomie genommen und
zu gesellschaftlichen Idealen erklärt
werden.
Oder anders: Die neuen Eliten syn-
thetisieren die Marotten einer hedo-
nistischen Konsumgesellschaft und
die Erfordernisse einer digitalisierten
und globalisierten Ökonomie zu einer
Moral.Aus den Idiosynkrasieneiner
auf Selbstverwirklichung gepolten
Wohlstandsgesellschaft und den An-
forderungen einer hochtechnisierten,
vernetzten und internationalisierten
Wirtschaft werden so gesellschaftliche
Werte,welchedie sie tragenden und be-
stimmenden Milieus ganz nebenbei zur
moralischen Elite erheben.
Vermutlich hätte diese Metamor-
phose der Ideologie der CEO, Con-
sultants und Business-Schools zur ge-
samtgesellschaftlichen Moral nicht so
reibungslos funktioniert, wenn auf der
anderen Seite die politischeLinkenicht
ihrerseitsWerte wie Diversität, Flexibi-
lität, Identitätstransformationen, Offen-
heit und Buntheit auf die politische
Agenda gehoben hätte. In einer selt-
samen, aber gesellschaftlich überaus
mächtigen, geradezu allmächtigen Mes-
alliance spielen sich so die akademisch
geprägte, emanzipatorische neue Linke
und die Erfordernisse des spätmodernen
Kapitalismus gegenseitig in die Karten.
Daman sich jedoch nur unter seines-
gleichen bewegt,kommt es zu einer dis-
kursiven Abschottung derWeltoffenen
undToleranten: Man verfällt dem Irr-
tum, das eigene Leben sei der norma-
tive Goldstandard.Aufgrund derFehl-
einschätzung, dass das eigene Emanzi-
pationsprojekt das einzig legitime und
moderne sei, schaut man mitVerachtung
auf jene, die an diesem Projekt und der
ihm implantierten Ideologie nicht teil-
habenkönnen oder wollen.
Das Ergebnis ist einKulturkampf
von oben. Erstmals in der europäischen
Geschichte wird versucht, eineKultur-
revolution aus den oberen Stockwerken
der Gesellschaft zuinszenieren.Das
stösst nicht immer auf Gegenliebe, und
so sind die Eliten und ihrWertesystem
in den letztenJahren in der gesamten
westlichenWelt in die Krise geraten.
Elitenkritik ist wahrlich nichts Neues.
Wahrscheinlich hat sich schonirgendein
Neandertaler im Pleistozän über seinen
weltfremden und abgehobenen Clan-
Chef aufgeregt. Doch erstmals in der
Kulturgeschichte erfolgt Kritik an ge-
sellschaftlichen Eliten aus derTiefe libe-
raler, demokratischer und offener Ge-
sellschaften heraus.
Man kann darüberstreiten,wann
dieseFormvonElitenkritik sich das erste
Mal artikuliert hat, doch man liegt sicher
nicht falsch, wennman den Beginn mit
der endgültigen Abdankung der alten
konservativen Eliten und dem gelunge-
nen Marsch durch die Institutionen der
von1968 Inspirierten gleichsetzt. Ent-
sprechend beschrieb1994 der amerikani-
sche Historiker ChristopherLasch in sei-
nem gleichnamigen Buch eine «Blinde
Elite», diesichvonden Sorgen und
Wertesystemen der Normalmenschen
vollkommen entfernt habe. «Die neuen
Eliten», soLasch damals, «sind nur im
Tr ansit zu Hause, auf demWeg zu einem
wichtigenKongress, zur festlichenEröff-
nung einer neuenFirmenkette.»
Lasch hatte seinerzeit denYuppie
der1980erJahrevorAugen, der zynisch,
egoistisch und asozial seine persön-
licheGierauslebt. Oliver Stones Gor-
don Gekko lässt grüssen. Doch die Ent-
wicklung der letzten zwanzigJahre hat
gezeigt, dass es noch problematischere
Sozialcharaktere gibt als Egoisten mit
Hosenträgern: den Altruisten im Hoo-
di e,den Angehörigen der neuen Elite,
der sich nicht damit zufriedengibt, sein
Leben nach seinerFasson zu leben,
sondern alle anderen dazu überreden
möchte, so zu denken, zureden und zu
leben wie er selbst.
Ökonomische Aspekte spielen da-
bei, das ist das Neue am neuen Klassen-
kampf, eine untergeordneteRolle. Das
gilt übrigens für beide Seiten: Eben weil
die neuen Eliten sich vor allemüber
Werte, Normen und Lifestyle definie-
ren, kann auch derjenige sich als Ange-
höriger der neuen globalen Klasse füh-
len, dersich mit prekärenJobs durchs
Leben schlägt, jedoch die richtige Gesin-
nung hat und an den Insignien des Zeit-
geistes zumindest teilweise partizipiert.
Umgekehrt gehört auch der ökono-
mischgutsituierteKonservative schnell
zu den Abgehängten, die die Zeichen der
Zeit nicht erkennen oder erkennen wol-
len und weder offen sind noch flexibel
oder kreativ, sondern einfach am Alther-
gebrachten festhalten möchten und die
Tr adition achten. Im Zweifelsfallreicht
es, sich für denFortbestand von Gym-
nasien auszusprechen oder fürFron-
talunterricht, für Dieselfahrzeuge oder
eine Beschränkung der Migration, um
als geistig und kulturell abgehängt und
daher nicht mehr diskursfähig zu gelten.
Echteund falscheToleranz
Dain diesemKulturkampf der Spät-
moderne nicht einfach nurWerte auf-
einanderprallen, sondernunvereinbare
Konzepte vonWerteressourcen, ist eine
Verständigung zwischen denLagern
nur schwer möglich. Oberflächlich be-
trachtet, sprechen beide noch dieselbe
Sprache,faktisch benutzen die beiden
Milieus aber ein eigenes Idiom, das
sich in das Idiom der Gegenseite nicht
mehr übersetzen lässt. Assoziiert zum
Beispiel der eine mit der traditionellen,
intakten Kleinfamilie Geborgenheit,
Wärme, Liebe und Zuwendung, so ver-
bindet der andere damit Enge, Heuche-
lei, Abhängigkeit und Diskriminierung.
Die beiden Sprachwelten sind schlicht
unvereinbar.
Es ist daher unwahrscheinlich, dass
sich die Risse, die sich in den westlichen
Gesellschaften zeigen, tatsächlich schnell
kitten lassen, eben weil es imKern um
einander ausschliessende Lebensent-
würfe undKulturkonzeptegeht. Man
muss sich daher wohl von der Illusion ver-
abschieden, es gebe so etwas wie einen
Grundkonsens, und vielmehr lernen, den
Dissens politisch zu organisieren.
Das bedeutet, dass unsere west-
lichen Gesellschaften sich inFormen
friedlicherKoexistenz einüben müssen.
Diese friedlicheKoexistenz setzt jedoch
dieFähigkeit zu echterToleranz voraus.
Insbesondere die neuen Eliten müssen
begreifen, dass dieeigene Lebenswelt
nicht die einzig legitime und moderne
ist,sondern nureiner unter vielen mög-
lichen Lebensentwürfen: Die sich tole-
rant Nennenden werden lernen müssen,
wirklich tolerant zu sein.
Alexander Grauist promovierter Philosoph
und freier Autor. Zuletzt von ihm erschienen
sind «Kultur pessimismus. Ein Plädoyer» (2018)
und «Hypermoral. Die neueLust ander Empö-
rung» (2017). – Beim obensteh enden Essay
handelt es sich um die redigi erte und gekürzte
Version des Referats, das Alexander Grau am
PhilosophicumLech2019 vorg etragen hat.
Man muss sich wohl
von der Illusion
verabschieden, es gebe
so etwas wie einen
gesellschaftlichen
Grundkonsens,
und vielmehr lernen,
den Dissens politisch
zu organisieren.
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