Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

Mittwoch, 13. November 2019 FEUILLETON 39


Ich singe – also bin ich Lette

Der Staatschor Latvija und die Zürcher Sing-Akademie feiern ein völkerverbindendes Chorfest


THOMAS SCHACHER, RIGA


Der Dom bildet, zusammen mit dem
Freiheitsdenkmal, dasWahrzeichen von
Riga.Der imposante gotischeBackstein-
bau aus dem 13.Jahrhundert ist seit der
Reformation die Kathedrale der evange-
lisch-lutherischen Kirche Lettlands. Der
Dom mit seiner prächtigen Akustik und
der weltberühmtenWalcker-Orgel dient
aber auch als beliebterKonzertort. An
diesem milden Herbstabend im Oktober
ist es der Staatschor Latvija,der mit dem
Domorganisten AigarsReinis dieKon-
zer treihe «Lettischer Herbst» eröffnet.
Dargeboten wird, mit einerAusnahme,
Musik einheimischerKomponisten –
und zwar aus der Gegenwart.
Etwa das Stück «Paliksim, Līdz-
cilvēk!» von Jēkabs Nīmanis,eine Ur-
aufführung, die eine aufregende Ge-
schichte erzählt, selbst wenn mankein
Wort Lettisch versteht. Schon hier be-
merkt man diehervorragende Quali-
tät des Chores. Erstrecht bestechen
die etwa fünfzig Sängerinnen und Sän-
ger im anschliessendenA-cappella-Teil,
den sie in derVierung vor demAltar sin-
gen, mit schierumwerfendemKönnen.
Im «Vaterunser» von Pēteris Vasks,das
auf Lettisch und aufLateinisch gesun-
gen wird, vermeint man gar den Gesang
von Engeln zu vernehmen.


Zu Gast in der Elbphilharmonie


Künstlerischer Leiter und Chefdirigent
des StaatschorsLatvija ist Māris Sirmais,
und zwar bereits seit1997. Zum Inter-
view, das im Probelokal in der auto-
freien RigaerAltstadt vereinbartist, er-
scheint er mit demFahrrad und stellt
sich gleich mit demVornamen vo r. Da er
nach seinem Chorleiterstudium in Riga
auch noch Orchesterleitung in Grazstu-
diert hat, spricht er fliessend Deutsch.
«Latvija ist der grösste Profichor im
ganzenBaltikum»,sagt er mit Stolz und
präzisiert,dass es sich bei den Choristen
nicht um Musiker mit Gesangsdiplom
handle, sondern hauptsächlich um Diri-
genten und Instrumentalisten. «Daraus
ergibt sich der besondere Klang», fügt er
an, «der in einer Mischung von vokalem
und instrumentalem Klang besteht.»


Zur Sowjetzeit,unter Sirmais’Vor-
gänger, war der Staatschor ein riesiger
Oratorienchor, der sogar inRussland
auftreten durfte. Sirmais hat ihm dann
die Kunst desA-cappella-Singens bei-
gebracht,und heute singt der Chor etwa
jewe ils zur Hälfte unbegleitet und mit
Ensemble- oder Orchesterbegleitung.
Das Repertoirereicht von derRenais-
sance bis in unsereTage, stilistischkennt
Sirmaiskeine Grenzen. Finanziert wird
Latvija vom staatlichenKulturministe-
rium, die Löhne seien aber bescheiden,
so dass die meisten Sängerinnen und
Sänger zusätzlich noch einer anderen
Teilzeitarbeit nachgehen müssten.
Zu den Höhepunkten auf derAgenda
des Chores zählen dieTourneen. Dieses
Jahr sang er beispielsweise in der Elb-
philharmonie und an derRuhrtrien-
nale.Am 15.Novemberkommt er nun
nach Zürich, wo er zusammen mit der
Zürcher Sing-Akademie und dem Let-
tischen ChorBalts dieTonhalle Maag
in eine Begegnungsstätte zweier unter-
schiedlicher, aber doch nichtganz frem-
der Kulturen verwandeln wird.
Tatsächlich verbindet Lettland und
die Schweiz die Präsenz einerreichen
Chorkultur. In Riga gibt es nebenLat-
vija noch drei weitere Profichöre, näm-
lich einen Radio-, einen Opern- und den
KammerchorAve Sol.Dazu kommen,
verteilt auf ganz Lettland, nochetwa 350
Amateurchöre. Einer von ihnenist der
Jugendchor Maska mit Sitz inBabīte in
der Nähe von Riga.DasAlter der Mit-
wirkenden – Schüler, Studenten und Be-
rufstätige –reicht von16 bis zu 32Jah-
ren.GegründetwurdederChorvonJānis
Ozols,derihninden19 JahrenseinesWir-
kens zu einem der bestenAmateurchöre
des Landes geformt hat.Eben ist die CD
«Dedication» erschienen, eine Einspie-
lung mitWerken,die verschiedeneKom-
ponisten für Maska geschrieben haben.
ImAugusthatmanamEurovision-Chor-
wettbewerb2019 imschwedischenGöte-
borg den zweiten Preis gewonnen.
Ozols hat in Lettland auch einen
eigenen Chorwettbewerb gegründet, die
In ternationalBaltic Sea Choir Compe-
tition in Jūrmala,die alljährlich im Sep-
temberstattfindet.EingeladensindAma-
teurchöre nicht nur aus demBaltikum,

sondern aus der ganzenWelt. «Die teil-
nehmendenausländischenChörebekom-
men dabei einen Eindruck von derrei-
chen lettischen Gesangskultur», sagt der
Dirigent. Leider habe sich aber noch nie
ein Chor aus der Schweiz angemeldet.
Der Stellenwert des lettischen Chor-
wesens tritt nirgends deutlicher zutage
als bei dem grossen Gesangs- undTanz-
festival, das alle fünfJahre ausgetragen
wird.EsbestehendaerstaunlicheParalle-
len zu den bis in die1840er Jahre zurück-
reichenden Eidgenössischen Sänger-
festen (und ihrenPendants in Deutsch-
land), die seit1982 Schweizerische Ge-
sangsfesteheissen.WährendeinerWoche
im Juli verwandelt sich dann ganz Riga
in eine Plattform für Chorsänger,Tän-
zer ,Trachtengruppen, Musikanten und
Theatergruppen. Beim Schlusskonzert
2018 produzierten sich auf der giganti-
schenFreilichtbühne im Mežapark am
nördlichen Stadtrand mehrere hundert
Chöre, insg esamt 12000 Sängerinnen
und Sänger,vor einem Publikum von
35 000 Personen.

«Singende Revolution»


DielettischeGesangskulturhatseitihren
AnfängenzugleichpolitischenCharakter.
Die 1873 nach deutschenund schweize-
rischenVorbildern gegründeten Sänger-
feste durften sogar während der sowjeti-
schen Besatzungszeit weitergeführt wer-
den.«Viele Lieder», so Ozols, «haben
einen versteckten patriotischen Sinn,der
von den Sowjets nicht bemerkt wurde.»
Eine zentraleRolle spielten dieVolkslie-
der während der baltischen Unabhängig-
keitsbewegung von1989 bis1991, die als
«singendeRevolution»indie Geschichte
eingegangen ist. «Singen war damals die
wichtigsteForm des Protests», sagt Ozols.
Ein etwas älterer Zeitzeuge, Guntars
Prānis , seit 2017 Rektor der Lettischen
Musikakademie in Riga, war zu Beginn
dieserRevolution18 Jahre alt. Er erin-
nert sich noch lebhaft, wie im ganzen
Land die verbotenen Lieder gesungen
und lettischeFahnen geschwenkt wur-
den. Die Musikakademie ist die einzige
professionelle Musikerausbildungsstätte
im Land und ist somit auch für dieAus-
bildung von Musik- undTanzlehrern zu-

ständig.Vier Jahre dauert dasBachelor-
studium, zwei weitere Jahre das Master-
studium,und vom nächstenJahr an wird
sogar ein Doktoratsstudium inAuffüh-
rungspraxis angeboten. Prānis betrach-
tet es geradezu als eine Mission der
Musikakademie,die nationale Gesangs-
tradition an diekommenden Generatio-
nen weiterzugeben.
Denn auch sein eigenerWerdegang
ist vom Singen geprägt. Nach dem Stu-
dium von Chor- und Orchesterleitung
und der Promotion inMusikwissen-
schaft gründete er die Schola Cantorum
Riga, ein professionellesVokalensem-
ble, das sich der mittelalterlichen Musik
widmet. Und bis zu seinerWahl zum
Rektor der Musikakademie war Prānis
Musikdirektor des Doms von Riga.Dass
nun die lettische Musikhochschule von
einem Chordirigenten geleitet wird,sagt
viel über den Stellenwert des Singens in
diesemLand mit seinen knapp zwei Mil-
lionen Einwohnern aus.
Zurück zu Māris Sirmais und seinem
Staatschor Latvija.Das bevorstehende
Konzert inZürich am15.November
hat einenVorläufer: Bereits im Herbst
2018 fand in derTonhalle Maag ein let-
tisch-schweizerisches Chortreffenstatt.
Beteiligt waren damals Chöre aus der
Schweiz und lettische Chöre aus ver-
schiedenen europäischen Staaten, dar-
unter der in Zürich ansässige ChorBalts.
Bei der zweitenDurchführung wird nun
das Chortreff en auf ein noch anspruchs-
volleres Niveau gehoben,indem zusam-
men mitBalts zwei Profichöre, Latvija
und die von Florian Helgath dirigierte
Zürcher Sing-Akademie, auftreten.
Das Programm verbindet schweize-
risches undbaltischesKulturgut, zum
Beispiel wenn von derKomponistin
HelenaWinkelman dasrätoromanische
Lied «La sera da bial aura» und das letti-
sche Hochzeitslied «Dod,Dieviņ,l ietum
līt» erklingen. Ganz besonders freut sich
Māri s Sirmais auf den Schluss desKon-
zerts, wenn alle drei Chöre zusammen
das Stück «Sleep» des lettischenKom-
ponisten JēkabsJančevskis uraufführen
werden.Das wird dann wirklich ein völ-
kerverbindendes Chorfest.

Zürich , Tonhalle Maag, 15.November.

Mit Menschenketten und Massengesängen erzwangen Esten, Lettenund Litauer 1989während der «singendenRevolution»die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. KALNINS/REUTERS


Warum so matt?


Trumpspricht in New York –
der Protesthält sich in Grenzen

SARAH PINES

Montagvormittag, Madison SquarePark.
Erstmalseröffnet mit DonaldTrump ein
amtierender Präsident dieVeteransDay
Parade in NewYork. DerTag ist milde,
eine Militärmusik inroten Uniformen
stimmt sich auf denAuftritt ein.AufTri-
bünen längs der 5thAvenue nehmen be-
tag te Kriegsveteranen Platz.Das Publi-
kum, das an den Eisengittern längs der
Militärparade-Route lehnt, besteht aus
schicken Städtern und Zugereisten aus
Upstate:Sie tragen Käppis mitRepubli-
kaner-Logo,Turnschuhe, Jeans mit Gür-
tel undJacken der BilligketteRoss.

Zaghafte Proteste


Für die Besucher istTrump nicht zu se-
hen, nur seine Stimme dröhnt aus dem
Park, ohne dass dieWorte genau aus-
zumachen wären. Der Präsident ist ab-
geschirmt von Sicherheitspersonal und
nah beimPark abgestellten Müllwagen.
«Ach,wann sehe ich ihn endlich,meinen
Liebling?», fragt eine jungeFrau, die ihr
US-Fähnchen stramm in die Höhe hält.
Neben ihr stehen eine Gruppe älterer
Frauen mit sehr kurzen und ein paar äl-
tere Herren mit sehr langen Haaren,die
Transparente mit derAufschrift «Lock
him up»in dieHöhe halten und mit zit-
ternden Stimmen«Trump lies, demo-
cracy dies» rufen. Hinter der sehr über-
schaubaren Schar der Protestierenden
kontert ein schlicht gekleideter Mann
mit schweren Händen: «Er wird wieder-
gewählt, ihr werdet sehen!» DieTrans-
parentträger zucken leicht zusammen.
Der Veteranentag ist in Zeiten des
vielkritisiertenRückzugs der US-Trup-
pen ausSyrien emotional noch stär-
ker aufgeladen als sonst. Entsprechend
hatte man mit Störaktionen gerech-
net: Nirgendwo, ausser vielleicht in San
Francisco, ist Trump so unbeliebt wie in
der Stadt, in der er geboren und aufge-
wachsen ist.Undkeine Stadt verkörpert,
nicht zuletzt auch wegen derTerror-
anschläge von 9/11, den – wieTrump es
in seinerAnsprache formulierte – «ame-
rikanischen Geist» und«Wagemut» so
sehr wie NewYork.
Allerdings hat sich der Präsident un-
längst aus seiner Heimatstadt abgemel-
det und Florida als neuenWohnsitz ge-
wählt.Kein Ort habe ihn so schlecht be-
handelt wie NewYork,twitterte er bitter
und spielte damit unter anderem auf die
kritische Berichterstattung der «New
York Times» oder die Bemerkung von
GouverneurAndrew Cuomoan,Trump
und dessenressentimentgeladene Asyl-
politik seien hier nicht willkommen.
Einmal mehr ist es die städtische Ge-
meinde,die nun ihr«NewYork hates
you!» skandiert. Doch dieKollision
zwischen Gegnern und Unterstützern
des Präsidenten bleibt aus. Und obwohl
TrumpsPolitik unterVeteranen im All-
gemeinen mehr Zuspruch findet als bei
anderen Bevölkerungsschichten,schlägt
ihm bei Lobpreisungen wie «die tapfers-
ten , zähesten, stärksten und tugendhaf-
testen Kämpfer, die je die Erde betra-
ten» nur ma tterApplaus entgegen.Auch
draussen auf der Strasse ist die Atmo-
sphäre mau; dieFronten verhalten sich
zueinander wie ein erschöpft-enttäusch-
tes Paar, dessen Gefühle zerronnen und
nichtig geworden sind.

Vor Ort sah man’sanders


Das scheint die Anführerin der Gruppe
«Rise andResist» , die die Proteste gegen
Trump stadtweit anführt,nicht zu stören.
«He, Leute», ruft sie in Richtung der
anderen,«die ‹NewYorkTimes› twittert
gerade:‹Laute Proteste auf 5thAvenue›.
Das sind wir!»Angesichts der Lustlosig-
keit der sich bereits auflösenden Menge
fragt man sich, woher die Zeitung ihre
Informationen nimmt und wo mediale
Einseitigkeit anfängt und aufhört.
Die Marines stellen sich inPosition,
die Parade beginnt. Der einzige leiden-
schaftlicheWutausbruch kommt von
einer weiblichenPerson mit männlicher
Stimme, die dieTrommelnrasch ver-
schlucken: «Ich bin schwarzeTransfrau
und habe diesemLand gedient.Ich liebe
diesesLand!» Sie trägt eine Plakette mit
der Aufschrift«Vietnam-Veteran».
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