Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

6 INTERNATIONAL Mittwoch, 13. November 2019


Die Linke verliert ihre prägnanteste Figur


Sahra Wagenknecht po larisierte die Partei, aber sie war auch eine feste Marke


ANJASTEHLE, BERLIN


Es gehört zu den Gemeinheiten im
politischen Betrieb, dass am Ende einer
Karriere das Scheinwerferlicht auf die
Fehltritte am hellstenstrahlt. Bei Sahra
Wagenknecht waren das aus Sicht ihrer
Parteikollegen vor allem ihreAussagen
zur Flüchtlingspolitik:«Offene Grenzen
für alle – das ist weltfremd», war so ein
Satz, der die Entfremdung zwischen
Wagenknecht und der Linken voran-
trieb. Nicht wenige in derPartei dürf-
ten daher froh sein, dassWagenknecht
heute denFraktionsvorsitz abgibt. Gut
möglich, dass sie dabei dieWichtigkeit
ihrereinprägsamstenFigur für dieAus-
senwirkung derPartei unterschätzen.
Wagenknechthat bereits Anfang des
Jahres angekündigt, nicht mehr für das
Spitzenamt zu kandidieren. Es war ein
Schlussstrich nach längerer Krankheit.
Wagenknecht hatte ein Burnout, und


es ist ein offenes Geheimnis, dass dies
auch viel mit der Unruhe innerhalb
der Partei zu tun hatte.Vier Jahre lang
hat Wagenknecht denJob gemacht,
gemeinsam mit demRealo Dietmar
Bartsch. Bei dem Spitzenamtkommt es
aufs Netzwerken an und darauf, Leute
zusammenzuhalten.

Dauerstreit mit denPart eichefs


Ein Amt, das dem Naturell der Ein-
zelkämpferinWagenknecht nicht ent-
sprach. Sie nutzte ihre rhetorische Bril-
lanz fürThemen, die selbst vielen Lin-
ken zu links waren. Oft war sie es, die
polarisierte, als sie eigentlich Brücken
bauen sollte. «Ich weiss, was ich kann
und was nicht»,sagt Wagenknecht nun
rückblickend der Nachrichtenagen-
tur DPA. «Ich war irgendwann aufge-
rieben von den ständigeninternen An-
griffen und musste einsehen, dass ich

ohne dieseFunktion und den ständigen
Druck politisch wahrscheinlich mehr
bewegen kann.»
Angriffe aus den eigenenReihen
kamen in den vergangenen Jahren
vor allem wegen ihrer Haltung in der
Migrationspolitik und ihresVerständ-
nisses für nationalistische Strömun-
gen. Schon 2015 sagteWagenknecht,
man müsse mit derrechten Bewegung
Pegida reden. Später irritierte ihrVer-
ständnis fürAfD-Wähler, die nicht «alle
Rassisten oder gar Nazis» seien. Mit
Bezug auf Flüchtlinge sprach sie von
«Kapazitätsgrenzen», nannte das Asyl-
ein «Gastrecht».Vielen in derPartei
klang ihrVorhaben, angesichts der zu-
nehmenden Migration nicht die Interes-
sen der Deutschen zu vergessen, zu sehr
nachAfD als nach der Linken.
Zuletzt stellteWagenknecht die Dia-
gnose, die Partei habe sich von den Pro-
blemen ihrer eigentlichen Klientel ent-

fernt. «Viele verbinden mit demLabel
links heute eher grünliberale Lifestyle-
Themen als den Kampf gegen wach-
sende Ungleichheit und für mehr soziale
Gerechtigkeit.»Das sei ein grosses Pro-
blem und stosse viele Leute ab, sagte sie.
Mit derlei Sätzen brachteWagenknecht
die beidenParteichefs der Linken,Katja
Kipping und Bernd Riexinger, regel-
mässig gegen sich auf. Mit ihrenThe-
men drang sie kaum noch durch. Und
auch für ihre linke Sammlungsbewegung
«Aufstehen» fand sie innerhalb derPar-
tei kaum Unterstützer.
Vielleicht istWagenknechtsRück-
zug daherauch ein strategischer Schritt


  • um zu einem späterenZeitpunkt wie-
    der zurückzukehren. Sie wünscht sich
    nun mehr Zeit fürs Bücherschreiben,
    aber sie bleibt Abgeordnete im Bun-
    destag und kann sich auch vorstel-
    len, nach dieser Legislaturperiode wie-
    der für den Bundestag zu kandidieren.
    Viele Partei- undFraktionsmitglieder
    hätten sie ausdrücklich gebeten, weiter
    öffentlichaufzutreten.


MohamedAli ist neue Co-Chefin


Die Fraktion imParlament wählte am
Dienstag als Nachfolgerin vonWagen-
knecht Amira MohamedAli zur neuen
Co-Chefin. DieRechtsanwältin Moha-
med Ali,deren Vater aus Ägypten
stammt,sitzt erst seit 2017 für die Linke
im Bundestag und wirddem linken Flü-
gel derPartei zugerechnet, zu dem auch
Wagenknecht gehört. Öffentlich grösser
in Erscheinung getreten ist sie bisher
nicht. Als Co-Vorsitzender und männ-
lichesPendant wurde der bisherige
Fraktionschef DietmarBartsch bestä-
tig t. Er gilt als Begründer des Bünd-
nisses aus «Reformern» und den von
Wagenknechtangeführten Linksnatio-
nalisten.Das Machtbündnis ist im Mit-
telblock derFraktion, zu dem diePar-
teivorsitzende Katja Kipping gehört,zu-
nehmend umstritten.
Noch schwebt die Linke auf dem
Hoch, das von BodoRamelows Sieg
in Thüringen ausging. Doch derkon-
servativeRamelow taugt nicht alsAus-
hängeschild der Linken.Wagenknechts
Rückzug macht die Linke um eine un-
bequemePerson leichter. Mag sein,dass
weni ger Streit Kräfte bindet. Aber mit
Wagenknecht verliert die Linke auch
ihr Gesicht.

Für SahraWagenknechthat sic hihre Partei von den Problemen ihrer eigentlichen Klientel entfernt. SEAN GALLUP / GETTY


Österreich rollt


Lukaschenko den


roten Teppich aus


Pompöser Em pfang in W ien für
den Herrscher von Weissrussland

IVO MIJNSSEN, WIEN

EineFrage hat es gebraucht, um die
Harmonie im prächtigen Spiegelsaal der
Wiener Hofburg zu stören. EinJourna-
list wagte es,Weissrussland als autoritär
geführtesLand zu bezeichnen,undAlex-
ander Lukaschenko plat zte der Kragen.
«Ihre Frage hat nichts mit derRealität
zu tun»,donnerte der Präsident. Sein
Land setze auf Souveränität und Unab-
hängigkeit, da es die Europäer ausge-
sperrt hätten. Probleme mit den Men-
schenrechten gebe eskeine, jederkönne
arbeiten und sich aufStaatskosten bil-
den, anders als in manchenLändern der
EU.Auch das Internet sei frei.
Österreichs Präsident AlexanderVan
der Bellen wirkte während derTirade
zwar etwas peinlich berührt. Er sah sich
aber einzig dazu bewegt, klarzustellen,
man dürfe sich im Umgang mit wenig be-
kanntenLändern nicht vonVorurteilen
leiten lassen. In Weissrussland gebe es
«Leute, die etwas von Demokratie und
Brückenbauen» verstünden,meinte er in
Bezug auf dieRolle, die Minsk alsVer-
mittlerimUkraine-Konflikt spielt. Leise
Kritik übte er nur an derTodesstrafe und
regte höflich ein Moratorium an.

HohersymbolischerWert


Diese Leisetreterei steht in krassem
Kontrast zumPomp, mit dem das offi-
zielleWien Lukaschenko empfängt. Es
ist zwar nicht Lukaschenkos erster Be-
suchinEuropa–2009und2016 warerim
Vatikan und in Italien zu Arbeitstreffen.
Doch es ist der erste offizielle Empfang
auf so hoher protokollarischer Ebene in
einem EU-Landinder 25-jährigen Prä-

sidentschaft Lukaschenkos. Sein symbo-
lischerWert ist hoch:Aus der Entourage
des Langzeitherrschers ist klar zu hören,
dass man Österreich alsTüröf fner für
wichtigere europäischeLänder sieht.
Das Interesse an besseren Beziehun-
gen zu Minsk ist in Europa durchaus
vorhanden.Weissrusslandpositionierte
sich nach der Krim-Annexion geschickt
als neutraler Ort fürVerhandlungen.
Die EU hob 2015 die meisten der teil-
weise seit 2004 bestehenden Sanktionen
auf, nachdem dieWeissrussen politische
Gefangene freigelassen hatten. Seither
werden Demonstrierendevon derPoli-
zei auch nicht mehr zusammengeknüp-
pelt, und die Zivilgesellschaft erhielt ei-
nige begrenzteFreiräume.
Doch von demokratischen oder plu-
ralistischenVerhältnissen kannkeine
Rede sein. Lukaschenko führtPolitik
und Wirtschaft mit harter Hand. Öster-
reich schätzt er als zweitgrössten auslän-
dischen Direktinvestor – und alsLand,
das sich in seinerAussenpolitik von an
Opportunismus grenzendem Pragmatis-
mus leiten lässt.

Alternativenzu Russland


Dies passt Minsk auch deshalb, weil es
politisch und wirtschaftlich völlig von
Wladimir Putin abhängig ist. Luka-
schenko braucht Alternativen, und der
Zeitpunkt, diese zu suchen, ist nach sei-
ner erfolgreichenVermittlertätigkeit in
der Ukrainerelativ günstig.
Klar wurde inWien aber auch, dass
er die Gunst der Stundeausschliesslich
für wirtschaftliche Ziele nutzen will;
von politischenReformen war nicht
die Rede.Die Europäer sollten inves-
tieren in seinem «ruhigen und sicheren
Land», so lautete die Hauptbotschaft,
und Van der Bellen verglich diese Sta-
bilität gleich noch mit dem Chaos in der
Ukraine. Inmitten dieser Minne ging
glatt vergessen, dass es gerade die Un-
vorhersehbarkeit der Entwicklungen ist,
die eine Demokratie von einer Diktatur
unterscheidet.

Opportunismus
ist keine Strategie
Kommentar auf Seite 11

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