Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Donnerstag, 31. Oktober 2019


Krimin alisierte


Vergangenheit


Historiker sind keine Richter. Doch Politik und


Öffentlichkeit verlangen von der Geschichtswissenschaft


immer häufiger eindeutige Urteile über früheres


Unrecht.Von Marc Tribelhorn


Wie nähert sich ein guter Historiker der Vergangen-
heit?KaumjemandhatdieseFrageeleganterbeant-
wor tet als Marc Bloch in seiner «Apologie der Ge-
schichtswissenschaft»von1941:«DerLeitsternunse-
rer Forschung ist ein einzigesWort – verstehen.»
Und dringendräterdavon ab,«sich wie ein rich-
tenderErzengelzugebärden».DochBlochsDi ktum
ist inVergessenheit geraten. Seit geraumer Zeit be-
ansprucht der Staat bei der moralischen undrecht-
lichen Beurteilung derVergangenheit zunehmend
die Dienste der Geschichtswissenschaft. Historike-
rinnen und Historiker sind gefragt für Expertisen
der Geschichtspolitik oder beiReparationen – und
zwarmitklarenPositionsbezügen.EinaktuellesBei-
spielistderSchlussberichtderunabhängigenExper-
tenkommission zu denadministrativenVersorgun-
gen in der Schweiz.In jahrelanger Arbeit wurde im
Auftrag des Bundes erforscht, wie hierzulande bis
1981 mindestens 60000 Menschen Opfer von «für-
sorgerischen» Zwangsmassnahmen undFremdplat-
zierungen geworden waren. Die Betroffenen waren
in Anstalten präventiv und willkürlich eingesperrt,
ausgebeutet und misshandelt worden – ein aus heu-
tiger Sicht himmelschreiendes Unrecht, auch wenn
die Versorgungen nach damaligem Massstab nicht
widerrechtlich waren.
Dass dieses schändliche Kapitel nun akribisch
historisch aufgearbeitet und eine Wiedergut-
machung beschlossen wurde, ist von grosser Be-
deutung. Fragwürdig erscheint nur, dass die von den
Behörden eingesetzte Expertenkommission auch
gleich noch zweiDutzend «Empfehlungen» zuhan-
den des Bundesrats formuliert hat, etwa Steuer-
erlasse, Zusatzrenten und Gratis-SBB-GA für Be-
troffene. Solches kann schwerlichAufgabe derWis-
senschaft sein, sondern gehört insFeld derPolitik.
Tatsächlich aber passt dieseVermischung der
Aufgabenfelder von Historikern,Politikern und
Juristen zum Zeitgeist.Raphael Gross, der heutige
Direktor des Deutschen Historischen Museums in
Berlin,sprach schon Ende der1990er Jahre pointiert
von einer «Geschichtsbarkeit», die sich in vielen
Staaten etabliert habe.Gemeint ist damiteine zu-
vor nicht gekannteVerrechtlichungder Vergangen-
heit,die sich in derVerknüpfung von geschichtswis-
senschaftlichen Erkenntnissen mit politischer Moral
und gesetzlichen Sanktionsmitteln manifestiert.Die
Historie ist zusehendsVerhandlungsgegenstand in
Parlamenten und Gerichtssälen.Per Gesetz werden
beispielsweise «Historiker- undWahrheitskommis-
sionen» zurAufarbeitung der Geschichte eingesetzt,
bestimmte Deutungen derVergangenheit in Straf-
normen festgeschrieben, und einstige Opfer staat-
licher Handlungen werden von den Behördenreha-
bilitiertoder entschädigt–alles mit dem Zweck,so
etwas wie «historische Gerechtigkeit» zu schaffen.


Wo sind die Opfer?


DieseFormen der«Vergangenheitsbewältigung»
lassen sich weltweit beobachten und sind längst
Teil der demokratischenKultur geworden. Insbe-
sondere seit dem Ende des Kalten Kriegs wird der
«lange Schatten derVergangenheit» (Aleida Ass-
mann) erforscht,zunächst vor allem die Hitler-Zeit
und der Holocaust, mittlerweileaber auch jünge-
res oder viel weiter zurückliegendes Unrecht. Die
Implosion deskommunistischen Ostblocks hat zu
einer grundsätzlichen Neubewertung der Dikta-


tu ren des 20.Jahrhunderts geführt, zur Klärung
drängenderFragennach Schuld undWiedergut-
machung, zu einemAufbrechen vieler Nachkriegs-
mythen. DerFokus auf dasVerdrä ngte,Vergessene
und Vertuschte ist zweifellos eine gesellschaftliche
Errungenschaft:Der neue Umgang mit Geschichte
holt die Opfer, die Diskriminierten und Entrech-
teten zurück inskollektive Gedächtnis, gibt ihnen
eine Stimme, versuchtVersöhnung und warnt vor
Selbstgerechtigkeit. UnserWissen um dieVerbre-
chen während des ZweitenWeltkriegs zum Bei-
spiel hat sich in den letztenJahrzehnten nicht zu-
letzt deshalb massiv erweitert.
Im Fall der Schweiz hat besonders die soge-
nannte Bergier-Kommission fürAufsehen und hef-
tige erinnerungspolitische Debatten gesorgt. Auf-
grund ausländischen Drucks vom Bundesrat
eingesetzt, mit Steuergeldern alimentiert und mit
einemprivilegierten Akteneinsichtsrechtausge-
stattet, erforschtedie unabhängige Expertenkom-
mission die wirtschaftlichenVerstrickungen der
Schweiz mit Nazideutschland, das Schicksal jüdi-
scherVermögenswerte sowie die damalige Flücht-
lingspolitik. Einiges, was damals an Erkenntnissen
ausdenArchivengeschöpftwurde,maginFachkrei-
sen z war schon bekannt gewesen sein.Das in der
Bevölkerung herrschende Selbstbild einer Schweiz
derSaubermänner gerietindesgehöriginsWanken.
Die Einsetzung solcher historischer Experten-
kommissionen ist international inzwischen zum
politischen Standard geworden, wenn es darum
geht, sich mit brisanten, öffentlich skandalisierten
Themen der eigenenVergangenheit auseinander-
zusetzen. Die Liste der «Aufarbeitungen» ist lang
und vielfältig: derFaschismus in Italien, Österreich
oder Liechtenstein, die unrühmliche Geschichte
des deutschenAuswärtigenAmtes, die Rolle Frank-
reichs während des Genozids in Rwanda, die Dikta-
turen in der DDR und in denTransformationsstaa-
ten in Ost- und Ostmitteleuropa oder die Militär-
junten inLateinamerika. In der Schweiz wurden in
den letztenJahren neben bereits Genanntem auch
das Hilfswerk für die Kinder derLandstrasse so-
wie die Beziehungen der Eidgenossenschaft zum
südafrikanischen Apartheidregime untersucht.
Keine Mehrheit in der Bundesversammlungfand
hingegen dieDurchführung von Studien über das
Verhältnis der Schweiz zur DDR oder über die
Verstrickungen in die Sklaverei. Dieser Boom von
staatlich beauftragtenForschern zur«Wahrheitsfin-
dung» ist trotz einigen früherenVorläufern erstaun-
lich,wird jedoch kaum mehr hinterfragt.Auch nicht
von Historikerinnen und Historikern,die an gesell-
schaf tlicher Deutungsmacht gewinnen, wenn ihre
Expertisen zumKompass für politischeWiedergut-
machungen oder eine richterliche Urteilsfindung
werden.Dabei stellen sich ungeachtet der Qualität
der zutagegeförderten wissenschaftlichen Erkennt-
nisse einige grundlegende Probleme.
Die Zeiten, als Historiker sich eifrig und obrig-
keitlich gefördert an der geistigenFundierung der
Nationalstaaten beteiligten, sind imWesten längst
passé. Zumindest für den liberalenRechtsstaat gilt,
dass er nicht für historischeWahrheiten zuständig
ist, sondern unterschiedliche Erinnerungskulturen
dulden sollte. Kurz: Offene Gesellschaften bedür-
fen keiner offiziellen Geschichte. In der Öffentlich-
keit drängt sich aber der Eindruck auf,dass Histori-
kerkommissionen letztlich die eine zulässige Deu-
tung derVergangenheit definieren. Die Gefahr ist

beträchtlich, dass «mit dem Abschlussbericht das
Zertifikat einer Überprüfungsteht , wie wir es von
technischenKontrollenkennen», gab der kürzlich
verstorbene Hamburger Geschichtsprofessor Axel
Schildt einmal zu bedenken.DieArbeit einerKom-
missionkönne jedoch immer nur den Anfang be-
deuten.Das bestreiten auch die involviertenFor-
scherinnen undForscher nicht, die sich vehement
gegen mediale Etikettierungen wie«Wahrheits-
kommission» wehren. Historiker sindkeine Hüter
der «Staatswahrheit», sondern ihreAufgabe besteht
in der plausiblenRekonstruktion derVergangen-
heit, dem Sichtbarmachen von Zusammenhängen,
demVerstehen.Ihre wissenschaftlichen Deutungen
sind multiperspektiv und nie abgeschlossen. Des-
halb sollten auch die Erwartungen an sie nüchter-
ner formuliert werden.

Der Preis derWissenschaft


Gerade diePolitik erwartet indes mehr als dieDar-
stellung verschiedener plausibler Deutungen,wenn
sie Millionen an Steuergeldern ausgibt – nämlich
einehistorischeErzählungmiterhöhtemWahrheits-
anspruch und Ergebnisse mit langer Halbwertszeit.
Dadurch wird den Historikerkommissionen unwei-
gerlich eine ArtTribunalcharakter zugeschrieben.
Der Vergleich von Historikern mit Richtern findet
sich bekanntlich auch inRedewendungen wie «Die
Geschichte wird einst über uns richten». Doch die
Geschichtswissenschaft istkeine Richterin, auch
wenn dieVergangenheit zusehends justiziabelwird.
BinärejuristischeBegriffspaarewieSchuldundUn-
schuld,RechtoderUnrechtwerdenderhistorischen
Forschung nicht gerecht und gehören in den Ge-
richtssaal: Richter entscheiden nach klar geregel-
tenVerfahren,festgeschriebenen gesetzlichenNor-
men und definitiv. Eine Geschichte als Gericht sei
nurumdenPreisderWissenschaftlichkeitzuhaben,
konstatiert dennauch der Historiker JakobTanner,
der Mitglied der Bergier-Kommission war. Die Ge-
schichtewirddadurchkeineswegsindenElfenbein-
turmverbannt,sie soll werten,gewichten,urteilen –
aber eben nicht im politischenAuftrag verurteilen,
vor allem nicht mit einemgerade modischen Mass-
stab der Gegenwart.
Nur: Die Logik der behördlichenAuftraggeber
ist meist eine andere.Brechen gesellschaftlicheKon-
fliktewegen vergangenen Unrechts auf,verspricht
dieEinsetzungvonHistorikerkommissionenerstein-
mal Ruhe. Die Politik gewinnt Zeit und kann spä-
ter mitVerweis auf die wissenschaftlicheArbeitihre
«Aufarbeitung» vornehmen. Allfälliggesprochene
Wiedergutmachungen, Entschuldigungen oderRe-
habilitationen haben unbestritten einen wünschens-
werten heilsamen Effekt für die Opfer derVergan-
genheit und deren Angehörige. Das Problem der
«Geschichtsbarkeit» ist aber dieTendenz, dassPoli-
tik und Öffentlichkeit die Abschlussberichte der
Experten entgegennehmen und glauben,damit habe
die Sache ihr Bewenden.Diese Schlussstrichhaltung


  • früher gab es Unrecht, heute haben wir alles im
    Griff–verhindertschliesslich,wasdieGeschichtsfor-
    schungerst produktiv macht. Es sind dies die gesell-
    schaftlicheAuseinandersetzungmit derVergangen-
    heit und der Gegenwart, das Nachdenken über ver-
    meintliche Selbstverständlichkeiten sowie dieFrage:
    Welche Handlungen könnten uns nachfolgende
    Generationen dereinst zumVorwurf machen?


Die Aufgabe der Historiker


besteht in der plausiblen


Rekonstruktion


der Vergangenheit,


dem Sichtbarmachen


von Zusammenhängen,


dem Verstehen.

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