Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Wer Gartenabfälle zur Unzeit verbrennt,


muss mit einer saftigen Busse rechnen SEITE 18


Der Fondueplausc h am Grossmünster


stinkt den Anwohnern gewaltig SEITE 19


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Der Prozess gegen «Carlos»

offenbart die Hilflosigkeit aller Beteiligten

Weder eine So ndereinheit der Polizei noch der Richter können den jungen Straftäter ans Gericht brin gen


Die Medien gaben ihm den


Namen «Carlos».Am Mittwoch


wurde ihm erneut der Prozess


gemacht. Doch der 24-Jährige


weigerte sich, die Zelle zu


verlassen.Dabei ging es um


nichts weniger als dieFrage:


Verwahrung oderFreiheit?


FLORIAN SCHOOP, FABIANBAUMGARTNER


Es ist 8 Uhr vor dem Bezirksgericht
Zürich.Dass hier etwasAussergewöhn-
liches vorgehen muss, wird schnell klar.
Im Nieselregen huschenFotografen und
Kameraleute ums Gebäude, und imVor-
raum drängen sich immer mehr Men-
schen. Sie alle sind wegen ihm da. «Car-
los», dem wohl bekanntesten Straftäter
der Schweiz. An diesem Dienstag muss
er sich für 29 Delikte verantworten –
alle begangen hinter Gittern.
Zu denleichteren ihm vorgewor-
fenen Delikten gehört, dass er in der
Justizvollzugsanstalt Pöschwies Auf-
seher regelmässig als «Hurensöhne»,
«Schwuchteln» oder «Schlappschwänze»
bezeichnet und ihnen mit demTod ge-
droht haben soll. Zudem demolierte er
laut Anklage mehrfach seine Zelle. Der
schwersteVorfall aber ereignete sich in
einem Gesprächszimmer derJustizvoll-
zugsanstalt. «Carlos» soll dort auf einen
Gefängnisaufseher eingeprügelt haben.
Der Staatsanwalt wirft ihm deshalb
nebst Sachbeschädigungen, Drohungen
und Beschimpfungen auch versuchte
schwereKörperverletzung vor. Er for-
dert eineFreiheitsstrafe von7, 5 Jahren
sowie dieAnordnungeinerVerwahrung.
Es gebekeine andere Lösung,begründet
er den Antrag. Sonst gefährde man die
Bevölkerung.
«Carlos», der skrupellose Extrem-
straftäter? Oder «Carlos», das tragische
Opfer einer brutalenJustiz? Die Mei-
nungen in der Öffentlichkeit gehen weit
auseinander. Zugleichist das Interesse
am jungen Mann ungebrochen – auch an
der neustenVerhandlung. Der Haupt-
saal ist übervoll. Es wird immer enger.
Und die Luft immer dünner. Doch von
«Carlos»keine Spur. Der Beginn des
Prozesses verschiebt sich.«Probleme bei
der Zuführung», erklärt eine Medien-
verantwortliche dieVerspätung.


Empfang miterhobenen Fäusten


Am Ende beginnt dieVerhandlung ohne
ihn. Die Begründung des Gerichtsvor-
sitzenden MarcGmünder offenbart da-
bei die Hilflosigkeit aller Beteiligten im
Fall «Carlos».Am frühen Morgen sei die
Sondereinsatzgruppe Diamant der Kan-
tonspolizei Zürich damit beauftragt wor-
den, den jungen Mann vom Gefängnis
zum Zürcher Bezirksgericht zu bringen.
Dieser aber empfing die Einsatzkräfte
mit lauter Musik, erhobenenFäusten
und in Kampfposition.Die Einsatzkräfte
hätten 30 Minuten gebraucht, um ihn zu
beruhigen, erklärt Gmünder. Dennoch
weigerte sich «Carlos», mitzukommen.
Darauf fuhr der Richter selbst in
die Pöschwies, trat in die Zelle und ver-
suchte seinerseits, «Carlos» von einem
Erscheinen vor Gericht zu überzeugen.
«Wir haben ihm gesagt, dass eskeine
gute Idee ist, nicht mitzukommen.» Der
Häftling soll seineSicht der Dinge dar-
legen, sich erklären. Ihn aber gegen sei-
nen Willen aus der Zelle zu holen, sei
nicht verhältnismässig gewesen.«Wir
wollten ihn ans Gericht bringen, aber
nicht ans Gericht prügeln.» Der junge
Mann sei zwar ruhig geblieben, habe
aber seinen Standpunkt klargemacht.


Dann habe er sich hingelegt und sei
nicht mehr ansprechbar gewesen.
Erfolglosreiste der Richter zurück
nach Zürich und tat etwas, was er eigent-
lich nicht tun wollte. Er hiess ein Dis-
pensationsgesuch gut, welches derVer-
teidiger von «Carlos» bereits vor der
Verhandlung eingereicht hatte. Der
psychische Zustand seines Mandanten
habe sich mehr und mehr verschlechtert,
schrieb AnwaltThomas Häusermann
in seinem Antrag. Der 24-Jährige habe
Panik vor dem Medienansturm,es sei
mit erbittertemWiderstand zurechnen.
Auch ein psychiatrischer Gutachter,
der imAuftrag der Staatsanwaltschaft
eine Einschätzung zum psychischen
Zustand des Beschuldigten abgeben
sollt e, war wenig erfolgreich. «Car-
los» weigerte sich, mit ihm zu sprechen.
Der Basler Forensiker Henning Hach-
tel diagnostizierteschli esslich in einem
auf Akten basierenden Gutachten eine
«dissozialePersönlichkeitsstörung mit
ausgeprägten psychopathischenWesens-
zügen und einer Intelligenz im unteren
Normbereich» beim jungen Mann.
Zudem heisst es im 98-seitigen Be-
richt, dass ein deutlich erhöhtes Risiko
für erneute Gewaltstraftaten bestehe.
In Zahlen sieht die äusserst ungünstige
Prognose so aus: DieWahrscheinlich-
keit, dass der Beschuldigte in den nächs-
tenfünfJahren wieder zuschlägt, liegt
laut Hachtel bei76 Prozent. Und in den
nächsten zwölfJahren gar bei 87 Prozent.
Die Befragung von Hachtel durch
Richter Gmünder hat eheretwas von
einemAustausch unterTherapeuten als
von einer Unterredung vor Gericht.
Richter Gmünder: «Carlos» hat
eigentlich drei einfacheAufgaben: nicht
schlagen, nicht drohen und tun, was das
Personal sagt.Warum schafft er das nicht?
Gutachter Hachtel:Es ist das Ergeb-
nis einerlangen Entwicklung.Erhat ge-
lernt, mit Gewalt ans Ziel zukommen.
Und er hat das Selbstbild eines Bosses.
Wenn er aber mit derRealität inKontakt
kommt, gerät sein Selbstbild in Gefahr.
Er hat eine geringe Frustrationstoleranz,
ein übersteigertes narzisstisches An-
spruchsdenken und weist ausgeprägte
psychopathischeWesenszüge auf.

Gmünder:2018 schrieb der Beschul-
digte einen Brief an den Staatsanwalt.
Darin steht: «Staatsanwalt du Huren-
sohn, ich piss deiner toten Mutter aufs
Grab. Ich bin der Beste, der, der euch
immer fickt. Eure Gefängnisse machen
mir nichts. Ich bin ein Killer, ein Hit-
man, ihr machtlosen Schwänzekönnt
mir nichts. Ich bin gefährlich und böse.
Ich werde euch besiegen.Story of a bad
man,der Schönste, der Stärkste!»Wie ist
das einzuschätzen?
Hachtel:Es zeigt ein Grandiositäts-
denken und eine krankhafte Über-
höhung des Beschuldigten.Er scheint
sehr im Moment verhaftet zu sein.Lang
vorgeplanteTaten entsprechen nicht sei-
nem Wesen.
Gmünder:Wie könnte man diese
Wut anders kanalisieren?
Hachtel:Den Beschuldigtenkann
man nicht auf hohemkognitivem Niveau
abholen. Man muss basalkommunizie-
ren. Gut wäre, wenn man ihm Erfolgs-
erlebnisse gebenkönnte, wenn er zum
Beispiel etwas Einfaches auf die Beine
stellenkönnte und dann sieht, dass er
das alleine hingekriegt hat.
Gmünder:Wäre eine solcheTherapie
durchführbar?
Hachtel:Es ist schwierig, aber mög-
lich. Im jetzigen Zustand aber wäre sie
nicht durchführbar. Es gibtkein Umfeld
für ein vertrauensvolles Setting.
Gmünder:Und wenn eskeine The-
rapie gibt?
Hachtel:Dann wird der Kampf gegen
Wände und Gitter weitergehen bis zur
finalen Erschöpfung, also bis er stirbt.

Den «Krieg»erklärt


In seinem Plädoyer schlägt Staatsanwalt
Ulri ch Krättli andereTöne an. Er hält
fest,dass «Carlos»kein Opfer und schon
gar kein Märtyrer sei. «Er ist Täter.» In
seinenAusführungenkonzentriert er
sich auf den 28.Juni 2017,als es in der
Pöschwies zu einer verhängnisvollen Be-
gegnungkommt.
In einem Gesprächszimmer wird
«Carlos» mitgeteilt,dass er in die Sicher-
heitsabteilung verlegt werde. Der junge
Mann drohte, das könne manschon ma-

chen, doch er werde jedes Mal, wenn
man seine Zellentüre öffne,Aufseher
anspringen und kaputtschlagen. Als
ihm ein Gefängnismitarbeiter sagte, die
Massnahme sei nicht verhandelbar, soll
«Carlos» geantwortet haben: «Jetzt er-
kläre ich euch den Krieg.»
Ein zweiterAufseher,der ebenfalls
im Raum ist, betätigt den Alarmknopf,
nachdem der Beschuldigte einen Stuhl
durch denRaum geworfen hat. Zur sel-
ben Zeit schlägt er dem Mann laut Staats-
anwalt Krättli mit derFaust zwei Mal ins
Gesicht. Sein Opfer fällt zu Boden.Dar-
aufhin habe «Carlos» «wie eineFurie»
auf den Aufseher eingeprügelt. Erst die
alarmierten Mitarbeiter hätten ihn von
seinem Opfer trennenkönnen.
Für den Staatsanwalt ist klar: «Car-
los» als «ausgebildeter und extrem kräf-
tiger Kampfsportler» hätte denAufseher
lebensgefährlich oder gar tödlich verlet-
zen können. DerTatbestand der versuch-
ten schwerenKörperverletzung sei erfüllt.

Dass es nicht so weit kam, sei einzig den
«eintausend Schutzengeln» des Gefäng-
nismitarbeiters zu verdanken.
Für Krättli gibt es darum nur noch
einenWeg: dieVerwahrung.Natürlich
sei es krass, wenn ein 24-Jähriger auf
unbestimmte Zeit weggesperrt würde.
«Aber es gibtkeine andere Lösung»


  • wobei Lösung das falscheWort sei.
    Denn das Problem sei damit nicht gelöst.
    «Aber zwischen dem Beschuldigten und
    den Interessen der Bevölkerung ist die
    öffentliche Sicherheit klar vorzuziehen.»


«Maximale Repression»


Ganz anders sieht diesVerteidigerTho-
mas Häusermann.Das St rafmasssei
viel zu hoch, erklärte er in seinem Plä-
doyer. Eine Freiheitsstrafe von maxi-
mal einemJahr für einige der begange-
nen Sachbeschädigungen, Drohungen
und Beschimpfungen sei angezeigt –
was die sofortigeFreilassung von «Car-
los» bedeuten würde. Und eineVerwah-
rungkommt laut Häusermann nur dann
infrage, wenn es um schwere Taten wie
Mord, schwereKörperverletzung oder
ähnliche Delikte gehe.Dies sei hier aber
überhaupt nicht gegeben.Vielmehr zieht
derAnwalt dieDarstellungen des Staats-
anwaltsin Zweifel – insbesondere, was
denVorfall im Gesprächszimmer betrifft.
Die Haftsituation bezeichnet er als
«höchst unfair».Man verweigere «Car-
los» Spaziergänge, bringe ihm unpassende
Kleider und serviere ihm Schweinefleisch,
obwohl er Muslim sei.Dass sein Mandant
da aufbegehre, sei verständlich.«Jed es
Tier wehrt sich, wenn man so mit ihm
umgeht.» Mankönne deshalb nicht von
einem schützendenJustizapparatreden.
Im Gegenteil: «DieVorfälle sind ein tra-
gisches Beispiel für maximaleRepression
durch dieJustiz.»Das System der abso-
luten Härte habe versagt, denn: «Je mehr
Repression es gibt, desto stärker ist die
Gegenwehr meines Mandanten.»
Am Ende derVerhandlung hält Häu-
sermann fest: «Für eineVerwahrung
muss dasVerhalten in derFreiheit be-
urteilt werden und nicht jenes in einer
Arrestzelle.» Man müsse die Spirale
der Gewalt endlich durchbrechen.Aber
wie? EineFreilassung sei nicht nur an-
gemessen, sondernkönne auch verant-
wortet werden. «Carlos» ertragekeine
weitereRepression mehr.
Das Urteil wird am nächsten Mitt-
woch gesprochen.

Staatsanwalt UlrichKrättli bei seinemPlädoyer.«Carlos» selbst bleibt derVerhandlung fern. ZEICHNUNG LINDA GAEDEL

gegründet 1888

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Montag, 4. November 2019


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