Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 27


Das grösste Hochhausprojekt

von Tokio nimmt Gestalt an

Statt stundenlang zu pendeln, sol len die Tokiot er näher an ihren Arbeitsplätz en wohnen


DieJapaner haben eine


Hassliebe gegenüber


Wohnhochhäusern. Zwar


regt sich inzwischenWiderstand,


aber der Boom von «tower


mansions» geht weiter.


MARTINKÖLLING,TOKIO


Shingo Tsuji liegt buchstäblichJapans
HauptstadtTokio zuFüssen. Der Chef
des Immobilienentwicklers Mori Buil-
ding steht auf einer Empore in einer
riesigen Halle des «UrbanLab» seines
Unternehmens, unter ihm eine mass-
stabgetreue Nachbildung vonTokios
Zentrum aus Styropor.Im Norden
der Metropoleragt ein Modell des 630
Meter hohenTokyo Skytree empor; 20
Kilometer – oder, um im Massstab des
Stadtmodells zu bleiben, 20 Meter –
weiter südlich liegen die Hochhäuser
des Geschäftsbezirks Shinagawa.Da-
zwischen stehen, liebevoll nachgebil-
det,Tausende von Gebäuden, vonWol-
kenkratzern bis hin zuBaracken.Das
miniaturisierte Stadtbild vonTokio ist
fast auf dem neuesten Stand.


Ein Denkmal für Minoru Mori


Täglich streifen Mitarbeiter von Mori
Building durch die Stadt und suchen
nach neuen Gebäuden. Diese werden
dann fotografiert, die Bilder ausge-
druckt und auf neue Nachbauten ge-
klebt, die alle sechs Monate ins Modell
eingefügt werden. Nur an einem Ort ist
MorisTokio demrealenVorbild be-
reits umJahre voraus: Mitten im Stadt-
teil Azabu steht bereits etwas, was ein-
malJapans höchstes Hochhaus werden
soll:ein 330 Meter hoher Büro- und
Wohnturm.
DieserTurm istTeil desToranomon-
Azabu-Dai-Projektsvon Mori, das im
August begann und im März 2023 fer-
tiggestellt werdensoll.Dabei handle es
sich nicht um irgendein Projekt, ver-
deutlicht Tsuji. Es sei das grösste Stadt-
entwicklungsprojekt, das Mori Building
jerealisiert habe, sagt er. Und es ist
mehr als das: Es ist die bisherige pos-
tume Krönung der städteplanerischen
Vision des verstorbenenPatriarchen
Minoru Mori – dieradikaleVerwand-
lung japanischer Metropolen in Städte
mit Skyline.
Auf dem 8,1 Hektaren grossen Areal
bauen die Stadtentwickler neben dem
Hauptturm zwei über 200 Meter hohe
Wohnblöcke, inklusive Luxushotel und
in ternationaler Schule als Magnet für
den heimischen und globalenJetset.
An ihremFuss erstrecken sich flachere
Designergebäude, Grün- und Sportflä-
chen. Etwa 35 Mio. Besucher proJahr,
täglich mehr als 20 000 Angestellte so-
wie 3500 Einwohner, die schon früher
da waren, erwarten dieBauherren. Sie
alle sollen im geplantenKomplexwoh-
nen,arbeiten und einkaufen oder sich
amüsieren.
Architektonisch hatte sich Minoru
Mori so den Gegenentwurf zum alten
Tokio vorgestellt. Die Metropole mit
ihren verwinkelten Gassen,relativ fla-
cher Bebauung und weit entfernten
Schlafstädten in denAussenbezirken
war Mori zu chaotisch, zu anfällig für
Erdbeben und zu unkomfortabel. Er
wollte daher die grösste Megacity der
Welt nach den Ideen des schweizerisch-
französischen Architekten Le Corbu-
sier in eine «vertikale Gartenstadt» ver-
wandeln, die im globalenWettbewerb
der Megastädte Preise gewinnen kann.
ImJa hr 20 18 rangierteTokio im Glo-
bal-Power-City-Index der Mori-Stif-
tung bereits hinter London und New
York aufRang 3.
Statt stundenlang zu pendeln, woh-
nen dieTokioter in MorisVision näher
an ihren Arbeitsplätzen,umgebenvon
mehr Natur als bisher. ImJahr 1986
machte Mori mit Ark Hills die erste


Vision seinesTr aums wahr. Seitdem
hat sein Unternehmen weitere städte-
bauliche Akzente inTokiosLandschaft
gesetzt. 200 3 öffneteRoppongi Hills,
elfJahre späterToranomon Hills, bei
dem nun die neuenWohntürme fertig-
gestellt werden.

Viele drängen in die Megacity

Am meisten dürfte Mori allerdings
freuen, dass er mit seiner anfangs be-
lächeltenVision einen regelrechten
Boom ausgelöst hat. Zwischen 1990
und 20 18 schoss die Zahl von «tower
mansions», wie dieJapanerWohnhoch-
häuser mit mehr als 20 Stockwerken
nennen, von 42 auf 1371 hoch. Dies
besagt eine Statistik des Immobilien-
marktforschersTokyo Kantei. Laut der
Wirtschaftszeitung «Nikkei» wohnten
2015 rund eine halbe MillionTokioter
inWolkenkratzern – und2Mio. Men-
schen landesweit, doppelt so viele wie
zehnJahrezuvor.
Die heisse Phase desBaubooms ist
inzwischen wohl vorbei, doch noch ist
kein Ende desTurmbaus in Sicht. Die

Zahl der neuen Projekte ist lediglich
von 97 imRekordjahr 2007 auf 30 bis 50
Bauten proJahrgefallen.Koichiro Obu,
Head ofResearch vonDWS Japan, der
Vermögensverwaltung der Deutschen
Bank, sieht optimistisch in die Zu-
kunft. Er erwartet, dass sich die Ent-
wicklung der «tower mansions» weiter
fortsetzen wird.
Allein im GrossraumTokio, wo laut
Tokyo Kantei mehr als die Hälfte des
Bestands steht, hat man183 geplante
Projekte gezählt. EinTeil davon wird
sicherlich in den teuren zentralen Be-
zirken der Hauptstadt Häuser in den
verbliebenen kleinen Gassen ersetzen.
Städteplanerrechnen damit, dass die
Einwohnerschaft der zentralen Bezirke
der Stadt in denkommendenJahrzehn-

ten um1Mio. bis2Mio. Menschen
wachsen wird.
Ein Grund ist für Obu die weiterhin
hohe Nachfrage nach Hochhaus-Apart-
ments. Gerade für jüngereJapaner, die
mehrWert auf eine guteWork-Life-
Balance und eine Berufstätigkeit der
Frau legen als bisherige Generationen,
ist das Einfamilienhaus in denVororten
nicht mehr erstrebenswert. Zum einen
liegen dieWohntürme im Gegensatz zu
einem typischen Haus ohne Garten in
allerRegel in der Nähe vonBahnhöfen.
Zum anderen bieten sie bessereIsolie-
rung sowie mehrKomfort, Erdbeben-
schutz sowie Einkaufs- undFreizeit-
möglichkeiten. Mori gelingt es daher
immer wieder, Hunderte von Eigentü-
mern, deren Häuser undWohnungen
in der Projektzone liegen, zu überzeu-
gen, ihr erdnahes Eigentum gegen mo-
derne Apartments inluftigeren Höhen
zu tauschen.

Anziehende Preise

Aber auch die Immobilienentwickler
und grossenBauherren ziehen mit.Wer
aus historischen Gründen über ein an-
sehnliches StückLand in der Haupt-
stadt verfügt, will, so weit es nur geht,
den wertvollen Luftraum darüber mit
bebauen. Ein Beispiel dafür ist das
Hotel Okura, eines der besten japani-
schenHotels in der Hauptstadt.
ImAugust hat das Hotel die ers-
ten seiner neuen Gebäude für Gäste
geöffnet.Das Hauptgebäuderagt nun
41 statt zuvor 12 Stockwerke in den
Himmel. Doch anders als zuvor ist
das Hotel nicht mehr nur ein Hotel.
«Der neueTr end ist, Hotels mitWoh-
nungen, Büros und Einkaufsgelegen-
heiten zu verbinden», sagt der Ge-
schäftsführer derKette Okura Nikko
Hotel Management, MarcelvanAelst.
Er hat seine Karriere1970 beim Hotel
Okura in Amsterdam begonnen. Mehr
als die Hälfte der Flureim Hotelturm
sind für Bürosreserviert. Der noch be-
stehende Südflügel soll durchWohn-
türme ersetzt werden.Dass die Noten-
bank nach zweiJahrzehnten Nullzins-
politik inzwischensogar Negativzinsen
verhängt hat, heizt den Höhenrausch
derBauherren noch an.
InTokio treibt dieKombination
aus billigem Geld undRückzug der
Bevölkerung in die Zentren bereits
seit einigenJahren wieder die Preise.
Der Marktwert seinerWohnung im
Tokioter Stadtteil Shinjuku, die er vor

zehnJahren kaufte, habe sich verdop-
pelt, freut sich der Eigentümer einer
Wohnung in einem Wohnblock aus
den1980erJahren. Am Marktgilt das
Objekt bereits als Altbau.
Statistiken belegen das Gefühl. Der
Quadratmeterpreis neuer Hochhaus-
wohnungen nähert sich lautTokyo
Kantei selbst in Städten wie Osaka
und Nagoya wieder denWerten aus der
Aktien- und Immobilienblase an, die
1990 platzte undJapans Bodenpreise
für vieleJahrekollabieren liess.Auch
kommerzielle Immobilien profitieren
inzwischen, sogar ausserhalb des Gross-
raumsTokio. Das erste Mal seit dem
Platzen der Blase sehe man bemerkens-
werte Mietpreissteigerungen in Osaka
undFukuoka, merkt der Immobilien-
ex perte Obu an.

Kobe-Erdbeben alsWarnung

Inzwischen schrillen im Markt erste
Alarmglocken, und zwar nicht erst seit
dieBank ofJapan denTr end immer
kritischer beobachtet.Auf ihrer Karte
zur geldpolitischen Überhitzung, wel-

che die Notenbank im Oktober alsTeil
ihres halbjährlichen Berichts über das
Finanzsystem veröffentlichte, lagen
zwar 13Faktoren im grünen Bereich.
Aber der Anteil der Immobilienkredite
an derWirtschaftsleistung leuchtet seit
vorigemJahr das erste Mal seit den
Exzessen Ende der achtzigerJa hre wei-
ter inwarnendemRot.
Zudemregt sich an einigen Orten
derWiderstand gegen dieVerwand-
lung der Zentren in gleichsam hoch
aufragende Stäbchenstädte. Die Millio-
nenstadt Kobe hat imJuni eineRegel
er lassen, die denBau von Hochhäusern
in der Innenstadt unterbinden soll.Per
Juli 2020 wird derBau neuerWohn-
hochhäuser auf 23 Hektaren Fläche um
denBahnhof Sannomiya grundsätzlich

verboten.Auf weiteren 292 Hektaren
Flächereduziert die Stadtregierung für
Residenzen mit mehr als 10 00 Qua-
dratmetern Boden dasVerhältnis von
Gebäude- zur Grundfläche von 900
auf 400%. «In der Gegend um San-
nomiya gibt es ein Problem mit über-
mässigerKonzentration der Bevölke-
rung»,so erklärteKobes Bürgermeis-
ter Kizo Hisamoto den Schritt. Seine
Sorge ist nicht unbegründet, wie das
Beispiel derBahnstation Musashi-Ko-
sugi in Kawasaki just südlich derTokio-
ter Stadtgrenze zeigt.
Wegen der gutenBahnverbindun-
gen in mehreren wichtigen Zentren
im Grossraum Yokohama - Kawa-
saki-Tokio zogen diverse Entwickler
seit demJahr 2008 auf altenFabrik-
geländen mehr als einDutzend «tower
mansions» mit 70 00 Wohnungen in die
Höhe. Der Nebeneffekt dabei:Was die
Neubürger anFahrminuten zur Arbeit
einzusparen hofften, geben sie nun
jedenTag beimWarten auf die Züge
drauf. In der Spitze derRushhourreicht
die Schlange derPendler bis auf den
Bahnhofsvorplatz.
Aber eigentlich stemmt sichKobe
mit denBauvorschriften gegen einen
viel gewaltigeren globalenTr end, die
Konzentration von Bevölkerung und
wirtschaftlicher Macht in den Mega-
städten. Die Stadtregierung befürch-
tet inzwischen, dass dieWohnhoch-
häuser die kommerzielle Funktion
des Stadtzentrums schwächen und da-
mit ausgerechnetKobes Spitzenlage in
eine Schlafstadt für die nahe Megacity
Osaka verwandeln. Bürgermeister Hi-
samoto will daher lieber Büros und
Kaufhäuser alsWohnblöcke ansiedeln.

Begegnungszentren inToshima

Noch istKobe eineAusnahme. Selbst
inToshima, einem der am dichtesten
bevölkerten StadtteileTokios, ist der
Wunsch nach «tower mansions» un-
gebrochen. In der Umgebung des rie-
sigen Umsteigebahnhofs Ikebukuro,
der täglich mehr als2Mio. Passagiere
zählt, drängen sich zu nachtschlafen-
der Zeit 23 00 0 Einwohner auf einen
Quadratkilometer.Tagsüber sind es so-
gar mehr als 30 000 Menschen. Den-
noch versuche der Bezirk, besonders
jungeFamilien mit Kindern anzuzie-
hen, erklärt Asako Miyata, Direktorin
des Zentrums für familienfreundliche
Stadtplanung. So will der Stadtbezirk
Toshima wenigstens im Kleinen den
grossen demografischenTr end inJapan
wenden: den immerrasanterenRück-
gang der Bevölkerung. Mankönne nur
nach oben bauen, da derRaum so be-
grenzt sei, erklärt Miyata.
Dochanders alsKobe geht die Stadt
auch die negativen Nebenwirkungen
des Zuzugs systematisch an. Mit Sub-
ventionen hat der Bezirk inzwischen
als eine der ersten Gemeinden landes-
weit dieWartelisten für Kindergärten
abgeschafft, die mit dem Hochhaus-
boom länger geworden waren. Gleich-
zeitig investiert man nicht nur in Hoch-
kultur wie ein öffentliches Theater
am Bahnhof, sondern auch mit teil-
weise innovativen Ideen bodenstän-
dig vor Ort. EinSymbol der familien-
und gemeinschaftsfreundlichenPolitik
seien die öffentlichenToiletten inParks
undauf Spielplätzen, sagtMiyata.
Nach Anhörungen von Müttern hat
die Gemeinde beispielsweise zweiDut-
zend WC-Anlagen gemeinsam mit An-
wohnern undKünstlern bemalt, die zu-
dem zweimal proTag gereinigt werden.
So sollen die wenigenParks und Spiel-
plätze vonToshima wieder zu lokalen
Begegnungsplätzen werden – und zum
Ziel der Stadtplanung beitragen.Das
Problem sei, dass die Zuzügler nicht
einTeil deralten lokalen Gemeinschaf-
ten seien, meint Miyata.Toshima ver-
sucht nun mit seinen Initiativen, auch
die Hochhausbewohner vor Ort zu ver-
wurzeln.

Mori Building hatTokio nachbauen lassen.ImBild links die Hochhäuserdes Toranomon-Azabu-Dai-Projekts. KIYOSHI OTA/BLOOMBERG

Mori wollte die grösste
Megacity derWelt
nach den Ideen
Le Corbusiers in eine
«vertikale Gartenstadt»
verwandeln.

Zwischen 1990 und
2018 schoss die Zahl
von Wohnhochhäusern
mit mehr als
20 Stockwerken
von 42 auf 1371 hoch.
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