26 WIRTSCHAFT Donnerstag, 31. Oktober 2019
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Wie stark wird Berlin nach dem Brexit zur EU-Kasse gebeten?
In Brüssel nimmt der Streit um den nächsten langfristigen Haushalt an Fahrt auf
CHRISTOPH G. SCHMUTZ, BRÜSSEL
«Sie arbeiten mit völlig falschen, unwah-
ren, lügenhaften Zahlen», ruft der deut-
sche EU-Kommissar Günther Oettin-
ger in den Pressesaal hinein.Einzelne
Medienberichte haben ihn so erbost,
dass er am Mittwoch in Brüssel kurz-
fristig eine Pressekonferenz einberief.
Die «FinancialTimes» hatte geschätzt,
dass sich die Nettobeiträge Deutsch-
lands zum nächsten Sieben-Jahre-Bud-
get der EU verdoppelnkönnten, und
die «Bild»-Zeitung hat das aufgegriffen
und daraus eine «irre Milliardenrech-
nung aus Brüssel» gemacht.
Konkret geht es um den von 2021 bis
2027 laufenden sogenannten mehrjähri-
genFinanzrahmen der EU (MFR). Die-
serlegt fest, wie viel die Staatengemein-
schaft über siebenJahre maximal aus-
geben darf. Nicht alle erhalten so viel
aus diesemTopf zurück, wie sie dazu
beigetragen haben. Das sorgt für Streit.
Deutschland ist der grösste sogenannte
Nettozahler, während beispielsweise
Polen zu denLändern gehört, die viel
mehr als ihre Beiträge zurückerhalten.
Anderen dieKosten aufbürden
DieRegierungen der Mitgliedstaaten
haben einen Anreiz, möglichst viele (na-
tionale)Kosten der EU und damit teil-
weise anderenLändern aufzubürden,
um mit den frei werdenden «eigenen»
Steuergeldern etwa Dinge zu finanzie-
ren, die ihreWählergruppen erfreuen.
Die Nettozahler – dazu zählen in der
Regel auch Österreich,die Niederlande,
Dänemark und Schweden – versuchen
dagegenzuhalten und ihre Last mit
Rabatten und Ähnlichem zu verringern.
Oettinger erklärte am Mittwoch,
dasKonzept des Nettozahlers sei nicht
mehr zeitgemäss. Das Langfristbud-
get der EU habe sich nämlich struktu-
rell stark gewandelt. Ende der1980er
Jahre verschlang die Förderung der
Landwirtschaft nochfast 60% der Mit-
tel; etwa 20% flossen in die Unterstüt-
zung wirtschaftlich schwächererLänder
undRegionen.Die Auszahlungen dieser
beiden traditionell grösstenPosten kann
geografisch genau bestimmt werden. So
lässt sich derRückfluss pro Mitgliedstaat
einigermassen zuverlässig berechnen.
Dies sei bei den neuen Prioritäten der
Kommission weniger derFall, argumen-
tierte Oettinger. Der Nutzen des Satel-
liten-Systems Galileo, des Flüchtlings-
abkommens mit derTürkei oder auch
der Entwicklungshilfe in Afrika lies-
sen sich nicht einfach einem einzelnen
Land zuweisen. Diese und andere von
Oettinger unter dem Stichwort Moder-
nisierung zusammengefasstenAusgaben
sollen 2021 bis 2027 aber laut demVor-
schlag derKommission rund 35% des
MFR ausmachen und damit erstmals die
Landwirtschaft undKohäsion (je 29%)
übertreffen. Deshalb lassen sichRück-
flüsse nicht mehr so einfach bestimmen.
Diese Sichtweise bestätigte der deut-
scheFinanzminister Olaf Scholz am
Mittwoch in Berlin. Doch nachdem er
dasKonzept als veraltet bezeichnet hatte,
sprach Oettinger überraschenderweise
dann gleichwohl über Nettozahlen,wenn
auch nur für Deutschland. Berlin steu-
erte 20 18 netto rund 14 Mrd. € bei, 2021
sollen es 18 Mrd.€ sein und 2027, am
Ende des nächsten MFR, 24 Mrd. €. Die
«FinancialTimes» hatte von 33 Mrd. €
für 2027 geschrieben.
NeueAufgaben
Grundsätzlich erwartet dieKommission,
dass ein beträchtlicherTeil der Steige-
rung durch die Inflation (40%) und
durch das erwarteteWirtschaftswachs-
tum (20%) zustandekommt. Nochmals
rund 13%kostet der Brexit, und etwa
25 % sind für neue und mehrAusgaben
etwa in den Bereichen Digitalisierung,
Forschung,Klimaschutz und Grenz-
schutz vorgesehen. EinenTeil der ge-
pl anten Mehrausgaben will dieKom-
mission eben durchKürzungen bei der
Landwirtschaft und den Kohäsions-
geldern finanzieren.
Schliesslich betonteOettinger,der
neue Haushalt sei «kleiner» als der vor-
hergehende. Das hängt allerdings stark
von den verwendeten Zahlen ab. Brüs-
sel arbeitet vorwiegend mitrelativen
Zahlen, nämlich dem Beitrag proLand
imVerhältnis zum Bruttonationalein-
kommen (BNE).Das ist ein in grossen
Ländern mit dem Bruttoinlandprodukt
(BIP) vergleichbares Mass.Verteilt man
dieKosten des laufendenMFR auf 27
Mitgliedstaaten, erhält man 1,16% ihres
BNE. Der neue Haushalts-Vorschlag
der Kommission entspricht 1,114%,
Deutschland will 1,0%,und das EU-Par-
lament träumt von 1,3%.
In Prozent sieht das Budget zudem
sowieso klein aus. ZumVergleich: Die
Eidgenossenschaftrechnet für 2021 mit
einerAusgabenquote – alsoAusgaben
imVergleich mit dem BIP – auf Stufe
Bundvon rund 10%. InFranken aus-
gedrückt sind knapp 77 Mrd.Fr. vorge-
sehen. DerDurchschnittswert des EU-
Budgets für 27Länder für dasselbeJahr
liegt bei183Mrd.€. Der EU-Topf ist
aber nicht etwa soklein, weilBrüssel
speziell sparsam wäre,wie das zuwei-
len insinuiert wird.Vielmehr ist die EU
ebenkein Bundesstaat, und grosseAus-
gabeposten wie die Sozialversicherun-
gen und die Armee bleiben deshalb bei
den Mitgliedstaaten.
Ein neues Unterhaus bringt neue Probleme
Britische Unternehmen möchten Planungssiche rheit – doch das kann die Parlamentswahl nicht garantieren
BENJAMIN TRIEBE, LONDON
Grossbritannien wird im Dezember
vorgezogeneParlamentswahlen abhal-
ten, doch so wie dasLand sind auch die
Unternehmen nicht recht begeistert.
DieFirmen blickten mit wenig Enthu-
siasmus auf den Urnengang, teilte der
Arbeitgeberverband Institute of Direc-
tors (IoD) mit – aber dieWahl sei eine
Chance, die gegenwärtige Blockade in
derPolitik zu beenden. Unternehmen
wollten den Brexit-Stillstand endlich
hinter sich lassen und sich den zahlrei-
chen anderen Problemen zuwenden, so
der IoD. Firmen hätten diePolarisierung
inWestminster satt,kommentierte auch
die British Chambers of Commerce.
Und die Confederation of British In-
dustry (CBI)sprach von einer einmali-
gen Chance,den Stillstand der vergan-
genen dreiJahre zu beenden.
Investoren halten still
Dass diePolarisierung im Unterhaus
abnehmen und dieWahl eine schnelle,
endgültige Brexit-Lösung nebsteiner
unternehmensfreundlichenPolitik er-
möglichen wird,istallerdings fraglich –
daher die Zurückhaltung.Auch an den
Märkten herrschtVorsicht:Die Gefahr
eines ungeregelten Brexits ist zwar auf
EndeJanuar aufgeschoben, was dem
Pfundin denvergangenen dreiWochen
erheblichenAuftrieb verschaffte. Mit
€1.16 je Pfund ist die britischeWährung
inzwischen so kräftig wie letztmals im
Mai 2019. Doch dieAussicht auf Neu-
wahlen hat das Pfund jüngst nicht zu-
sätzlich gestützt.
Der Grund für die Skepsis: Jenach
Ausgang bringt die Unterhauswahl am
- Dezember neue Unsicherheiten für
dieWirtschaft. Optimal für britische
Unternehmen wäre Klarheit über den
Brexit-Verlauf, eine wirtschaftsfreund-
liche Art des EU-Austritts und zudem
eine wachstumsfördernde innenpoli-
tische Agenda. Leider ist dieseKom-
bination weder mit den derzeitregie-
rendenTories noch mit der oppositio-
nellenLabour-Partei zu haben, wie die
Wirtschaftsforscher von Capital Econo-
mics anmerken. Nur die Liberal-Demo-
kraten vertreten solch einePolitik, ge-
kennzeichnet vor allem durch dasVer-
sprechen, den Brexitkomplett abzu-
sagen. Aber sie sind zu klein, um eine
ernsthafteAussicht auf dieRegierungs-
führung zu haben.
NeueÜbel am Horizont
DieKonservativePartei undLabour bie-
ten verschiedene Übel in unterschied-
lichenKombinationen.Labour ist strikt
gegen einen vertragslosen EU-Austritt
und möchte nach dem Brexit eine fort-
gesetzte Mitgliedschaft in der EU-Zoll-
union aushandeln.Das begrüssen Unter-
nehmen. DochLabour möchte über das
Verhandlungsergebnis mit einem neuen
Referendum abstimmenlassen,was für
sich genommenrund neun MonateVor-
bereitungszeit erfordernkönnte. Die Un-
sicherheit über das künftigeVerhältnis
zur EU wird also über diereinenVe r-
handlungen hinaus anhalten.
Ausserdem vertrittLabour eineradi-
kaleAgenda von mehr Staatseingriffen
in die Wirtschaft, unter anderem durch
dieVerstaatlichung vonVersorgungs-
betrieben sowie die zwangsweise Zutei-
lung von Aktien vonKonzernenanihre
Mitarbeiter, was auf eineVerwässerung
der Anteileder Altaktionärehinausliefe.
Auch sind mitLabour höhereSteuern
undgrössere Staatsdefizite zu erwarten.
Was dieFirmen im Handelsaustausch mit
der EU an Schadensbegrenzung erhalten,
drohen sie im Inland zu verlieren.
Umgekehrt ist es bei derKonserva-
tivenPartei. Zwar steht die Haushalts-
disziplin auch unter Premierminister
BorisJohnson infrage, doch insgesamt
erwarten Experten eine unternehmens-
freundliche Agenda.Auf der anderen
Seite schwebtJohnson nach dem Bre-
xit nur ein normalesFreihandelsabkom-
men mit der EU vor, das zwar Zölle und
Importquoten eliminiert, aber gegen-
über dem Status quo der Mitgliedschaft
im Binnenmarkt zahlreiche Handels-
hürden errichtet. Diese Einschränkun-
gen sind grösser, als es das imFrüh-
jahr gescheiterte Abkommen vonThe-
resa Mayvorsah.
Darüber hinaus läuft die Übergangs-
periode, in der dasFreihandelsabkom-
men ausgehandelt werden soll und in
der sich für dieFirmen de facto nichts
ändert, im Entwurf für denAustritts-
vertrag nur bis Ende2020. Sie lässtsich
zwar verlängern, aber das muss bereits
im Sommer 2020 signalisiert werden.
Freihandelsabkommen brauchen nor-
malerweise einigeJahre derVerhand-
lung. Die Unsicherheit, ob nicht doch
ein vertragsloses Handelsverhältnis zur
EU entsteht, würde vom eigentlichen
EU-Austritts-Datum auf das Ende der
Übergangsperiode verschoben.
Der Brexit alsVerlustgeschäft
Nicht auszuschliessen ist auch, dass die
Wahlkeine eindeutigeMehrheit her-
vorbringt. Damit bliebe die gegenwär-
tige Unsicherheit erhalten. Die for-
dert ihren Preis: Das renommierte
National Institute of Economic and
SocialResearch (Niesr) veranschlagte
am Mittwoch die bis heute angefalle-
nen Brexit-Kosten auf 2,5% derWirt-
schaftsleistung oder 50 Mrd. £ (64 Mrd.
Fr.): Um diesen Betrag sei das britische
Bruttoinlandprodukt (BIP) heute klei-
ner, alses sich ohne den Brexit-Ent-
scheid beimReferendum imJuni 20 16
entwickelt hätte.Würde die Unsicher-
heit anhalten, beträgt die Einbusse laut
Niesr auf lange Sicht (in 10 bis 15 Ja h-
ren) in einer groben Schätzung rund
2% des BIP proJahr.
ZwargehenselbstPessimisten nicht
von so langen Brexit-Wirren aus, aber
derVergleich lohnt:Wegen der Handels-
barrieren würdeJohnsonsFreihandels-
abkommen laut Niesr gegenüber der
fortgesetzten EU-Mitgliedschaft in
einem Abschlag von 3,5% desBIPresul-
tieren; der No-Deal-Brexit in einer Ein-
busse von 5,6%. MaysAbkommen ver-
schiebt den Wachstumspfad um 3%
nach unten. Es liesse sich folgern, unter
Umständen sei selbst die chronische Un-
sicherheit vor demAustritt aus dem EU-
Binnenmarkt immer noch besser als die
Sicherheit nach einem vollzogenen Bre-
xit. Aber das dürfte britische Unterneh-
men auch nicht aufmuntern.
PremierministerJohnsonund SchatzkanzlerJavid besuchen Ende September einen Grosshändler in Manchester. HENRY NICHOLLS/GETTY
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