Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 FILM 37


Der Irakkrieg fand trotzdem statt

Nie hat man Keira Knightley so blass und so ungeschminktgesehen wie im Whistleblower-Drama«Official Secrets»


MARION LÖHNDORF


Ganz zum Schluss sieht man die echte
Katharine Gun in einem Nachrichten-
Clip, wie sie sich heute gibt – kämpfe-
risch,stark, selbstbewusst. ImFilm spielt
sie Keira Knightley, leise, unsicher, ganz
anders.Aber das war damals, imJahr



  1. Gun arbeitet in «Official Secrets»
    noch für den britischen Geheimdienst
    GCHQ als Übersetzerin.Kurz vor dem
    Irak-Krieg sieht sie ein streng vertrau-
    liches Memo der NSA: Mitglieder des
    Sicherheitsrats derVereinten Nationen
    sollen erpresst werden, damit sie für eine
    Invasion im Irak stimmen.
    Bisher hatte Gun sich damit be-
    gnügt, vordemFernseherüber Blairs
    Behauptungen von Saddams «wea-
    pons of mass destruction» zu spotten.
    Nach der Sichtung des Memos wird sie
    zurWhistleblowerin.Dasie sich nicht
    an einem unter falschemVorwand ge-
    führten Krieg beteiligen will, leitetsie
    die Informationen an den linksliberalen
    «Observer» weiter, fliegt auf, wird von
    ihrerRegierungalsVerräterin angeklagt
    und inhaftiert. Ihrem kurdischen Mann
    (AdamBakri) droht die Abschiebung.


Ein Einzelkampf


DerFilm macht die halb vergessene
Katharine Gun mit ihremAnti-Kriegs-
Kriegszug zueiner Hauptfigur, die sie nie
war. Dass es ihr nicht gelingen wird, das
Desaster abzuwenden –wieaussichtslos
derVersuch auch immer war –, wissen
wir.Auf derFrage, ob sie es schafft oder
nicht, liegt von vornehereinkeine Span-
nung. Das Resultat ist bekannt.
Stattdessen interessiert sich derFilm
für denungleichen Kampf, das David-
gegen-Goliath-Spiel, für die Einzelne, die
gegen dasSystem antritt. Er fragt, was
die Situation,die zeitweise ausweglos er-
scheint, mit Gun macht.Wirdsie zum Op-
fer? Hatsie noch Handlungsspielraum?
Wirdsie sich verändern, oder werden sich
die Umstände wandeln? Gun istkeine
facettenreicheFigur, sondern eine Heldin
alten Stils.Ihre innerenKonflikte sind no-
bel, sie drehen sich vor allem um Mut und
Verantwortung. Moralisches Empfinden
ist ihreTriebfeder, es geht imFilmkein
vorheriges politisches Engagement vor-
aus.Ihre Argumentationgegenüber An-
klägern und Anwälten ist immer ergrei-
fendschlicht.
Der Film verzichtet darauf, Guns
Scheitern einen tragischen Aspekt zu ver-
leihen, Pathos wird weitgehend vermie-
den. DerRegisseur Gavin Hood insze-
niert denAusgang von Guns Geschichte
mit einerPointe, die eigentlich eine steil
abfallende Anti-Klimax ist. So, wie dieser
Film überhaupt die Anti-Klimax liebt, mit
lauter kleinen Enttäuschungen und Nie-
derlagen, die seine Menschen erleben.Da
wirdnichts hochgespielt,nichts ist bigger
than life. Nur eineFigur, einReporter des


«Observer» (Rhys Ifans), wirkt laut, exal-
tiert und durchgeknallt. Aber, so berich-
tenKollegen, die ihn kannten:Auch das
ist authentisch, so war er.

Ein Rasenmäher-Haarschnitt


Im Übrigen ist Understatement die
Währung diesesFilms.Schauspieler,die
normalerweise zu schönsind, um wahr
zu sein, übensich hier in bescheidener
Unscheinbarkeit. Matthew Goode (be-
kannt als dandyhafter Snob aus der
Serie «Downton Abbey») ist als ver-
huschterJournalist mit Stoppelhaar und
Drahtbrille kaum wiedererkennbar.
RalphFiennes, der sichin der zweiten
Filmhälfte charismatisch in denVorder-
grund spielt, schrammt mit seinem wie
voneinemRasenmäher gefrästen Haar-
schnitt, den Billig-Krawattenund -An-
zügen fast schon an derParodie desAuf-
steigers vorbei, der am Stil und an den
Wertenseiner Herkunft festhält. Man
spürt, dass seinerFigur die besondere
Liebe derFilmemacher galt (Drehbuch:
Gregory und SaraBernstein, Gavin
Hood). UndKeira Knightley? Nie hat
man sie so blass und so ungeschminkt, so
allerweltsfrauenhaft gesehen. Und noch
nie hat sie so gut gespielt. Zurückhal-
tung, bisherkeineWaffeinihrem Arse-
nal, steht ihr fabelhaft.
Zu den Ereignissen, die ihm zugrunde
liegen, verhält dieserFilm sich unpräten-
tiös. Er versucht erst gar nicht, sie fürs
Kino aufzupolieren. Stattdessen erzählt
er seine Geschichte mit fast dokumen-
tarischer Anmutung.Das geht bis hin
zurAusstattung.Sahen die frühen nul-
lerJahre unseresJahrtausends wirklich
so aus?DasAmbiente mit seinen staubi-
gen Olive- und Grautönen erinnert mehr
an ein Siebziger-Jahre-Retro-Filmdesign.
Nichts wirkt heutig, trotz der zeitlichen
Nähe der Geschichte. Es ist, als habe man
es mit einem Historiendrama aus der
jüngstenVergangenheit zu tun.

Klima der Manipulation


Tr otzdem hat derFilm mit dem Hier und
Jetzt zu tun. Er segelt nicht nur imWind-
schatten von berühmtenWhistleblower-
Fällen wie Snowden. Sondern er passt
auch gut in ein politisches Klima, in dem
eineRegierung von breitenTeilen der Be-
völkerung derFehlinformation und Mani-
pulation bezichtigt wird – wie im unter der
Brexit-Saga ächzenden England.
Von Fake-News bis zuRassismus –
Guns Ehemann gegenüber – streift der
Film wie imVorübergehen eineReihe
von Zeitthemen, ohne tiefer darauf ein-
zugehen. «Official Secrets» ist zwar einer
dieserFilme, die imRückblick, nach der
Sichtung, gewinnen. Als Kinoerlebnis
aber wirkt der Mix ausredlicher Unter-
treibung und heroischer Erzählung vom
Kampf gegen dieWindmühlen am Ende
dann doch eher dröge.

Daszurückhaltende Spielsteht KeiraKnightley alias Katharine Gun hervorragend. PD

Die Odyssee der Penelope


Der Film «Atlantique» zeichnet ein eindringliches Bild Dakars und wirft einen Blick auf die Emigration – aus afrikanischer Perspektive


PATRICKSTRAUMANN


Eine blutrote Sonne, die langsam mit
der Horizontlinie verschmilzt, und
scharf gezeichnete Gesichter. In «Atlan-
tique», Mati Diops (erstem)Langspiel-
film, ist auch die Inszenierung stets im
Fluss und erscheint eher aquarelliert als
mit derRadiernadel erstellt. Er wurde in
einemAussenviertel vonDakargedreht
und bezieht seineAusdruckskraft wohl
nicht zuletzt aus dem in derFremde ge-
schulten Blick, den die inParis geborene
Regisseurin auf ihre zweite Heimat wirft.
Das Drehbuch (Diop mit Olivier De-
mangel) legt der Kamera gleich mehrere
Erzähllinien vor, wobei sich diese in der
Selbstsuche der senegalesischen Heroine
Ada (Mama Sané) kreuzen. Der Heran-
wachsendensteht eine Hochzeit mit dem
Playboy Omarbevor.Allerdings liebt sie
Suleiman, einen jungenBauarbeiter, der


mit derFertigstellung eines futuristi-
schenWolkenkratzersbeauftragt ist und
wie seineKollegen seit Monaten ver-
gebens auf seinen Lohn wartet.

Vor Spanien gekentert


Nach einem improvisiertenTr effen in
einem zwischenBahngleisen und dem
Meer gelegenenRohbau wird Suleiman
jedoch wortlos verschwinden – als sich
Adaabends zum vereinbartenTr effen in
die Diskothek begibt, erfährt sie, dass ihr
Liebhaber zusammen mit seinenKollegen
ineinFischerboot gestiegen ist, um sein
Glück als illegal Eingewanderter in Spa-
nien zu suchen. Später verdichten sich die
Anzeichen, dass der Kahn gekentert ist.
Tr otz ihrem mangelnden Enthusias-
mus wirdAda von den Eltern nach-
gerade zur Hochzeitgedrängt, auch
die Moschee, die ins Bild gerückt wird,

unterstreicht den lastenden Druck. Nach
einemJungfräulichkeitstest und einem
rituellenFamilientreffen, bei dem die
künftigeRolle derFrau imPaarleben
festgehalten wird, steht sieschliesslich
lustlos vor dem weiss bezogenen Ehe-
bett.Adas sozialenAufstieg bejubelnd,
schiessen ihreFreundinnen Selfies.
Doch dann kippt das Geschehen
ins Übernatürliche. Die Bettlaken fan-
gen – «aus ungeklärten Gründen», wie
die polizeiliche Untersuchung ergibt


  • Feuer. DieWitwen der ertrunkenen
    Arbeiter dringen nachts ins Haus des
    zahlungsunwilligenBauunternehmers
    und verlangen postume Gerechtigkeit.
    Als sie mit leerenVersprechen ver-
    tröstet werden, geht dieVilla in Flam-
    men auf.Auch in diesemFall kann die
    Polizeikeine Brandursache erkennen.
    Die Emigration wird hier vomsüd-
    lichen Standpunkt aus betrachtet. Ihr


hatte Mati Diop bereits ihrefrüheren
Arbeiten gewidmet. So kreistihrKurz-
film «Atlantiques» (im Plural) um junge
Männer, die ihre gescheiterte Überfahrt
nach Europa schildern. Der mittellange
«Mille soleils» folgte den Spuren der
Schauspieler desFilms«Touki Bouki»,
des1972 entstandenen Meisterwerks des
senegalesischenRegisseurs (und Diops
Onkel) Djibril Diop Mambéty.

Zombie-Ästhetik


Anleihen bei der Zombie-Ästhetik erin-
nern diskret an die historische Deporta-
tion der BevölkerungWestafrikas in die
Karibik, dieAussenaufnahmen bauen
die beeindruckendeKulisse einer zeit-
genössischen Grossstadt auf: Esels-
karren,Wagen, Laster und Busse stauen
sich in den weiss flimmernden Strassen-
zügen; der Privatklub mitPool grenzt an

das verstaubte Armenviertel.Aus die-
sem Mosaik von Zeichen und Szenen
gelingt es derRegisseurin immer wie-
der, einzelne Bilder zu isolieren und die
emotionalen Stürze ihrer Protagonistin
mit frappanter Präzision auf den Punkt
zu bringen: etwaAdas spärliche, durch
dieWagen eines fahrenden Güterzugs
gedrehte Blickkontakte mit Suleiman.
Anlässlich der senegalesischen Pre-
miere hatte Diop «Atlantique» als eine
«von Penelope absolvierte Odyssee»
umschrieben. Der Prozess der Selbst-
findung,der schliesslich zur inneren
Befreiung führen wird, spiegelt sich in
den Überblendungen undKontrasten
der Bildsprache. Dass dieReise zuwei-
len auch mäandrisch verläuft, zeigt die
Tonspur, auf der die minimalistisch-syn-
thetischenKompositionen der kuwaiti-
schen MusikerinFatimaAl Qadiri takt-
gebende Akzentesetzen.

Die Whistleblowerinsagtheute: «Ich bereue nichts»


Katharine Gun, Sie habenviel riskiert,
indem Sie damals die hoch geheime
E-Mail an die Presseweitergaben. Ge-
nützt hat es jedoch nichts. Der Krieg
wurde nicht verhindert...
Dasstimmt. Als die Bombardierung des
Iraks dann begann, war es absolut nieder-
schmetternd für mich. AberetwasEinzi-
ges gibt es, was ich als Erfolg werten kann.
Das Ganze hat etwas bewirkt, was vielen
nicht so bewusst ist:Eshat die Abstim-
mung derVereinten Nationen über den
Krieg verunmöglicht. DieLänder, die in
der E-Mail erwähnt wurden, beteiligten
sich dann nämlich nicht am Entscheid
über dieResolution. Eine legaleBasis
für diesen Krieg fehlte somit.

Wie akkurat gibt dieser Spielfilm die
realenBegebenheiten wieder?
Ich habe ihn nur einmal gesehen, in San
Francisco.AlleFakten sindkorrekt, aber
die Handlung ist natürlichkondensiert


  • unddie Spannung höher,als sie in
    Wirklichkeit war. In dieser zog sich das
    Ganze über zwölf Monatehin, in denen
    ich oft nicht wusste, was im Gang war.
    Dawar die Spannung eher hintergrün-
    dig, und ich versuchte in dieser Zeit,
    mein Leben möglichst normal zu führen.


Da war diese lange Phase der Ungewiss-
heit darüber , ob die an den«Observer»
weitergegebene E-Mail von diesem über-
haupt publik gemacht würde. Was sind
Ihre Erinnerungen an dieseWartezeit?
In den ersten paarWochen prüfte ich
ständig die Zeitungen und hörte die
Nachrichten, um zu erfahren, ob die In-
formation draussen war. Dann nahm
ich am15.Februar 2003 an dieser gros-
sen Demonstration gegen den Irakkrieg
teil: Millionen von Leuten marschier-
ten in denStrassen von London – und
in anderen Städten rund um dieWelt.
Also dachte ich, womöglich spiele es
garkeineRolle, ob die von mir weiterge-
gebenen Informationen publiziert wür-
den oder nicht. Und ich nahm an, dass
das nicht mehr geschehen würde.Als es
dann doch herauskam, war ich im ersten
Moment ziemlichgeschockt.

Sie haben sich schliesslich gestellt.Der
Film vermittelt den Eindruck, Sie hätten
dies vor allem deshalb getan,weil Sie Ihre
Arbeitskollegen vomVerdacht befreien
wollten. Wardas wirklichso?
Nein, das war ein Motiv, aber nicht
der Hauptgrund.Vielmehr wusste ich,
dass ich es auf dieDauer nicht leugnen

könnte. Ich bin eine ehrlichePerson.
Und es ging ja nicht um eineLappalie.

Späterwurde dieAnklage fallengelassen.
Können Sie den Moment beschreiben?
Wir wussten es 24 Stunden vor dem Ge-
richtstermin, ich war also vorbereitet. Es
war eine unerhörte Befreiung, aber gleich-
zeitig auch eine Antiklimax: Ich hatte
mich mental auf einen Kampf vorberei-
tet, ich wollte eigentlich den Irakkrieg an
sich vor Gericht bringen. Als sie es fallen-
liessen, zerschlugdas unserePläne.

Die Kinobesucher werden nun mit Ihrer
dramatischen Geschichte unterhalten.
Stört Sie das nicht?
Es ist doch mehr als Unterhaltung!
Nicht zuletzt hoffe ich, dass damit einer
jungen Generation, die jene Zeit nicht
miterlebt hat, eineVorstellung vom da-
maligenWiderstand gegen die Kriegs-
pläne vermittelt wird.

Von allen Opfern, die Sie bringen muss-
ten:Welcheswar das grösste?
Ich bereue nichts von dem,wasich tat.
Also würde ich es auch nicht als Opfer
bezeichnen.
Interview: Urs Bühler
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