Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1

B


ei der ersten Demonstration sei-
nes Lebens war er ganz alleine.
Es war der 17. November 2018,
er hatte sich eine gelbe Warn-
weste übergezogen und auf den
Kreisverkehr am Ortsrand gestellt. Als ein-
ziger. Erst als Saïd Iftene am Abend im In-
ternet die Bilder aus ganz Frankreich sah,
wusste er, dass 300 000 Menschen an die-
sem Samstag dasselbe getan hatten wie er.
Sie hatten sich an den Kreisverkehren der
Republik versammelt, um Nein zu sagen.
Nein zur Erhöhung der Benzinsteuer, da-
mit ging es los. Daraus wurde schnell
mehr: ein Nein zum Präsidenten, und ein
Nein zum System. Schon einen Tag später,
am Sonntag, kamen gut 200 Leute in gel-
ber Weste zu Iftenes Kreisverkehr. An die-
sem Wochenende begann für ihn eine Zeit,
von der er nun, ein Jahr später, sagt, sie sei
„magisch“ gewesen.
Ein nasser Novembertag 2019 in Bor-
deaux, Iftene bestellt im Bahnhofsrestau-
rant eine heiße Schokolade. Es sind nur
noch wenige Tage bis zum ersten Geburts-
tag der Gelbwestenbewegung, die Iftene
„meine Familie“ nennt. Er bereitet viel vor
für das Familienfest. Am Samstag wird er
bei der Großdemo in Bordeaux eine Rede
halten, er will darüber sprechen, „dass wir
weiter zusammenhalten müssen“. Am
Sonntag wird er sich wieder auf den Kreis-
verkehr stellen, an dem alles anfing.


Das Treffen mit Saïd Iftene ist das drit-
te. Das erste war eine zufällige Begegnung
am 24. November vergangenen Jahres, ei-
ne Woche nach Beginn der Bewegung.
Frühmorgens in Paris, gleich neben dem
Triumphbogen. Iftene stand etwas verfro-
ren auf dem Bürgersteig, hatte die Nacht
im Auto verbracht. Zu fünft waren sie ange-
reist, um sich der zweiten Großdemonstra-
tion der „Gilets jaunes“ anzuschließen. An
diesem Samstag baute Iftene zum ersten
Mal in seinem Leben eine Barrikade und
zündete sie an. „Ich hatte Angst“, sagt er
heute. Er wird bald 20. Sein Bartwuchs ist
spärlich, die Gesichtszüge weich, doch in
den vergangenen zwölf Monaten sei er „er-
wachsen geworden“, sagt Iftene. „Früher
bin ich einfach meinen Impulsen gefolgt,
durch die Gelbwesten habe ich angefangen
nachzudenken.“
Was ist geblieben von diesem Aufstand,
dessen Ursachen allen bekannt waren und
den trotzdem niemand kommen sah?
„Das heutige Frankreich ist geteilt und
zerrissen. Auf der einen Seite das Frank-
reich der Metropolen, auf der anderen Sei-
te das Frankreich, das wir ‚Peripherie‘ nen-
nen. Diesem Frankreich der Peripherie
fehlt oft die grundlegende Infrastruktur,
öffentlicher Nahverkehr, Krippen, Kultur-
veranstaltungen.“ So analysierte es Emma-
nuel Macron in seinem Buch „Revolution“,
mit dem er sich 2017 für die Präsident-
schaft bewarb. „Durch das Internet“, so Ma-
cron weiter, „kann nun jeder alles sehen


und vergleichen. Die sozialen Ungerechtig-
keiten werden so grausam sichtbar, die Un-
terschiede im Lebensniveau. Das kann
Frustrationen nähren, ja zur Revolte füh-
ren.“
Die Gilets jaunes lösten ein, was der Kan-
didat versprach. Doch als die Frustrierten
dann tatsächlich den Aufstand begannen,
schien der Präsident von seiner eigenen
Prophezeiung überrumpelt.
Nie zuvor hat eine nicht organisierte Be-
wegung in Frankreichs fünfter Republik
so lange durchgehalten wie die Gilets jau-
nes. Und auch wenn viele ihre Weste heute
nicht mehr rausholen, ist der Zorn nicht
verschwunden. Menschen wie Iftene sind
es auch nicht. „Ich wusste schon vorher,
dass ich in der Scheiße stecke“, sagt er, „ich
wusste nur nicht, dass es meinen Nach-
barn genauso geht.“
Das zweite Treffen mit Saïd Iftene ist
auf seinem Kreisverkehr in der Kleinstadt
Castillon-la-Bataille, Mitte Dezember


  1. Am 24. werden Iftene und seine neu-
    en Freunde hier Weihnachten feiern und
    Lammkeule essen und Achtzigerjahre-
    Hits hören, „weil die Älteren von uns da ger-
    ne zu tanzen“. Vom Kreisverkehr aus blickt
    man auf Weinreben. Hier beginnt das welt-
    berühmte Anbaugebiet von Saint Émilion,
    und hier hat sich die Hälfte derjenigen, die
    hier stehen, den kaputten Rücken geholt,
    über den sie nun ihre Warnwesten ziehen.
    Iftene macht eine Ausbildung zum Kellner
    in einem der Touristenrestaurants in Saint
    Émilion. Jeden Tag fährt er 80 Kilometer
    mit seinem Roller hin und her. Er wohnt
    mit seinen drei kleinen Brüdern bei seinen
    Eltern, die Mutter ist Hausfrau, der Vater
    arbeitslos. Zu sechst versuchen sie mit
    2000 Euro im Monat über die Runden zu
    kommen. Wenn das Benzin teurer wird,
    spürt Iftenes Familie das sofort.
    In Deutschland wurden die Gelbwesten
    zur Projektionsfläche für steile Thesen.
    Die einen sahen darin ein französisches Pe-
    gida, schließlich wurde ständig die Natio-
    nalhymne gesungen. Andere den „militan-
    ten Arm des ADAC“, das letzte Aufbäumen
    der Autofans vor Beginn der grünen Zu-
    kunft. Manche meinten, nun beginne end-
    lich die Diktatur des Proletariats. Als klar
    wurde, dass keine dieser Thesen den inne-
    ren Widersprüchen dieser Bewegung ge-
    recht wurde, gingen die Gilets jaunes in
    den Nachrichten unter und tauchten nur
    noch dann auf, wenn jemand in gelber Wes-
    te etwas Größeres anzündete (was bis März
    2019 regelmäßig der Fall war).
    In Frankreich blieb die Warnfarbe un-
    übersehbar, ein gelber Faden, der sich
    durch Gesellschaft und Medien zieht. Es ist
    die Farbe einer Bewegung, die durch ihre
    Heterogenität groß wurde – und schwach.

  2. Januar. Auf dem Boulevard Saint-
    Germain in Paris rennen erst Menschen in
    gelben Westen, dann Polizisten den Bürger-
    steig entlang. Der Senat liegt hier gleich
    um die Ecke, eines der Ziele des Protestes.
    Die Strategie der Gelbwesten: Demonstrati-
    onen nicht anmelden, in kleinen Gruppen
    unterwegs sein, Westen je nach Sicher-
    heitslage an- und ausziehen. Knapp
    100000 Demonstranten und 80 000 Poli-
    zisten sind an diesem Tag in ganz Frank-


reich auf den Straßen unterwegs. Wie an je-
dem der bisherigen Gelbwesten-Samstage
setzen die Beamten Tränengasgranaten
und Hartgummigeschosse ein. Die Men-
schen haben angefangen, mit Kunstblut
im Gesicht zu demonstrieren.
Iftene erzählt heute, dass er sich nach
seiner ersten und einzigen Pariser Demo-
Erfahrung nicht mehr in die Hauptstadt
traute. „Das war ein Massaker.“ Wie viele
andere Gelbwesten besteht auch er darauf,
dass die Bewegung im Kern pazifistisch
sei. Die Härte der Polizei traf die Demons-
tranten unvorbereitet. Das machte die Pro-
teste nicht weniger brachial. Schon Anfang
Dezember zündeten Gelbwesten in der
Stadt Puy-en-Velay die Präfektur an, wäh-
rend Menschen im Gebäude arbeiteten.


  1. Februar. Die Samstage gehören wie-
    der den Pärchen und Familien, die nach Pa-
    ris reisen, um Geld auszugeben. Im 3. Ar-
    rondissement, im Marais, schieben sich
    die Menschen mit Einkaufstüten aneinan-
    der vorbei. Dazwischen ein Vater mit sei-
    nem Sohn, sie treten gerade aus der Haus-
    tür. „Was ist das für ein Gestank, Papa?“
    „Das ist nur Tränengas, mein Herz.“ Der
    Place de la République ist ein paar Hundert
    Meter entfernt, der Wind weht den Stra-
    ßenkampf herüber. Vater und Sohn gehen
    in eine Bäckerei, Erdbeertörtchen kaufen.
    Es ist das Bild eines Landes, das sich an die
    Gewalt gewöhnt.

  2. März. Präsident Emmanuel Macron
    reist seit sechs Wochen durch Frankreich
    und versucht, den Zorn in sich aufzusau-
    gen wie ein Politschwamm. Am 15. März,
    wenn sein großes Kommunikationsexperi-
    ment, der „Grand débat national“, endet,
    werden Frankreichs Fernsehsender mehr
    als 80 Stunden debattierenden Macron
    ausgestrahlt haben. Diskutieren ist ein
    Leistungssport, den er seit Jahren trai-
    niert. An diesem Tag ist die Präfektur von
    Bordeaux seine Arena. Nach der Debatte
    mit Lokalpolitikern kurzes Händeschüt-
    teln mit einer Gruppe Ladenbesitzer. Eine
    Buchhändlerin und ein Reisebürobetrei-
    ber stehen vor dem Präsidenten. Ihre Ge-
    schäfte liegen an der Route, auf der die
    Gelbwesten jeden Samstag durch die Stadt


ziehen. Im Reisebüro haben sie die Schei-
ben eingeschlagen, eine Woche später das
Inventar zertrümmert. Die Buchhändlerin
traut sich samstags nicht mehr, den Laden
zu öffnen. Läuft man den Cours Pasteur
entlang, vom Stadtmuseum bis zur Synago-
ge, sind alle Geldautomaten zerstört. Fri-
seurläden und Imbissbuden fehlen die
Schaufenster. Auf die Wände ist immer der-
selbe Spruch gesprüht: „Macron, tritt zu-
rück.“ Der Präsident kann noch so lange de-
battieren, diejenigen, die gegen ihn auf die
Straße gehen, erreicht er nicht. Sie haben
ihn ohnehin nicht gewählt.
An Iftenes Heimatkreisverkehr in Castil-
lon hat die Polizei inzwischen zum zweiten
Mal das Lager der Gilets jaunes geräumt.

Ein drittes Mal wollen sie ihre Hütte nicht
neu aufbauen. Saïd Iftenes Protest verla-
gert sich. Manche seiner Mitstreiter blei-
ben nun lieber zu Hause. Er fängt an, jeden
Samstag zum Demonstrieren nach Bor-
deaux zu fahren. Er steigt auf in der Pro-
testhierarchie und gehört bald zu denen,
die die Proteste mitorganisieren. Was hält
er von dem Grand débat? „Das war doch al-
les nur Blabla“, sagt Iftene heute. Macron
soll weg und auf Iftenes Konto mehr Geld.


  1. Mai. Zwei Tage vor der Europawahl
    in Forbach, an der Grenze zu Deutschland.
    Hier nahm die EU als Montanunion ihren
    Anfang. Heute sind die Bergwerke nur
    noch Museen und das rechtsextreme Ras-
    semblement National geht auf Wähler-
    fang. Am Stadtrand steht eine Bretterbude
    auf dem Kreisverkehr. Basislager der Gi-
    lets jaunes. Lange wurde darüber speku-
    liert, ob es den Gelbwesten gelingen könn-
    te, die Wucht ihres Protestes an die Urnen
    zu bringen. Doch die Bewegung ist zu un-
    strukturiert, die Gilets-jaunes-Listen ha-
    ben keine Chance. Hier in Forbach sind die
    Gelbwesten eh gegen alles, was „oben“ ist,
    ob nun demokratisch gewählt oder nicht.
    Diejenigen von ihnen, die zur Wahl gehen,
    wollen für François Asselineau stimmen.
    Ein Verschwörungstheoretiker, der für den
    EU-Austritt Frankreichs wirbt. An der
    Wand haben sie einen Bildschirm ange-
    bracht, es läuft der französische Ableger
    des russischen Senders Russia Today. In
    Dauerschleife werden Bilder blutender De-
    monstranten gezeigt. Die „Systemmedien
    zeigen nicht, was wirklich passiert“, sagt ei-
    ne Frau. Russia Today sendet dafür den
    ganzen Tag, was sie sehen wollen: die Ge-
    walt der französischen Polizei.

  2. August. In Hendaye haben sich Glo-
    balisierungsgegner zusammengefunden,
    um gegen den G-7-Gipfel im benachbar-
    ten Biarritz zu demonstrieren. Zwischen
    Fahnen mit Hammer und Sichel läuft Ju-
    lien Pereira mit seiner Warnweste. Er ist 29
    und arbeitet in einer Schulküche, seit dem

  3. November nennt er sich Gilet jaune. Der
    G-7-Gipfel ist für ihn „ein weiterer Fuß-
    tritt von Macron“. „Der wohnt dort drüben
    im Luxushotel und redet dann über Gleich-
    heit.“ Pereira hat bei der Präsidentschafts-
    wahl die rechte Marine Le Pen gewählt.
    Was macht er auf dieser linken Demo? „Die
    gerechte Verteilung des Reichtums ist für
    mich weder links noch rechts.“ Seine wich-
    tigste Forderung? „Der Innenminister
    muss ins Gefängnis, der schießt auf die ei-
    gene Bevölkerung.“
    Zu den Träumen der französischen Lin-
    ken gehört die „Convergence des Luttes“,
    der Zusammenschluss aller Unzufriede-
    nen. Bei den Gelbwesten findet dieser Zu-
    sammenschluss statt – nur die Linken kom-
    men kaum noch vor. Nicht politische Idea-
    le wurden zum Kitt der Bewegung, son-
    dern das Gefühl, Menschen gefunden zu
    haben, die in derselben Misere stecken wie
    man selbst. Wenige warben so ausdauernd
    und so erfolglos um das Vertrauen der Gelb-
    westen wie die linksradikale France Insou-
    mise. Am Kreisverkehr wollte niemand abs-
    trakte Debatten über soziale Gerechtigkeit
    führen. Das „RIC“ wurde zum Zauberwort,
    das référendum d’initiative citoyenne –


die Idee, dass sich alle großen Probleme
durch Bürgerbefragungen lösen lassen.
In ihrer Weigerung, sich politisch festzu-
legen, ähnelten die Gelbwesten oft demje-
nigen, den sie am meisten hassen: Macron.
Der Präsident will weder links noch rechts
sein, seine Gegner auch nicht. Macron
macht Politik mit den Mitteln eines Markt-
forschers: die Bürger umfassend dazu be-
fragen, was sie wollen. Und wenn ihm die
Antworten schlüssig erscheinen, liefern.
Die Befragung wünschen sich auch die
Gelbwesten, nur wollen sie niemanden
mehr aushalten, der sie repräsentiert.

Wenn man Iftene fragt, was er ändern
würde, wenn er könnte, klingt er wie ein
Kommunist. Der Staat soll dafür sorgen,
dass die Grundnahrungsmittel billiger wer-
den. Er soll Benzin-, Strom- und Gaspreise
bestimmen. Doch mit dem Label „links“
kann er nichts anfangen. „Ich habe einfach
meine eigenen Überzeugungen, und ande-
re Gelbwesten können andere Überzeugun-
gen haben.“ Er hat sich einer Bewegung an-
geschlossen, die die herrschenden Zustän-
de radikal ablehnt. Und die gleichzeitig kei-
ne Verantwortung dafür übernehmen will,
was als Nächstes kommen könnte.
Fährt man heute durch Frankreich, lie-
gen manchmal am Straßenrand noch die
Holzpaletten, aus denen sich die Gelbwes-
ten ihre Unterstände gezimmert haben.
Die Bewegung hatte keine großen Vorden-
ker und wollte keine Anführer. Doch sie hat-
te einen sicheren Instinkt. Der Kreisver-
kehr als Versammlungsort, die gelbe Wes-
te als Erkennungszeichen. Beides war ein-
fach und klug. Alles, was man brauchte,
um sich den Gilets jaunes anzuschließen,
fand man im Handschuhfach. Mit der gel-
ben Weste sollen Bürger sich schützen, im
Falle eines Unfalls. Nun zogen sie die Wes-
ten über, weil sie glaubten, dass der Staat
ihnen diesen Schutz verweigerte. Schnell
wurden die Westen zur analogen Status-
meldung. Die Menschen schrieben sich ih-
ren Monatslohn auf den Rücken, ihren Hei-
matort, ihre Forderung. Es gab keine Slo-
gans, die für alle gelten sollten, die Weste
individualisierte den Zorn passgenau.
Und dann der Kreisverkehr. Der Ökono-
mie-Professor Daniel Cohen nennt als Wur-
zeln der Gilets-jaunes-Bewegung die finan-
zielle Unsicherheit – und, als „tieferen Fak-
tor“, eine „erdrückende soziale Vereinze-
lung“. Wer sich darunter nichts vorstellen
kann, muss die hübschen Innenstädte hin-
ter sich lassen, und dorthin fahren, wo die
Menschen einkaufen, die sich die Speziali-
tätenläden im Stadtzentrum nicht leisten
können. Zu den riesigen Supermärkten
und Gewerbegebieten, die an jedem Orts-
ausgang um den Kreisverkehr herumorga-
nisiert sind. Französisches Savoir-vivre
gibt es in Dosen oder eingeschweißt. Ne-
ben dieser Plastikwelt haben die Gilets jau-
nes sich eingerichtet. Dort, wo Zusammen-
leben eigentlich nicht mehr vorgesehen

ist, wo jeder alleine im Auto anreist, den
Großeinkauf für die Woche einpackt und
dann wieder fährt, haben sie angefangen
zu grillen, zu trinken und zu tanzen.
Iftene erzählt gerne von dem Liebes-
paar, dass sich auf seinem Kreisverkehr
kennengelernt hat. Seit ein paar Monaten
wohnen sie zusammen. Nächsten Sommer
wollen sie heiraten. „Magisch“, sagte er.
Der kommende Samstag, das Jubiläum,
wird groß, glaubt Iftene. Doch selbst wenn
das Comeback ausbleibt, er wird die Weste
„immer im Herzen tragen“ – und fortan in
Zivil demonstrieren. Als „wütender Bür-
ger, so wie alle anderen auch“.
Gelegenheiten gibt es genug in diesem
Herbst. Man kann sich dem Streik des Pfle-
gepersonals in den Krankenhäusern an-
schließen. Man kann mit den Lehrern mit-
marschieren, die auf die Straße gehen, seit
sich eine Schulleiterin in dem Pariser Vor-
ort Pantin in der Aula in die Tiefe stürzte
und sich das Leben nahm. Zuvor hatte sie
einen Brief an die Schulleiter des Bezirks
geschickt, in dem sie beschreibt, wie die Be-
hörden sie allein lassen.
Man kann mit den Studenten mitgehen.
Am 8. November übergoss sich ein 22-Jäh-
riger vor seiner Universität in Lyon mit Ben-
zin und zündete sich an. Noch ist unsicher,
ob er überlebt. Vor seiner Tat schrieb der
Student auf Facebook, dass er nicht mehr
wisse, wie er sein Leben finanzieren solle.
„Prekarität tötet“ steht nun auf den Trans-
parenten seiner Kommilitonen.
Man kann auch bis zum 5. Dezember
warten, bis zu dem Generalstreik, der das
ganze Land lahmlegen soll. Bahnhöfe, Flug-
häfen, Schulen – die Gewerkschaften orga-
nisieren sich für den großen Stillstand. Die
Proteste gegen die anstehende Rentenre-
form haben sie wiederbelebt.

Oder man erklärt sich mit den Jugendli-
chen in den Vorstädten solidarisch. Am ers-
ten Novemberwochenende ging in Chante-
loup-les-Vignes im Großraum Paris ein Ju-
gendzentrum in Flammen auf, Polizisten
wurden angegriffen. Randale, die wie ein
Vorbote eines Aufstands wirkt. Premiermi-
nister Édouard Philippe sprach von
„stumpfsinniger Gewalt“. Iftene sagt:
„Dort, in den Vorstädten, da findet man die
Leute, denen es wirklich schlecht geht.“
Macrons Umgang mit der Banlieue be-
schränkt sich vor allem darauf, ihr unter-
nehmerisches Potenzial zu betonen. Sozial-
ausgaben für die Brennpunkte? „Eine irre
Menge Kohle“, die niemandem weiterhel-
fe, so der Präsident.
„La France qui brunch“, das Frankreich,
das bruncht, hat das KulturmagazinSlate
die Macron-Wähler mal genannt. Das Um-
frage-Institut Ifop formuliert es prosai-
scher: Macrons Frankreich, das ist das
Frankreich, dem es gut geht. Das andere
Frankreich ist durch seinen Wahlsieg nicht
verschwunden. Ob es sich nun eine gelbe
Weste überzieht oder nicht.

Geld für soziale Brennpunkte?
„Eine irre Menge Kohle“, die
keinem weiterhelfe, sagt Macron

In Westen nichts Neues


Der Protest der „Gilets jaunes“ ist für viele


Franzosen mittlerweile Alltag geworden.


Die Frage ist: Was folgt jetzt aus dem alten Frust?


von nadia pantel


„Was ist das für ein Gestank,


Papa?“, fragt der Sohn. „Das ist


nur Tränengas, mein Herz.“


Der Präsident kann noch so lange
debattieren, diejenigen, die gegen
ihn protestieren, erreicht er nicht

Die Leute haben keinen Anführer,
keinen Vordenker, keine Theorie,
aber einen sicheren Instinkt

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 (^) DIE SEITE DREI HF2 3
Auch wenn viele Demonstranten ihre Weste heute nicht mehr rausholen, ist der Zorn nicht verschwunden. FOTO: CHARLY TRIBALLEAU / AFP

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