Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
von kassian stroh

D


er Wildpark Schloss Tam-
bach im bayerisch-thüringi-
schen Grenzgebiet, ein sonni-
ger Samstagnachmittag im
August. Die Greifvogelshow
ist soeben vorbei, da treffen wir auf der Be-
suchertribüne unverhofft einen örtlichen
Landtagsabgeordneten. Seine anfängli-
che Überraschung – „Was machen Sie
denn hier?“ – wächst sich bald zu ungläubi-
gem Staunen aus, als der Mann hört, dass
man mit dem Bus hierhergefahren ist. Oh-
ne Auto? Tatsächlich mit dem Bus? Hier
auf dem Land? Dass das möglich sei, sagt
er sinngemäß, habe er sich gar nicht vor-
stellen können.


Wer mit Kindern ohne Auto Urlaub
macht, der kennt natürlich diese Fragen,
manchmal mit einer Spur von Mitleid in
der Stimme, fast immer mit Unverständ-
nis. Und hat mit der Zeit die Antwort dar-
auf gelernt: Doch, doch, das geht sehr gut,
mit einigen Einschränkungen gewiss, die
aber nicht weh tun, wenn man sich darauf
einstellt. Auch wenn die öffentlichen Ver-
kehrsmittel in Deutschland jenseits der
Städte noch immer ein Schattendasein fris-
ten. Wie sich ja auch an jener Begebenheit
im Wildpark zeigt, die schon einige Zeit zu-
rückliegt: Wenn nicht einmal ein örtlicher
Politiker glauben mag, dass es bei ihm da-
heim auf dem Land brauchbare Busverbin-
dungen gibt – wer soll es denn dann?
13 Jahre Familienurlaub mit einem und
bald darauf zwei Kindern ohne eigenes Au-
to und auch ohne Mietauto – der Langzeit-
Praxistest zeigt: Es geht oft mehr, als man
denkt. Und zwar nicht nur beim Städteur-
laub, der ja auch für die Kinder mit zuneh-
mendem Alter immer attraktiver wird.
Dass man in Wien, Rom oder Amsterdam
kein Auto braucht, liegt nahe. Mit kleinen
Kindern erweisen sich aber auch manche
Kleinstädte als Ferienparadies. Coburg,
um nur mal ein Beispiel zu nennen. Eine
wunderbare, geschichtsträchtige Stadt im
historisch gesehen unbayerischsten Win-
kel Bayerns. Von dort gibt es viele Ausflugs-


möglichkeiten in alle möglichen Ecken
Oberfrankens, und eben auch einen Linien-
bus zu besagtem Wildpark. Und gleich ne-
ben der Ferienwohnung liegt die Stadtbü-
cherei, wo wir für zwei Wochen einen Gast-
Ausweis bekamen – so mussten in die Kof-
fer nicht mal die schweren Bücher für die le-
sehungrige Tochter. Oder Neustadt an der
Aisch: Diese mittelfränkische Kleinstadt
selbst hat touristisch nicht viel zu bieten
außer einem herrlichen Waldbad, das für
Kleinkinder perfekt ist. Unser Urlaubsziel
wurde es, weil es an der Kreuzung zweier
Bahnlinien liegt. Würzburg, Nürnberg,
Bamberg, Rothenburg, Bad Windsheim –
alles gesehen, alles gut zu erreichen. Und
die Anfahrtskosten? Ein Bayern-Ticket für
32 Euro.
Nur: Wenn jemand hört, man mache Ur-
laub in Neustadt an der Aisch, dann re-
agiert er garantiert noch erstaunter, als
wenn man ihm erzählt, man sei mit dem
Bus in einen Wildpark gefahren.
Meine Frau und ich leben schon immer
ohne Auto. Während der Studienzeit in
München war das überhaupt kein Pro-
blem. Und später, als die Kinder kamen?
Zwar hatten wir beide einen Führerschein,
aber weder Fahrpraxis noch sonderlich
viel Lust auf Autofahren. Das viele Geld,
das wir dafür ausgeben hätten müssen,
war es uns auch nicht wert. Hinzu kam
nicht zuletzt der Umweltschutz als Beweg-
grund. Und gewohnt waren wir das auto-
freie Leben ja, im Alltag wie in den Ferien.
Logistisch ist im Urlaub bei alledem die
Anfahrt das geringste Problem: Erreichen
lässt sich nahezu jedes Ziel auch ohne eige-
nes Auto. Vom nächsten Bahnhof holt ei-
nen immer der Vermieter ab, wenn man
nicht gleich zu Fuß gehen kann. Bahnan-
schlüsse werden so zum zentralen Stand-
ortkriterium, was nebenbei die Suche sehr
vereinfacht: Für einen Badeurlaub an der
Ostsee bleiben nicht viele Orte, wenn man
sich über den DB-Netzplan beugt. Aber ein
schöner Ort reicht ja.
Komplizierter ist die Mobilität vor Ort,
wenn man Ausflüge unternehmen möch-
te. Also zu jenen gehört, für die es nicht das
höchste der Gefühle ist, zwei Wochen im
Reservat eines Familienhotels zu verbrin-
gen. Das zum Beispiel sprach lange gegen
einen Urlaub auf dem Bauernhof: Wo Bau-
ernhof, da meist Land, da wenig Bus. Bis
uns Freunde Werfenweng empfahlen, ein
Dorf am Fuß des Tennengebirges südlich
von Salzburg. Das setzt seit einigen Jahren


  • was im Ort nicht unumstritten ist – auf
    autofreien Urlaub, „sanfte Mobilität“ nen-
    nen sie das Konzept. Für alle, die mit der
    Bahn kommen oder ihren Autoschlüssel ab-
    geben, gibt es besondere Angebote: einen
    kostenlosen Shuttle zur Bahn und nach Bi-
    schofshofen, ein kostenloses Elektrotaxi


im Dorf, das noch den letzten der weit ver-
streuten Ortsteile oder Wandererparkplät-
ze anfährt, kostenlose Tagesausflüge mit
dem Bus und so fort. Wege zum Wandern
finden sich sowieso genug.
Tu felix Austria! Die Tourismuswirt-
schaft in Österreich ist in vielen Punkten
weiter als die in Deutschland. Direkt am
Wörthersee, kurz vor Klagenfurt, liegt zum
Beispiel Krumpendorf, dorthin fährt der
Eurocity von München aus. In fünf Stun-
den, ohne Umsteigen, ganz entspannt,
manchmal belohnt durch einen Blick auf
den Stau nebenan auf der Tauernauto-
bahn. Ein Dorf mit 3500 Einwohnern, in
dem siebenmal am Tag ein Fernzug hält?
Manches Pendant in Bayern wäre froh, füh-
re wenigstens siebenmal am Tag ein Bus in
die nächste Kreisstadt. Und in Bodensdorf
am Ossiacher See, nicht einmal 500 Meter
vom Bahnhof entfernt und direkt am Was-
ser, liegt ein Campingplatz, dort kann man
sogar ein Häuschen mieten und hier sei-
nen Sommerurlaub verbringen. Damit ist
man freilich der Super-Exot, denn nirgend-
wo ist autofrei ungewöhnlicher als unter
Campern.

Oder ein Stück weiter westlich: Südtirol.
Das beliebte Urlaubsland bietet nicht nur
gute Kompromissmöglichkeiten für die zu-
nehmend differenzierten Freizeitbedürf-
nisse von Sohn (Wandern), Tochter (Chil-
len am Wasser) und Eltern (Kultur), es bie-
tet auch hervorragende Bus- und Bahnver-
bindungen. Und ein finanziell unschlagba-
res Argument: die Mobilcard, mit der alle
öffentlichen Verkehrsmittel in ganz Südti-
rol inklusive der meisten Bergbahnen ge-
nutzt werden können. Sieben Tage für
84 Euro. Aber nicht für eine Person, für die
ganze Familie.
Ein vergleichbares Ticket für Bus und
Bahn in ganz Oberbayern? Wenn man das
einem hiesigen Kommunalpolitiker vor-
schlägt, dann verliert er garantiert noch
mehr die Fassung, als wenn man ihm er-
zählt, man mache Urlaub in Neustadt an
der Aisch.
Zwar steht die Bahn im Ruf, viel teurer
zu sein als Auto oder Flugzeug. Man darf
sich aber nicht von den normalen Basis-
Preisen abschrecken lassen. Wer ein paar
Monate im Voraus bucht, und das kann
man bei einem Familienurlaub üblicher-
weise, bekommt meist ordentlich Rabatt,
Kinder fahren bis zum 15. Geburtstag ohne-
hin umsonst mit. Und glücklicherweise las-
sen die Österreichischen Bundesbahnen
auch weiterhin Nachtzüge durch Deutsch-

land und in den Süden fahren, ab Januar
im Übrigen auch nach Brüssel. Für Kinder
ist das, zumindest beim ersten Mal, ein
spannendes Abenteuer, für längere Stre-
cken ist es zugleich eine verhältnismäßig
entspannte Form des Reisens. Und nicht
teuer: 200 Euro kostet die Fahrt von Rom
oder Venedig nach München für eine vier-
köpfige Familie im eigenen Liegewagen-
Abteil.
Nur ist es leider keine Selbstverständ-
lichkeit, auch bei den ÖBB nicht, dass alle
Waschräume und Toiletten in Betrieb sind.
Das ist ein heikler Punkt: der Komfort. Na-
türlich ist man im eigenen Auto flexibler,
natürlich ist es eine Einschränkung, wenn
der Bus vom Kalterer See zurück zur Feri-
enwohnung nur einmal in der Stunde
fährt, wenn die Familie also nicht sofort
ins Auto springen kann, sobald sich Regen-
wolken dem Strandbad nähern. Aber ist
nicht auch das Urlaub, sich gelassen auf an-
deres einzulassen, und sei es die Fremdbe-
stimmung durch Fahrpläne? Natürlich
kann, wer im Zug nach Süden fährt, keine
Sonnenschirme einpacken, um sich die
horrenden Leihgebühren am Strand zu spa-
ren. Er kann sich auch keinen Skisarg aufs
Dach montieren, um palettenweise
H-Milch über den Brenner zu karren, weil
die beim Aldi nun mal viel günstiger ist als
im toskanischen Dorfladen. Aber ist das Ur-
laub?
Zur Wahrheit gehört natürlich genauso,
dass Bahnfahren oft viele Nerven kostet.
Züge scheinen, je kürzer die Zeit zum Um-
steigen ist, eine umso größere Neigung zur
Verspätung zu haben. Deshalb haben die
Kinder jahrelang bei der Einfahrt in den
Bahnhof standardmäßig gefragt: „Müssen
wir rennen?“ Aber immerhin standen sie
nie stundenlang im Stau auf der Autobahn.
Und vielleicht haben sie auf diese Weise
manchmal auch mehr gelernt über Land
und Leute, als dies im Auto möglich gewe-
sen wäre. Der an seiner Heimat Rom ver-
zweifelnde Italiener, der ihnen in der Tram
erzählte, dass er an jeder Haltestelle den
Müll wegräumt, weil er die Verwahrlosung
seiner Stadt nicht mehr erträgt. Oder der
Häftling, wie er in Anstaltsklamotten und
Handschellen aus dem Tor des Gefängnis-
ses von Kronach trat, von der Tochter mit
vom Entsetzen geweiteten Augen beobach-
tet, bis sich herausstellte, dass er bewacht
auf Freigang war. Nie hätte sie das erlebt,
wäre sie im Auto zum Besucherparkplatz
der Festung Rosenberg kutschiert worden.
Sie kam zu Fuß vom Bahnhof. Ist nicht mal
ein Kilometer.

Alle bereits veröffentlichten Folgen, von der Alpen-
wanderung bis zu den schönsten Radfernwegen Eu-
ropas,online auf sz.de/thema/Reisen_ohne_Flug

Karmen Mentil ist Geschäftsführerin
vonAlpine Pearls, einem Zusammen-
schluss von 23 Orten in den Alpen, die
sich der sanften Mobilität verschrieben
haben. Die also ohne Auto anreisenden
Gästen leichte Erreichbarkeit und volle
Mobilität vor Ort garantieren.

SZ: Was bekomme ich bei Ihnen, wenn
ich mich entscheide, ohne Auto anzu-
reisen?
Karmen Mentil: Zunächst einmal den
problemlosen Transfer auf der soge-
nannten letzten Meile vom Bahnhof zu
Ihrem Hotel. Im Ort gewähren unsere
Mitglieder die Mobilitätsgarantie, das
heißt, Sie kommen auch ohne Auto
überallhin: ins Skigebiet, zum Wander-
parkplatz, in die nächste Einkaufs-
stadt. In unserem Modellort Werfen-
weng stehen neun Elektro-Autos zur
Verfügung, die Gäste nutzen können.
Zusätzlich gibt es E-Bikes, Pferdeschlit-
ten, Bus-Shuttles und ein großes Ange-
bot von Winterwanderwegen.
Wenn man auf Bahn.de als Ziel Werfen-
weng eintippt, gibt es kein Ergebnis.
Ja, tatsächlich, Sie haben recht. Und das
zeigt, was einer der wesentlichen, noch
zu verbessernden Faktoren bei der auto-
freien Anreise ist: die Information.
Wenn Sie auf der Website der österrei-
chischen Bahn (oebb.at) Werfenweng
eingeben, erhalten sie einen Treffer. In
einer von uns in Auftrag gegebenen Um-
frage sagen die an autofreier Anreise in-
teressierten Gäste, dass sie sich vor al-
lem lückenlose Information wünschen.
Das ist noch nicht der Fall und auch bei
vielen Tourismusverbänden und Hoteli-
ers noch nicht angekommen, die lieber
mit einem Gratis-Parkplatz werben.
Sind die Gäste auch zu Einschränkun-
gen bereit?
Zweimaliges Umsteigen und etwa 15 Mi-
nuten Wartezeit auf die Abholung wür-
den die Gäste laut Umfrage tolerieren.
Doch meist steht der Transfer schon be-
reit am Bahnhof. Nach all der digitalen
Information vorab wünschen sie sich
aber einen Menschen, der sie empfängt
und ihnen erklärt, wie das mit der auto-
freien Mobilität funktioniert.

In Österreich oder der Schweiz ist man
eher weit, aber wie sieht es in Italien aus?
Im Sommer funktioniert dort der Busbe-
trieb schon relativ gut, im Winter noch
nicht ganz so. Wir haben bei unseren Mit-
gliedsorten in den verschiedenen Län-
dern verschiedene Abstufungen, was die
sanfte Mobilität betrifft. Wir können
nicht verlangen, dass es überall so ist wie
in Werfenweng. Aber alle arbeiten daran.
Hat die Klimakrise dazu beigetragen,
dass mehr Gäste ohne Auto anreisen?

Wir sehen eine stark wachsende Nachfra-
ge, ja. In Südtirol, wo wir gerade unser Jah-
restreffen hatten, sprachen die Kollegen
von einer sehr großen Auslastung der
Wander- und Zubringerbusse. Wenn es
gut funktioniert, wird es auch genutzt.
Wenn nicht, nehmen die Leute doch das
Auto. In Werfenweng kommen 25 Prozent
der Gäste ohne Auto, in Südtirol steigen
die Zahlen stark an, im Aostatal ist es
noch eher wenig.
Haben Sie heute mehr Konkurrenz, weil
sich viele Orte nachhaltig geben?
Das Thema ist im Tourismus angekom-
men. Wenn Orte nur Greenwashing betrei-
ben, merken das die Gäste schnell und
kommen nicht wieder. Aber viele Orte ma-
chen es gut. Mit E-Mobilität im Urlaub ha-
ben wir mit den Alpine Pearls begonnen,
heute machen es Zell am See und Kitzbü-
hel und viele andere. Das ist schön. Je
mehr, desto besser (alpine-pearls.com).
interview: hans gasser

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FLUG


Karmen Mentil managt die
„Alpine Pearls“.FOTO: OH

Mit Strom in


den Schnee


Alpenurlaub ohne Auto – in 23 Orten, den


„Alpine Pearls“, wird das so leicht wie möglich gemacht


DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019


REISE


Geht


das


wirklich?


Unser Autor hat zwei Kinder


und kein Auto. Er kommt auf


Urlaubsreisen trotzdem gut zurecht –


und entspannt an sein Ziel.


Meistens jedenfalls


Wichtig ist beim Bahnfahren:
Frühzeitig buchen,
dann sind die Preise erträglich

ILLUSTRATION: SHUTTERSTOCK

Nachtaktive Gäste
Bei Brüssel hat ein Hotel im Zoo eröffnet.
Mit Blick aufs Bärengehege 37

Von oben herab
Die Shibuya-Kreuzung in Tokio ist jetzt
voneiner Plattform aus zu sehen 36
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