Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
München– Zwei Prozent des deutschen
Bruttoinlandsprodukts sollen für die zivile
Friedenssicherung verwendet werden, das
fordert die Evangelische Kirche in Deutsch-
land (EKD). Das Geld soll, analog zur Selbst-
verpflichtung der Nato-Staaten, zwei
Prozent des Inlandsprodukts für Rüstung
bereitzustellen, für Entwicklungspolitik,
Krisenprävention, Konfliktbewältigung
und zivile Aufbauarbeit dienen. „Wir rufen
die politisch Verantwortlichen dazu auf,
militärische Gewalt und kriegerische Mit-
tel zu überwinden“, heißt es in einer Kund-
gebung zum Abschluss der EKD-Synoden-
tagung am Mittwoch in Dresden. Die Euro-
päische Union und ihre Mitgliedsstaaten
forderte die EKD auf, die Missionen zur
Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittel-
meer wieder aufzunehmen. Auch der Kli-
maschutz sei eine unabdingbare Vorausset-
zung für Frieden und Gerechtigkeit in der
Welt. Die Friedensethik war Schwerpunkt
der Beratungen des Kirchenparlaments.

Die Synode beschloss zudem, dass es in
allen evangelischen Landeskirchen künf-
tig vergleichbare Leistungen für Miss-
brauchsopfer geben soll; sie sollen „indivi-
duelle immaterielle Hilfen und materielle
Anerkennungs- und Unterstützungsleis-
tungen“ umfassen, heißt es in dem Be-
schluss. Die Synode bitte die „verantwortli-
chen Landeskirchen, miteinander zu errei-
chen, dass materielle Leistungen anhand
einheitlicher Kriterien, in nachvollziehba-
ren Verfahren und vergleichbarer Höhe ge-
leistet werden“.
Am Dienstag hatte erstmals in der Ge-
schichte der EKD-Synoden eine von Miss-
brauch Betroffene vor dem Kirchenparla-
ment gesprochen. Die frühere Bundesbau-
ministerin und Synodenpräses Irmgard
Schwaetzer sprach von einer besonderen
Stunde, „die viele sehr berührt und sehr
nachdenklich gemacht hat“. Entschädi-
gungszahlungen, wie sie derzeit in der ka-
tholischen Kirche diskutiert werden, lehnt
die EKD allerdings weiterhin ab. Der Haus-
haltsplan der EKD, den die Synode be-
schloss, stellt, bei einem Volumen von
222,1 Millionen Euro 1,3 Millionen Euro
für die Aufklärung und Aufarbeitung der
sexuellen Gewalt bereit; ein zusätzlicher
Puffer von bis zu einer Million Euro soll für
mögliche Mehrausgaben bereitstehen.
matthias drobinski  Seite 4

München– Für Bildungsministerin Anja
Karliczek (CDU) bahnt sich neue Unbill an,
und das ausgerechnet bei dem Thema, das
der gelernten Hotelfachfrau besonders am
Herzen liegt: der Aufwertung der berufli-
chen Bildung. Im Streit um die neuen Titel
„Bachelor Professional“ und „Master Pro-
fessional“, die Karliczek im Zuge ihrer
Reform des Berufsbildungsgesetzes für
höher Qualifizierte durchsetzen will, ver-
härtet sich offenbar der Widerstand. Der
Bundesrat, der dem Gesetz zustimmen
muss, damit es am 1. Januar in Kraft treten
kann, wird voraussichtlich den Vermitt-
lungsausschuss von Bundesrat und Bun-
destag anrufen. Das hat am Montag der fe-
derführende Kulturausschuss auf Antrag
von Baden-Württemberg empfohlen. Die
offizielle Entscheidung wird am 29. No-
vember im Plenum des Bundesrats gefällt.
„Die Abschlussbezeichnungen ‚Bache-
lor Professional‘ und ‚Master Professional‘
stiften mehr Verwirrung, als dass sie Be-
rufsabschlüsse aufwerten“, bekräftigte die
baden-württembergische Wissenschafts-
ministerin Theresia Bauer (Grüne) den Vor-
stoß ihres Landes am Mittwoch auf Fragen
der Süddeutschen Zeitung. Trotz vielfacher
Kritik lägen im Bundesrat wieder die alten
Vorschläge vor. „Es wird versucht, den Bun-
desrat zu Zustimmung zu bewegen, indem
die von allen Seiten positiv bewertete Min-
destausbildungsvergütung in demselben
Gesetzentwurf geregelt werden soll. Das
ist kein guter Stil“, sagte Bauer weiter.
Mit den englischen Abschlussbezeich-
nungen für Fortbildungen will Anja Karlic-
zek die berufliche Bildung attraktiver ma-
chen und die Gleichwertigkeit höherer Qua-
lifizierungen mit dem Studium betonen.


So soll sich ein Bäcker, der seinen Meister
macht, „Bachelor Professional“ nennen
dürfen. Jahrelang habe man sich zu sehr
um die akademische Ausbildung geküm-
mert, kritisiert die Ministerin.
Zwar hat der Bundestag ihre Novellie-
rung des Gesetzes, die unter anderem ei-
nen Azubi-Mindestlohn von 515 Euro im
ersten Lehrjahr vorsieht, im Mai beschlos-
sen. Doch in der Bundestagsdebatte waren
die neuen Titel von der Opposition scharf
kritisiert worden. Die FDP sprach zum Bei-
spiel von „Etikettenschwindel“; die Novel-
le wurde mit etlichen Änderungsanträgen
an den Bundesrat überwiesen.

Dort steht der Gesetzentwurf seitdem in
der Kritik. Im Juni sprach sich der Bundes-
rat gegen die geplanten neuen Abschlüsse
aus und verwies auf zahlreiche negative
Stellungnahmen. Sowohl die Hochschul-
rektorenkonferenz (HRK) und Kultusmi-
nisterkonferenz (KMK) als auch Arbeitge-
ber- und Gewerkschaftsvertreter lehnen
die Abschlussbezeichnungen ab.
Noch am vergangenen Freitag hatte die
HRK ihren Einspruch erneuert. In einem
Schreiben an den Bundesrat forderte sie
diesen „dringend“ auf, die Begriffe im neu-
en Berufsbildungsgesetz zu verhindern:
„Ohne Not stellen sie die bisherigen, in der
Gesellschaft, Wirtschaft und auf dem Ar-
beitsmarkt fest etablierten und angesehe-
nen Fortbildungsbezeichnungen (wie z. B.
den Betriebswirt, Wirtschaftsfachwirt, In-
dustriemeister usw.) in Frage.“ Da die Titel
„Bachelor“ und „Master“ eindeutig mit
akademischen Abschlüssen assoziiert wür-
den, seien Missverständnisse zu Lasten
von Hochschulabsolventen programmiert.
Karliczeks Vorschläge entsprächen
„nicht den Anforderungen des Bundesra-
tes an eine sinnvolle Überarbeitung der Ab-
schlussbezeichnungen“, rüffelt der Antrag
Baden-Württembergs die Ministerin. Der
Vermittlungsausschuss soll nun „einheitli-
che und eigenständige“ Titel für die berufli-
chen Fortbildungsstufen entwickeln, for-
dert das Land stellvertretend für die vielen
Kritiker. Sollte es tatsächlich so weit kom-
men, dass der Vermittlungsausschuss Kar-
liczek derart eines Besseren belehrt, wäre
das für sie eine weitere Schlappe. Auch bei
dem Nationalen Bildungsrat, den die Bil-
dungsministerin installieren will, ziehen
die Länder nicht mit. susanne klein

von jens schneider

Berlin– Auch an diesem Mittwoch offen-
bartsich im Bundestag zwischen den Par-
teien eine Kluft. Sie scheint seit den Wah-
len vor zwei Jahren noch größer geworden
zu sein. Normalität ist nicht eingekehrt, so
wie auch die Entscheidung nicht normal
ist. So etwas hat es siebzig Jahre nicht gege-
ben, weil es das nicht hat geben müssen,
wie eine Abgeordnete sagt: Geschlossen ha-
ben die Mitglieder des Rechtsausschusses
von Union und SPD, FDP, Grünen und Lin-
ken in einem kurzen Verfahren den Vorsit-
zenden dieses Gremiums abgewählt.
Auch Parlamentarier, die als besonnen
gelten, fanden nun, dass der AfD-Politiker
Stephan Brandner als Vorsitzender nicht
mehr tragbar sei. Ihm werden zahlreiche
Entgleisungen vorgeworfen, vor allem auf
Twitter. „Die zivilisatorische Kraft des
Rechts besteht darin, dass wir uns mäßi-
gen, dass wir uns auf Sachlichkeit ver-
pflichten und dass wir versuchen, auch die
emotionale Hitze aus Situationen heraus-
zunehmen“, sagt der Parlamentarische Ge-
schäftsführer der FDP, Marco Buschmann.
Brandner sei für den Posten ungeeignet.
Der Christdemokrat Jan-Marco Luczak
spricht von einem „klaren Signal gegen
Hass und Hetze“.


Zustimmung kommt vom Deutschen
Richterbund, dessen Vorsitzender Jens
Gnisa sagt: „Das Amt muss so ausgeübt
werden, dass der Inhaber glaubwürdig für
den Rechtsstaat steht. Er muss Vorbild
sein.“ Und sich immer darüber bewusst
sein, dass er „in besonderer Weise Reprä-
sentant des Rechtsstaats ist und auch so
auftreten muss“. Der 53-jährige Brandner,
aus dem Ruhrgebiet stammend und seit
Langem Rechtsanwalt in Gera, hat diesen
Anspruch für den größten Verband der
Richterinnen und Richter, Staatsanwältin-
nen und Staatsanwälte nicht erfüllt.
Die AfD reagiert auf die seit Tagen ab-
sehbare Entscheidung mit einem denkwür-
digen Auftritt. Brandner gibt eine Kostpro-
be seiner eigenwilligen Rhetorik. Die Erklä-
rungen, mit denen Ausschusskollegen ihre
Entscheidung begründen, nennt er „ein
FDJ-Tribunal“, spricht von Heuchelei und
Rechtsbruch. Die anderen Fraktionen bil-
deten „eine Einheitsfront“. An seiner Amts-
führung selbst habe doch nie jemand was
auszusetzen gehabt. Er sei kein schlechter
Vorsitzender gewesen. Nein, er vermute
mal, er sei der beste Ausschussvorsitzende
der letzten siebzig Jahre gewesen.
An seiner Seite reagiert die Fraktions-
vorsitzende Alice Weidel aufgebracht auf


Journalistenfragen, nennt sie „dümmlich“
oder „doof“. Ihr Kollege Alexander Gau-
land setzt zur Attacke gegen die anderen
an. Nein, es gebe keinen Skandal um Brand-
ner, vielmehr sei dessen Entfernung aus
dem Amt eine Zumutung für die Demokra-
tie. Gauland nennt die Abwahl „eine Mi-
schung aus Dummheit und Anmaßung“, er
spricht von einem Tabubruch.
Für den AfD-Fraktionschef ist die Sache
ein schwerer Eingriff in die Rechte der
größten Oppositionspartei. Denn ihr stehe
der Vorsitz in diesem Ausschuss zu, und da-
mit habe die AfD auch das Recht, einen Ab-

geordneten ihrer Wahl zu benennen, er
meint: eben auch Brandner. Gauland und
seine Parteifreunde erinnern daran, dass
der AfD auch der Posten eines Bundestags-
vizepräsidenten verwehrt wird, der ihr laut
Geschäftsordnung zusteht. Ihre Kandida-
ten fallen regelmäßig durch.
Hat die AfD Fehler gemacht, vielleicht
auch Brandner? Gauland will davon nichts
wissen und verweist darauf, dass Brand-
ner sich im Parlament entschuldigt hat,
nachdem er einen Tweet zum Anschlag auf
die Synagoge in Halle geteilt hatte. Danach
aber hatte Brandner mit einem weiteren

Tweet Empörung ausgelöst. Er nannte die
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes
an Udo Lindenberg durch den Bundespräsi-
denten einen „Judaslohn“. Der Rockmusi-
ker hatte über die AfD geschimpft.
Brandner bewertet nun seine Abwahl
als „weiteren Tiefpunkt für den Parlamen-
tarismus in Deutschland“ und kündigt
dann an, weiter im Ausschuss mitzuarbei-
ten. Dort übernimmt erst mal der stellver-
tretende Vorsitzende Heribert Hirte von
der CDU die Sitzungsleitung. Aber die AfD
soll den Posten wieder besetzen. Im Aus-
schuss sitzen auch AfD-Mitglieder, die

nicht vom Schlage Brandners sind, von des-
sen Ausfällen parteiintern auch nicht alle
begeistert sind. Brandner sei eben Brand-
ner, heißt es oft schulterzuckend. Aber
interne Widerreden gibt es wiederum in
diesem Fall nicht in der sonst streitfreudi-
gen AfD.
Als Gauland von einem Reporter gefragt
wird, ob die AfD nun eine integre Person
aufstellen werde, raunzt er den Journalis-
ten wütend an: „Wir haben nur integre Per-
sönlichkeiten. Stellen Sie nicht solche Fra-
gen!“ Die AfD wolle nun in der Fraktion be-
raten, wie sie weiter verfahre.  Seite 4

Berlin –Mit einerImpfpflicht gegen Ma-
sern in Kitas und Schulen will der Bundes-
gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)
der gefährlichen Infektionskrankheit bei-
kommen. Der Bundestag soll am Donners-
tag beschließen, dass Eltern, die keinen
Nachweis über eine Masernimmunität ih-
res Kindes erbringen, mit einer Geldbuße
von bis zu 2500 Euro oder einem Aus-
schluss aus der Kita rechnen müssen. Künf-
tig sollen Gesundheitsämter zunächst El-
tern, die innerhalb einer Frist keinen Nach-
weis vorlegen, zu einer Beratung einladen
und sie dort zum Impfen auffordern. So
könnten Familien, die das Impfen schlicht
vergessen haben, das Bußgeld noch abwen-
den. Die Impfverpflichtung soll ebenfalls
für Personal in Kitas und Schulen sowie für
Beschäftigte in medizischen Einrichtun-
gen gelten.
Auch in Flüchtlingsunterkünften sollen
die Bewohner und Mitarbeiter Masern-
Impfungen nachweisen. Für Menschen,


die aus medizinischen Gründen nicht ge-
impft werden können, sowie für Personen,
die vor 1970 geboren sind, gilt die Impf-
pflicht nicht. Wer schon einmal die Masern
hatte, muss auch nicht mehr immunisiert
werden, denn der Körper ist dann dauer-
haft vor den Viren geschützt. Kinder, die be-
reits in einer Kita untergebracht sind, und
Mitarbeiter müssen den Impfnachweis bis
Ende Juli 2021 erbringen, die Impfpflicht
soll ab März kommenden Jahres gelten.

Die Impfung sei lediglich „ein kleiner
Nachteil, eine kleine Belästigung“, sagte
der CDU-Gesundheitspolitiker Rudolf Hen-
ke. Sie sei aber „ein großer Vorteil für die
Menschen, die selbst nicht geimpft wer-
den dürfen und sonst schutzlos der Infekti-

on mit einer Krankheit ausgesetzt wären,
die sie das Leben kosten kann“. Sylvia Ga-
belmann von den Linken kritisiert dage-
gen die Pläne: „Zwang und Sanktionen ma-
chen misstrauisch, viel besser sind Über-
zeugung, Vertrauen, Freiwilligkeit und bes-
sere Angebote“, sagte sie.
Kinderärzte unterstützen die Impflicht,
werben aber auch für weitere Maßnah-
men. „Alle Kinder sollten gegen Masern
geimpft werden, weil das ihr Leben
schützt“, sagte Hans-Iko Huppertz, Vor-
standsmitglied der Deutschen Gesell-
schaft für Kinder- und Jugendmedizin. Er
forderte auch, Ärzte, die von Impfungen ab-
raten, zur Verantwortung zu ziehen. Laut
Huppertz müssten allerdings nicht nur
Säuglinge und Kleinkinder geimpft wer-
den, sondern auch ältere Jugendliche und
Erwachsene. Bei Menschen in diesem Alter
bestehen Impflücken, sie würden von den
bisherigen Plänen aber nicht erfasst.
kristiana ludwig  Seite 4

Anja Karliczek will dem Betriebswirt ei-
nenneuenTitel geben. FOTO: JOHANNES SIMON

Bis zu 2,3 Millionen Euro für die
Aufarbeitung sexueller Gewalt

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 (^) POLITIK HMG 5
Denkwürdiger Auftritt: der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner (Mitte) zwischen seinen Fraktionschefs Alice Weidel und Alexander Gauland.FOTO: B. VON JUTRCZENKA/DPA
Abgang rechts
Nach etlichenEntgleisungen verliert der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner den Vorsitz
im Rechtsausschuss. Auf die Abwahl reagieren er und seine Parteifreunde mit Beschimpfungen
Auch bei Jugendlichen und
Erwachsenen gibt es Impflücken,
sie betrifft die Maßnahme nicht
Zwei Prozent
für den Frieden
Die EKD will zudem vergleichbare
Zahlungen für Missbrauchsopfer
AfD-Chef Alexander Gauland
spricht von einer „Mischung
aus Dummheit und Anmaßung“
Masern-Impfpflicht ab März
Der Bundestagsoll das Gesetz beschließen – Verweigerern drohen Strafen
Desaster um den Master
Die Bildungsministerinwill neue Titel für Berufsabschlüsse. Die Länder lehnen das ab
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