Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
EINE PUBLIKATION VON SMART MEDIA

014 LEGAL TECH


TEXT RÜDIGER SCHMIDTSODINGEN

»Wir schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein Thema«


D


r. Christian F. Bosse ist Managing
Partner von EY Law für Deutsch-
land, Österreich und die Schweiz. Von
Stuttgart aus berät der Experte für Handels-
und Gesellschaftsrecht national und multinati-
onal tätige Unternehmen. Seit 2017 ist er auch
verantwortlich für den Bereich Legal Te ch.

Herr Dr. Bosse, können sich
Unternehmen, aber auch Anwälte auf
die digitalisierte Rechtsberatung freuen?
In jeder Hinsicht. Es gibt keinen Grund, Ängste
zu haben, denn die neuen Tools unterstützen die
anwaltliche Arbeit. Nehmen Sie zum Beispiel
die Dokumentenerstellung. Früher musste man
ein Word-Template anlegen und dann alle Da-
ten neu eingeben. Das dauerte mintunter lange
und war überdies auch fehleranfällig. Heute ge-
ben Sie die Daten in eine vorgefertigte Maske
ein, mit der Folge, dass das Dokument deutlich
schneller und automatisiert erstellt werden kann.

Inwieweit kann Legal Tech
auch die konkrete, individuelle
Beratung verbessern?
Bei standardisierten Fragestellungen kann
Legal Tech durchaus die konkrete Beratung
übernehmen, etwa durch Chatbots oder Self-
Service-Portale. Wir bei EY haben selbst
ein Tool zum Thema Scheinselbständigkeit
entwickelt, mit dem man schnell feststellen
kann, ob und wie man betroffen ist. Wir sehen
neben der Technik außerdem, dass Alternative
Legal Service Provider die Bearbeitung von
Low-Risk-Themen übernehmen. Das müssen
nicht mehr hochqualifizierte Juristen tun.

Sie wollen Mandanten auch dabei unter-
stützen, sich rechtssicher größeren Heraus-
forderungen zu stellen. Was bedeutet das?
Die großen Herausforderungen für Unter-
nehmen sind derzeit sicher die Tr ansfor-
mation von Geschäftsmodellen und damit

auch die Tr ansformation der Rechtsabtei-
lungen. Die Risiken werden internationaler
und komplexer. Wir unterstützen unsere
Mandanten dabei, Vorgänge zu identifizie-
ren, die standardisiert werden können. Was
sind Vorgänge, bei denen hochqualifizierte
Spezialisten benötigt werden? Wo sind im
juristischen Bereich Legal Tech-Lösungen
möglich, die der Rechtsabteilung nicht-ju-
ristische, zeitfressende Tätigkeiten abneh-
men können?

Wie lokalisieren Sie Fallstricke
und Möglichkeiten?
Wir von EY verfolgen einen ganzheitlichen
Ansatz. Sicher auch aufgrund unserer ver-
schiedenen fachlichen Disziplinen, die wir ab-
decken. Es geht für unsere Mandanten nicht
nur um die technischen Herausforderungen,
denen sich ein Unternehmen stellen muss. Wir
begleiten auch beim Change Management, um

das gesamte Te am mitzunehmen. Schließlich
beleuchten wir auch die steuerlichen Aspekte
und juristischen Ri-
siken. Wir haben die
Infrastruktur und Kom-
petenzen, um auch bei
Projekten rund um den
Globus ganzheitlich be-
raten zu können.

BRANDREPORT EY


Rechtsanwälte
Weltweit: über 2400
Deutschland: über 190
Standorte
weltweit: 13 5 Standorte
in über 80 Ländern
Deutschland: 12 Standorte

E


s klingt ganz einfach. Auf der Website
wenigermiete.de gibt man in wenigen
Schritten seine aktuell gezahlte Miete
ein und kann dann sehen, ob man zu viel zahlt
und gegen seinen Vermieter vorgehen kann.
Die in Berlin beheimatete LexFox GmbH,
vormals Mietright GmbH, die hinter dem
Service steckt, ist binnen kurzer Zeit zum An-
laufpunkt zahlreicher verzweifelter Mieter*in-
nen geworden – und verspricht auch Hilfe
bei unzulässigen Renovierungsforderungen,
fehlerhaften Kündigungen und möglichen
Mietminderungen wegen Wohnungsmängeln.

Der Clou der Sache: Der Mieter kann seine
Ansprüche umgehend an LexFox abtreten,
diese wendet sich dann an den Vermieter, um
die zu viel gezahlte Miete zurückzufordern.
Weigert sich der Vermieter, wird ein Anwalt
eingeschaltet. I m Erfolgsfall berechnet die Fir-
ma dem Mieter ein Drittel der Jahresersparnis
und dann dem Vermieter die »Rechtsverfol-
gungskosten«. 2017 landete ein Fall aus Berlin
erst vor dem Amtsgericht Lichtenberg, dann,
ein Jahr später, vor dem Berliner Landgericht.
Beide stellten zu Gunsten der Vermieterfirma
eine unzulässige Rechtsberatung fest, auch
wenn die im Auftrag des Mieters arbeitende
Gesellschaft sich im Hauptschwerpunkt als
Inkassounternehmen definiere.

Bahn frei für Legal-Tech-Startups?
Nun geht der Fall vors Bundesverfassungsge-
richt, das am 27. November sein Urteil ver-
künden will. Knackpunkt ist nun offensicht-
lich, ob die Inkasso-Tätigkeit des Anbieters

ins unlängst modernisierte Rechtsdienstleis-
tungsgesetz passt oder nicht. Da der Verbrau-
cher durch den angebotenen Dienst ja nicht
geschädigt, sondern im Gegenteil, auch bei
zunächst klein erscheinenden Summen, in sei-
nen Rechten gestärkt wird, rechnen Experten
mit einem Erfolg für das Startup. Ein Erfolg,
der weitere Firmen auf den Plan rufen könnte.

Nicht nur bei der Mietpreisbremse, auch bei
Fluggastentschädigungen oder Schadens-
ersatzforderungen im Dieselskandal mischen
Legal-Tech-Startups bereits fleißig mit. Der
Service flightright.de berechnet blitzschnell,
was den Passagieren wegen verspäteter oder
abgesagter Flüge zusteht, auf der Website
verbraucherritter.de können Dieselfahrer*in-
nen prüfen, ob sie mit einer Einzelklage ge-
gen den VW-Konzern vorgehen können, um
Entschädigung oder sogar den kompletten
Kaufpreis ihres manipulierten Autos erstattet
zu bekommen.

Die Masse macht’s
Dass Legal Tech die Rechtsberatung revolu-
tioniert, stimmt womöglich nur zur Hälfte.
Die Digitalisierung der juristischen Arbeit oder
auch die davor geschaltete Informationsbereit-
stellung einzelner Firmen unterstützt nämlich
vor allem die Verbraucher, die früher nicht vor
Gericht gegangen sind. Viele schluckten ihren
Ärger aus Zeitgründen oder unklaren Anwalts-
kosten herunter. Dank neuer Analyse-Tools,
die vom Verbraucher in einem ersten Schritt
selbst bedient werden können, kann sich eine
Masse von Geschädigten Gehör und auch eine

Möglichkeit der Beratung verschaffen, die es
früher so schnell und einfach nicht gab.

Das Ganze geht dabei nicht unbedingt zu Las-
ten der Anwälte. Denn jeder, der einmal in einer
Kanzlei gearbeitet hat, weiß: Allein das Erstel-
len und Durchsehen von Dokumenten oder das
Formulieren von Klagen frisst ungeheure Zeit.
Legal Te ch verspricht gerade in den Bereichen
der Dokumentenanalyse und Vertragserstellung
Abhilfe, sodass sich Rechtsanwält*innen ver-
mehrt auf Aufgaben, die eben nicht standardi-
sierbar sind, konzentrieren können.

Schnelle Hilfe
Dass Startup-Firmen auch von der Nervosi-
tät der Moderne profitieren, ist andererseits
offensichtlich. Nervenaufreibende Gerichts-
verfahren, die sich über Monate oder Jahre
hinziehen, könnten, zumindest in einfa-
cheren Bereichen, bald der Vergangenheit
angehören. Digitalisierte Services machen
nämlich über kurz oder lang auch Rechts-
anwälte selbst zu Auskunftsmaschinen und

einer Art Rechtspolizisten, die bitte schnell
reagieren müssen.

Zwei Beispiele: Im Bereich des Schulrechts,
Stichwort Inklusion, wenden sich Eltern mit
ihrem von der Lehrerin mehrfach drangsalierten
Kind an einen Anwalt, der umgehend einschrei-
tet und der Schulleitung einen Brief schickt.
Woanders kann sich ein mit einer unzulässigen
Zeitmietklausel geknebelter Mieter via Chatbot
versichern, dass er seinen Vertrag jederzeit in
der üblichen Drei-Monats-Frist kündigen kann.
Schnelle Hilfe, schnelle Erleichterung.

Erweiterter Rechtsmarkt
Christophe Chevalley, Geschäftsführer von
Rocket Lawyer Europe, lobt denn auch: »Ein
einfacher Zugang zu fairer und erschwing-
licher Rechtsberatung erweitert den Rechts-
markt«. Während einige Investoren und
Firmen schon mit den Hufen scharren, um
möglichst schnell eine möglichst breite Masse
von Verbrauchern kostengünstig zu beraten,
wird andererseits aber auch klar, dass die Ex-
pertise erfahrener Anwälte durch Legal Tech
nicht weniger gefragt sein wird.

Um wirklich Erfolg zu haben, auch was eine
überdurchschnittliche monetäre Kompensierung
von Schäden oder Rechtsverstößen angeht, wird
es weiter umsichtige Anwält*innen brauchen, die
sich dann doch Auge in Auge individuell mit
dem jeweiligen Mandanten unterhalten wollen,
um alle Aspekte und Folgen eines Falles auszu-
loten. Sie werden weiter etwas offerieren, was das
schönste Tool nicht bieten kann: Zeit.

Die Digitalisierung der juristischen Arbeit wird die standardisierte Rechtsberatung umkrempeln und kostengünstiger machen. Während Investoren
in den Startlöchern stehen, um US-Modelle auf den deutschen Markt zu übertragen, zieht ein Tool-Erfinder zunächst selber vor Gericht.

TEXT RÜDIGER SCHMIDTSODINGEN

Wird guter Rat jetzt billig?


Dass Legal Tech


die Rechtsberatung


revolutioniert,


stimmt womöglich


nur zur Hälfte.

Free download pdf