Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1
von antje weber

D


as Paradies? Gibt es nicht. Zumin-
dest ist es in Ingo Schulzes Roman
„Adam und Evelyn“, der mit dem
biblischen Mythos vom Sündenfall spielt,
nicht leicht zu finden. Eine Ahnung davon,
wo es liegen könnte, hat der Schriftsteller
allerdings schon. Er sieht es in diesem Ro-
man, der ein Liebespaar aus der DDR im
flirrenden Sommer 1989 begleitet, in fol-
genden Sätzen angedeutet: „Glaubst du
wirklich, dass alles weitergeht wie bisher?
Das wäre doch absurd!“ Wenn jemand auf
Veränderungen zum Besseren hofft, so
darf man das deuten, kann er dem Para-
dies immerhin nahekommen.
Das Paradies – samt der Wege, wie man
es erreichen kann – beschäftigt den Schrift-
steller Ingo Schulze immer wieder. „Ein-
übungen ins Paradies“ hat er ein weiteres
seiner Bücher genannt. Und „Einübungen
ins Paradies“ hat er nun auch als Motto für
das Forum : Autoren gewählt. Beim zehn-
ten Literaturfest-Forum will er als Kurator
„Fragen an die Welt nach 1989“ stellen.
Denn den „Ostler vom Dienst“, der aus-
schließlich 30 Jahre Mauerfall abarbeitet,
möchte der 1962 in Dresden geborene
Schriftsteller nicht geben – und so weitete
er das Spektrum der Fragen in Raum und
Zeit kurzerhand beträchtlich aus.


Dabei war Schulze spätestens bei Er-
scheinen seines Romans „Adam und Eve-
lyn“ 2008 klar geworden, dass er durch-
aus das „Klischee vom Wendeautor“ be-
dient. In seiner damaligen Leipziger
Poetikvorlesung wies er – im Wissen um
die Vergeblichkeit – darauf hin, dass von
seinen fünf bis dahin veröffentlichten Bü-
chern nur „Neue Leben“ um den „Welten-
wechsel“ kreise. Die Folgen der tief grei-
fenden Systemveränderungen nach 1989
jedoch schwingen in fast all seinen Wer-
ken mit, in den ersten Erzählungen „33 Au-
genblicke des Glücks“ über die schrillen
Gegensätze im Sankt Petersburg der Neun-
zigerjahre ebenso wie in den „Simplen
Storys“, einem „Roman aus der ostdeut-
schen Provinz“. Auch die Stoßrichtung des
zuletzt erschienenen Schelmenromans
„Peter Holtz“ ist klar zu erkennen: Ein nai-
ver Tor erzählt hier seinen unfreiwillig ko-


mischen Weg vom sozialistischen Staat in
die kapitalistische Marktwirtschaft.
Ingo Schulze, das wird in jenem Roman
einmal mehr deutlich, ist ein eminent poli-
tisch denkender Intellektueller. Einer, der
auch stets die Bedeutung der Sprache
mitreflektiert: Einen Begriff wie „Wende“
zum Beispiel kann er nicht leiden, am
liebsten spricht er vom „Weltenwechsel“.
Und an diesem in seinen Augen allzu
schnellen Übergang von einem System
zum anderen hat er sich über die Jahrzehn-
te als Journalist, Essayist und Roman-
autor immer wieder abgearbeitet. „Mein
Problem ist nicht das Verschwinden des
Ostens, sondern das Verschwinden des
Westens unter der Lawine einer selbst ver-
schuldeten Ökonomisierung aller Lebens-
bereiche, die Begriffe wie Freiheit und De-
mokratie zunehmend zum Popanz
macht“ – Sätze wie diese, vor Jahren in der
Darmstädter Akademie gesprochen, kann
man in Abwandlung immer wieder von
ihm hören und lesen. Denn Schulze ist da-
von überzeugt, „dass politische Freiheit
ohne soziale Gerechtigkeit fragwürdig ist
oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehrt“


  • noch so ein Satz von ihm, über den man
    lange nachdenken und diskutieren kann.
    Dazu lädt sein Forum: Autoren vom



  1. bis zum 23. November ein. Ingo Schul-
    ze will zusammen mit Autorinnen und Au-
    toren aus unterschiedlichsten Ländern,
    von Lukas Bärfuss über Marion Brasch
    und Petina Gappah bis Salman Rushdie,
    der „Zäsur nachspüren“, die 1989 für sie
    bedeutete. Wobei Schulze sich da gar nicht
    festlegen will: Vielleicht sei für einen bos-
    nischen Schriftsteller wie Dževad Karaha-
    san ja die Zeitmarke 1992 wichtiger. Auch
    eine erst 1995 geborene mexikanische
    Autorin wie Aura Xilonen könne darüber
    nachdenken, findet Schulze, weshalb er al-
    le anreisenden Autoren eigens Texte zum
    Thema schreiben ließ. Auch an räumliche
    Analogien denkt er; was damals die Span-
    nung zwischen Ost und West gewesen sei,
    werde heute vielleicht zwischen Nord und
    Süd verhandelt. Kurzum: Es geht um Um-
    brüche in vielerlei Hinsicht, über die bei ei-
    nem Symposium auch Ökonomen, Histori-
    ker und Soziologen reden sollen.
    Die Literatur wird dabei aber sicher
    nicht zu kurz kommen. Denn von deren
    Kraft ist Ingo Schulze überzeugt, seit er als
    knapp Vierzehnjähriger bei der Ausbürge-
    rung von Wolf Biermann aus der DDR er-
    kannte: „Gedichte können einen Staat ins
    Wanken bringen.“ Er glaubt auch: „Litera-
    tur ist dafür da, dass man mit bestimmten
    Erfahrungen nicht allein bleibt.“ Man darf
    das Wort „Literatur“ in diesem Satz ge-
    trost durch „Literaturfest“ ersetzen. Unter-
    haltsam könnte dieses Fest, bei aller Ernst-
    haftigkeit des Themas, übrigens auch
    werden. Denn Ingo Schulze ist ein so ent-


waffnend offener, lockerer und neugieri-
ger Gesprächspartner, dass sich vielleicht
auch die Münchner ein bisschen locker
machen und mit ihm Antworten auf große
Fragen suchen. Um dem Paradies auf Er-
den ein wenig näher zu kommen.

Fragen an die Welt nach 1989. Autoren lesen ihre ei-
gens für das Fest geschriebenen Texte im Literatur-
haus; 14.,15., 18., 19., 20., 21., 22. November, je-
weils 18.30 Uhr.

Ingo Schulze beschäftigte
sich alsJournalist
und Romanautor
immer wieder mit
den Veränderungen
seit der Wende. Als Kurator
des Forum : Autoren
ließ er einige Teilnehmer
Texte zu diesem Thema
verfassen.
FOTO: CATHERINA HESS

Näher


ans


Paradies


Ingo Schulze spürt


im Forum : Autoren


den Umbrüchen


und dem


Wandel der Welt


seit 1989 nach


Gedichte können
einen Staat ins
Wanken bringen.
Das lernte Schulze
als Teenager durch
Wolf Biermanns
Ausbürgerung

Donnerstag, 7. November 2019, Nr. 257 LITERATURFEST MÜNCHEN 3

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