Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.11.2019

(Greg DeLong) #1

Ob es stimmt, dass Autoren eigentlich im-
mer an einem einzigen großen Text schrei-
ben? Und Dichter an einem einzigen le-
benslangen Gedicht? Für Eugeniusz
Tkaczyszyn-Dycki jedenfalls scheint dies
zuzutreffen. Er dichtet, meist balladesk,
ohne Punkt und ohne Komma. Wie bei
Baudelaire tauchen die Gedichtanfänge
aus Abgründen auf. Durch obsessives Spre-
chen, das auf semantischen, syntaktischen
und klanglichen Bahnen kreisend immer
neu ansetzt, versucht er, eigenen und kol-
lektiven Obsessionen – Eros, Krankheit,
Tod – Raum zu geben, zuallererst der
schwulen Subkultur sowie der paranoiden
Schizophrenie seiner im Dorf verachteten
und verstoßenen Mutter.
Dycki, 1962 geboren, wuchs an der
Grenze zur Ukraine auf, mit Chachla-
kisch, einem aussterbenden polnisch-
ukrainischen Dialekt, der auch weißrussi-
sche und russische Elemente enthält. Pol-
nisch lernte Dycki erst in der Schule.
„mein zuhause ist meine sprache“, heißt
es wiederholt, ein andermal: „mein zuhau-
se ist der transport also an der seite mei-
ner mutter im viehwaggon“.
Sein Schreiben zielt darauf, verminte
Gelände, verschwiegene Geschichten und
verschwundene Menschen in Namen und
Bezeichnungen fortleben zu lassen, zual-
lererst die Erinnerungen an sein Heimat-
dorf Wólka Krowicka, seine Mutter, seine
Familie, die Nachbarn. Der Vater ein
Pole, der Großvater ein Soldat der Ukrai-
nischen Aufständischen Armee (UPA),
die 1944 auch Dyckis Heimatdorf überfie-
len. Mit den Orten und Menschen werden
auch ihre Gewaltverhältnisse bewahrt,


die der Autor teils selbst nur vom Hörensa-
gen zu kennen scheint. Bei aller Brutalität
der Verhältnisse transportiert die Sprache
immer wieder große Zärtlichkeit.
Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki gehört zu
jener jüngeren polnischen Dichtergenerati-
on, die in Distanz zum Kollektiven des so-
zialistischen Polens nach neuen Ausdrucks-
formen sucht – wider die Erhabenheit, wie
Esther Kinsky die Distanz der Jüngeren zu
den Dichtervätern Miłosz, Herbert oder
Zagajewski einmal beschrieb. Die Spra-
che, von ethischen Verbindlichkeiten be-
freit, beschwört Bilder herauf, die im

Wachtraum angesiedelt sind, zwischen
Wirklichkeit und Phantasie.
Zur Obsession gehören litaneiartige
Wiederholungen, in denen die Sprache
um Wirklichkeit ringt und mit ihr hadert:
„im nebenzimmer stirbt meine mutter“
begann der Band „Die polnische Ge-
schichte“. Und „Norwids Geliebte“ setzt
wiederholt an mit: „mich besuchen men-
schen, die es heute nicht mehr gibt“. Dy-
cki, der seine Mutter, wie er sagt, „nie bei
gesundem verstand“ sah, gibt ihr den
Raum, den die Gesellschaft ihr verwei-
gert. „meine mutter (weggesperrt / in

Žurawica, Węgorzewo, / Jarosław) muss-
te immer irgendjemandem gehören / den
sie sich erfand erdachte / oder den man
ihr vorstellte / im traum“. Das Reden
stockt und verläuft sich, leuchtet die
Schmerzzonen des Lebens aus und fre-
quentiert die Randzonen der polnischen
Gesellschaft – Sterbezimmer, Bahnhofs-
toiletten, Friedhöfe und Stricherbars.
Die Verse, die oft an scheinbar sicheren
Ufern beginnen, treiben hinaus aufs Eis,
als sei das Sprachmaterial selbst eine Lei-
ter, nicht zuletzt auch eine Klangleiter,
die der Autor über den gefrorenen See
der Sprachlosigkeit auslegt, um ein we-
nig näher heranzukommen an Scham,
Schuldgefühl und Ohnmacht.
Woran hält man sich, aufgewachsen mit
einer schizophrenen Mutter in einem
Land, das seine Geschichte nicht kennen
will und nicht zu sich kommt? In einer Ur-
szene imaginiert sich die vereinsamte Mut-
ter, die ihm einst „fruchtsuppe aus kno-
chenbrühe“ kochte, als Geliebte des ro-
mantischen Dichters Cyprian Norwid und
rezitiert lallend dessen Verse. Der Sohn,
zu ihren Füßen liegend, begreift das Ge-
schehen auf seine Weise: „das wirkliche
und das unwirkliche wird ein leib“ – in ih-
rer Krankheit wie in seiner Dichtung.
Der Band „Norwids Geliebte“ befragt
tatsächlich mehr noch als Dyckis bisheri-
ge auf deutsch erschienenen Bände die
Kraft der Poesie, die Frage, wie die eitri-
gen und „schmutzigen Lumpen“ des Le-
bens in der Dichtung erinnert werden
können. Archaisches mischt sich ebenso
hinein wie das Chachlakisch der Kind-
heit: für hnilki (Fallobst) und erst recht

für die biuckzki (die süßesten Wildkir-
schen) gebe es, schreibt der Autor, keine
Sprache, „aber was waren das für kirsche-
lein mein gott“. Das „gedicht, das Ge-
nicht“ entzieht sich dem Zugriff, wie
einst die Mutter sich dem Transport.
Auch Nichtgesehenes will benannt sein,
damit es weiterexistiert.Dyckis Dichtung
hat kein Zuhause, doch sie lebt nicht zu-
letzt aus Bezügen zu anderen Sprachwel-
ten, darunter zu denen Julia Hartwigs, Zu-
zanna Ginczankas oder des Renaissance-
Dichters Jan Kochanowski. „mögen eure
namen niemals aufhören, mich anzutör-
nen“, liest man – im Deutschen ganz ne-
benbei eine Klangleiter auf „Ö“.
Michael Zgodzay und Uljana Wolf sind
für ihre Übersetzung tief in das System
der Dopplungen, der schwebenden Bezü-
ge und Entsprechungen eingetaucht und
haben in Klang und Rhythmus den Sog
des Originals ebenso wie dessen inhären-
te Irrwege und Verwirrungen nachgebil-
det. Die Übersetzungen überzeugen als
eigene Gedichte, und daher ist es ein
Glück, die Unbedingtheiten und Ungehö-
rigkeiten von Eugeniusz Tkaczyszyn-Dy-
cki in ihrer Übertragung lesen zu kön-
nen. MARIE LUISE KNOTT

Die Sturmflut vom Februar 1962 ist in
Hamburg ein unvergessenes Ereignis.
Mitten in der Nacht rollte von der
Nordsee her eine gewaltige Flutwelle
die Elbe hinauf und zerstörte die Dei-
che. 315 Menschen starben, Tausende
verloren Hab und Gut, wurden ob-
dachlos. Dabei traf es vor allem den
Süden der Stadt, die ärmeren Viertel,
in denen die Hafen- und Werftarbei-
ter lebten, besonders Wilhelmsburg.
Davon erzählt Malte Borsdorf in „Flut-
gebiet“. Auch für den Haupthelden
des kleinen Romans, den fünfzehn
Jahre alten Karl, ist die Flut ein ein-
schneidendes Erlebnis. Er wird buch-
stäblich über die Sturmnacht hinweg
zum Erwachsenen. Eigentlich soll er
genau wie sein Vater im Hafen arbei-
ten, jedenfalls kann sich der Vater gar
nichts anderes vorstellen. Borsdorf
schildert diese Arbeit. Sie ist hart und
schlecht bezahlt. Ein Teil des erarbei-
teten Geldes wird immer gleich in die
Kneipen getragen. Karl quält die Aus-
sicht, jeden Tag dorthin zu müssen,
auch wenn einmal über ihn gesagt
wird, er habe dafür ein Naturtalent.
Karl ist ein Büchernarr, er liest alles,
was ihm unterkommt. In den Bü-
chern, die er sich aus der Bibliothek
holt, findet er manchmal – eine kleine
feinsinnige Beobachtung des Autors –
eine Werbung für „Pfandbrief und
Kommunalobligation“, ohne eine Ah-
nung, was das sein könnte. Karls Va-
ter ärgert sich über die Bücher: „Ver-
derben unsere Leute. Bibliotheken.“
Einmal, als Karl kurze Zeit im Ge-
fängnis sitzt und kein Buch dabeihat,
gibt ihm sogar die im Spind befestigte
Anstaltsordnung Halt im völlig durch-
einandergewirbelten Leben. Karl ist
in die Haftanstalt Hahnöfersand ge-
kommen, weil sein Vater bei einem
Zwischenfall starb. Karl gilt zunächst
als sein Mörder, die Sache klärt sich
auf. Der Junge kehrt aus der Haft
nach Wilhelmsburg zurück. Während
der Sturmflut hatte er ein Mädchen
kennengelernt, jetzt sieht er es wie-
der. Zwischen beiden bahnt sich et-

was an. Was genau, das lässt Bors-
dorf offen, aber in der Enge der Wil-
helmsburger Welt, so fühlt der Leser,
ist jeder Ausgang willkommen.
„Flutgebiet“ tarnt sich als Katastro-
phenroman, der im Hamburger Prole-
tariermilieu spielt. Wer die Tarnung
erkennt und sich nicht abschrecken
lässt, erlebt auch für sich eine Sturm-
flut. Die Welle des Erzählens trägt ei-
nen davon. Das liegt vordergründig
daran, dass die Geschichte spannend
ist. Sie ist aber alles andere als ein Kri-
mi. Unerbittlich genau schildert Bors-
dorf das Wilhelmsburger Milieu, vor
allem eine Kneipe namens „Kogge“.
Bier, Schnaps und Zigaretten gehö-
ren zur Grundausstattung, dazu die
gelallten Geschichten betrunkener
Männer aus der Kriegs- und der Nach-
kriegszeit, nicht zu vergessen der
Sparschrank. Es gibt Soleier, die ge-
gen den Kater helfen sollen. Karls
Mutter kocht, meist gibt es Suppe.
Leider hat die Kneipe noch keinen
Fernseher, so dass sie sich leert,
wenn „Familie Hesselbach“ läuft.
Nach der Flut aber sammelt die zu-
fällig unversehrt gebliebene Kneipe
das menschliche Strandgut ein. Das
Hinterzimmer erweist sich als bislang
abgetrennter Teil eines Saales. Jetzt
öffnet sich die Weite des Raumes, um
Platz für alle zu schaffen. Die Flut
spült hinweg, was war, im Wortsinn
wie im übertragenen Sinn. Symboli-
sche Bilder gibt es immer wieder bei
Borsdorf, aber nie aufdringlich. Dass
das so gelingt, hat mit seiner Sprache
zu tun. Sie ist ganz schlicht, aber doch
so kunstvoll, dass sich der Dauerre-
gen am Anfang darin wiederfindet,
dann der Sturm und schließlich die
Stille nach dem Sturm und das Tag-
hell, das den Blick auf die Verwüstun-
gen freigibt. Borsdorfs Dialoge sind le-
bendig. Karl hat in einer zerfledder-
ten und flutfeuchten Ausgabe Hein-
rich Bölls „Ansichten eines Clowns“
in einem Rutsch durchgelesen. In der
„Kogge“ folgt dann dieses Gespräch:
„,Kennen Sie Heinrich Böll?‘, fragte
Karl. Oke starrte in die Luft. ,Nein‘,
sagte er, ,der ist mir nicht bekannt.‘ Er
kratzte sich am Kinn. ,Arbeitet der bei
uns?‘“ Die namensgebende Kogge
hängt über dem Tresen. Nur jene, die
wirklich dazugehören, wissen, was
das Schiffsmodell enthält: eine Fla-
sche mit dem besten Korn des Hau-
ses. Am Schluss darf Karl den Korken
aus der Kogge ziehen und kriegt ein
Glas ab: „Hoch die Tassen!“ Es ist ei-
nes der fesselnden Bücher, in denen
die Welt der Literatur es schafft,
scheinbar mühelos stärker zu sein als
die wirkliche. FRANK PERGANDE

D

er Hund hat es gewusst, sein
Jaulen war eigentlich unab-
weisbar, und dass sein Herr,
der arme Fischhändler Tora-
rin, trotz der offensichtlichen Warnung
seines Begleiters der nächtlichen Einla-
dung des Pferdeknechts Olof Folge leis-
tet, ist erstaunlich mutig. „Komm doch in
die Stube“, sagt Olof, „Herr Arne erwar-
tet dich.“ Nur dass Torarin sehr gut weiß,
dass alle tot sind, die noch vor einer Wo-
che hier gelebt haben, Herr Arne, dessen
Frau und alle Diener, natürlich auch Olof,
der damals „mit einer klaffenden Wunde
am Hals neben den anderen Leichen im
Schnee gelegen“ hatte.
Torarin also tritt ein in die Stube von
Herrn Arnes Pfarrhof Solberga, wo es
kürzlich noch gebrannt hatte und drei
Raubmörder alles niedergemetzelt hat-
ten, was ihnen vor die Messer kam. Er
steht vor der großen Tafel, genau wie da-
mals, als er kurz vor dem Überfall bei
Herrn Arne zu Besuch gewesen war. Er
sieht den alten, reichen Mann, neben
ihm seine Frau und der Hilfspfarrer, die
Knechte und Mägde und schließlich
Herrn Arnes vierzehnjährige Enkelin.
Ob denn die Mörder nun bestraft wür-
den, will der Pfarrer von Torarin wissen.
Nein, antwortet der, schließlich seien die
drei Männer doch ausweislich der Spuren
ihres Schlittens auf das gefrorene Meer
hinaus gefahren, eingebrochen und er-
trunken. Herr Arne lässt das nicht gelten
und fragt noch zweimal, ob die Lebenden
ihn und die Seinen rächen würden. Als
Torarin dies zum dritten Mal verneint
hat, beginnt Herr Arne unter den Toten
ein grausiges Abzählen zum lateinischen
Vaterunser. Am Ende zeigt sein Finger
auf die Enkelin. „Du weißt, was du zu tun
hast“, sagt er.
Die Erzählung „Herrn Arnes Schatz“,
erschienen 1904, gehört zu den reifsten
und abgründigsten Werken Selma Lager-
löfs. Die Autorin, geboren 1858 im schwe-
dischen Marbacka, starb 1940 ebendort,
und den zweiten Lebensabschnitt auf
dem Gut am Rande des Frykensees hat
sie sich hart erkämpft. Ihr Vater, ein Alko-
holiker, hatte das Gut heruntergebracht,
es musste verkauft werden, und Selma La-
gerlöf, die eigentlich als Lehrerin ausge-
bildet worden war, konnte es sich erst
durch ihre Erfolge als Schriftstellerin –
1909 bekam sie als erste Frau den Litera-
turnobelpreis – leisten, das Gut zurückzu-
kaufen, zu betreiben und auszubauen. Mit
Dämonen kannte sie sich also aus, und

wer ihr Jugendwerk „Gösta Berling“ von
1891 liest, neben „Nils Holgersson“ ihr be-
kanntestes Buch, der trifft sie an allen
Ecken an, und dass am Ende die dämo-
nisch schillernde Teufelsgestalt die ein-
gangs abgeschlossene Wette verliert und
seine Macht einzubüßen scheint, ist allen-
falls ein vorübergehender Sieg. Als Auto-
rin von psychologischen Gruselgeschich-
ten, etwa der prächtigen „Geisterhand“,
wäre Lagerlöf zumindest in Deutschland
noch zu entdecken.
„Herrn Arnes Schatz“ setzt mit dem
von allerlei Vorahnungen begleiteten Ver-
brechen ein, konzentriert sich aber schon
bald auf die Strafe für die Mörder. Dass
man als Leser sehr rasch versteht, dass
die drei vornehm gewandeten schotti-
schen Soldaten, die im Küstenort auf das
Aufbrechen des Eises und die Gelegen-

heit zur Rückfahrt in die Heimat warten,
die Raubmörder sind, die also mitnichten
im Eis eingebrochen waren und nun den
titelgebenden Silberschatz aus Herrn Ar-
nes Truhe ausgeben, ist durchaus beab-
sichtigt – der Schrecken dieses Buches
speist sich ja gerade aus dem Offensichtli-
chen und dem Mahlwerk der Sühne, das
sich rumpelnd in Bewegung setzt.
Mittendrin aber steckt die junge Elsa-
bill, ein Waisenmädchen, einst die beste
Freundin der ermordeten Enkelin des
Pfarrers und nur durch einen glücklichen
Zufall dem Morden entkommen. Ver-
steckt hinter dem Ofen, erlebte sie, wie
die Männer ihre Freundin trotz deren Fle-
hens umbrachten, um keine Zeugen zu
hinterlassen. Niemand also kann die
Grausamkeit der Männer so genau ein-
schätzen wie Elsabill. Nur dass sie sich in
einen der Schotten, genannt Sir Archie,
verliebt, noch bevor sie ihn als einen der
Mörder wiedererkennt. Dann gibt sie sich
dem Traum hin, Sir Archie werde sie mit
sich nach Schottland nehmen und seine
Taten bereuen.
„Beim Erwachen am Morgen dachte El-
sabill, dass es in jedem Fall besser wäre,
wenn ein Verbrecher sich zum Besseren
bekehrte und nach Gotte Gebot lebte, als

dass er bestraft und getötet wurde“ – wer
würde da widersprechen? Niemand außer
denjenigen, die zuvor ums Leben ge-
bracht worden sind, allen voran Elsabills
Spielgefährtin, und deren Widerspruch
ist meist wortlos, aber darin umso bered-
ter – ihre blutigen Fußspuren im Schnee,
ihr Weinen in der Kirchenbank, das nur
Elsabill hört, und die Frage, wessen Inter-
essen nun eigentlich mehr wiegen, die der
Lebenden oder die der Toten, durchzieht
den gesamten Text.
Roberta Bergmann hat sich seiner ange-
nommen und ihn mit zahlreichen ganz-
oder gar doppelseitigen Bildern verse-
hen. Mit ihren starken Konturen und den
durchscheinenden Flächen betont sie die
Auftritte der Geister, ihre Hintergründe
sind schlicht, aber wirkungsvoll, beson-
ders die Winterlandschaften gewinnen
eine Wucht, der die Handelnden nicht
viel entgegenzusetzen haben. Die von
Bild zu Bild, selten aber innerhalb der ein-
zelnen Bilder variierten Farben verstär-
ken das noch, so dass die Frage, welche
Möglichkeit dem Einzelnen bleibt, sich ge-
gen das Schicksal zu stemmen, auch auf
der Ebene der Illustrationen gestellt wird.
Aber was bleibt Elsabill für eine Wahl?
Hin- und hergerissen zwischen dem Mit-

gefühl für ihre ermordete Freundin und
deren Leid einerseits und ihrer Liebe zu
Sir Archie andererseits versucht sie
schließlich, beidem gerecht zu werden:
Sie verrät ihn, hofft aber zugleich, dass
man sie dabei nicht ernst nimmt, und sie
warnt ihn, er möge doch im letzten Mo-
ment fliehen. Dass das nicht gutgehen
kann, ist wiederum keine Überraschung,
wobei es Lagerlöf auf Überraschungen
aber auch gar nicht anlegt.
So entwirft sie die Geschichte eines
unausweichlichen Ablaufs, in dem es dem
Einzelnen nur bleibt, sich zu fügen. Rober-
ta Bergmann aber fügt mit ihrem Schluss-
tableau eine eigene Deutung hinzu. Die
Toten haben erreicht, was sie wollten, die
Mörder sind gestellt und werden ihrer
Strafe nicht entgehen. Sie aber haben sich
um das Werkzeug dieses Rachefeldzugs
versammelt, auf ihren Gesichtern steht
kein Triumph, nicht einmal Zufrieden-
heit. Was geschehen musste, ist gesche-
hen, aber die moralischen Kosten waren
hoch, und die Illustratorin scheint die Fra-
ge, die Lagerlöf stellt, ob es die Sache
nämlich wert war, mit ihrem Bild zu be-
antworten. Und bringt so das von der Au-
torin in Gang gesetzte Räderwerk zum
Stehen. TILMAN SPRECKELSEN

Malte Borsdorf:
„Flutgebiet“. Roman.
Müry Salzmann Verlag,
Salzburg und
Wien 2019.
234 S., geb., 19,– €.

Eugeniusz Tkaczyszyn-
Dycki: „Norwids
Geliebte“. Gedichte.
Herausgegeben und aus
dem Polnischen von
Michael Zgodzay und Ul-
jana Wolf. Edition Korre-
spondenzen, Wien 2019.
144 S., geb., 20,– €.

Selma Lagerlöf:
„Herrn Arnes Schatz“.
Illustriert von Roberta
Bergmann. Aus dem
Schwedischen von Maike
Dörries. Kunstanstifter
Verlag, Mannheim 2019.
132 S., geb., 24,– €.

Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki Foto Laif


Das war es, die Toten
sindgerächt. Glücklich
sehen sie trotzdem
nicht aus.
Abb. a. d. bespr. Bd.

Aber was waren das für Kirschelein, mein Gott!


Fruchtsuppe aus Knochenbrühe: Der polnische Lyriker Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki porträtiert seine Mutter als „Norwids Geliebte“.


Und wenn er sich nun

bessern will?

Ab auf


die Kogge


Malte Borsdorfs


Roman „Flutgebiet“


Verbrechen und Strafe: „Herrn Arnes Schatz“


von Selma Lagerlöf stellt die Frage, was die


Toten von uns Lebenden erwarten.


Roberta Bergmann illustriert


die Erzählung mit Einfühlung


und Mut zu einer eigenen


Antwort.


SEITE 12·DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019·NR. 259 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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