Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.11.2019

(Greg DeLong) #1
V

on der Decke hängt als Bild ein
Mann, an dem nur das Gesicht
keine Maske ist, dazu lässt sich
ein Radiofeature über Mischreli-
gionen hören, während zwei Ausstellungs-
besucher ihr lautes Gespräch über zwei
Bände auf einem nahen Büchertisch in
die Radiotonspur mixen. Wenn man sich
umdreht, sieht man Leute vor künst-
lichen Hinterteilen sitzen, in die sie hin-
einschauen, vor bunten Peniskostümen
für Clowns, die in einem Video herumtur-
nen. Eine Puppe sitzt beim Bildschirm,
ein schöner Bärtiger. Dass dessen Hände
so groß sein müssen, hat man beim Pup-
penmachen wohl an Texten eines Men-
schen abgelesen, der aussah wie diese
Puppe (Stimmt das? Sah er so aus?), denn
in diesen Texten wird viel angefasst,
manchmal gestreichelt oder festgehalten,
manchmal losgelassen.
Der Mensch, dem die Puppe ähnelt,
heißt Hubert Fichte. Aus dem wacker pro-
gressiven Weltstadtbohème-Mief der
Hamburger fünfziger und frühen sechzi-
ger Jahre zog es diesen Schriftsteller ins
Weite, geographisch wie werkstrategisch.
Er bereiste Südamerika und Afrika; seine
Lebens- und Kunstpartnerin, die Fotogra-
fin Leonore Mau, schuf dabei Bilder, die
zu seinen Erlebnissen passten oder genau
nicht. Fichte ging von dem aus, was ihm
nah war: der eigenen Homosexualität,
einem enormen Autorenehrgeiz und
einem anregend dauerverfehlt-politi-
schen Ortsbestimmungsinteresse. Sein
Hauptwerk sollte „Die Geschichte der
Empfindlichkeit“ heißen und war auf
zwanzig, fünfundzwanzig oder wer weiß
wie viele Bände angelegt.
Die Kuratoren Anselm Franke und Die-
drich Diederichsen haben diesen Großent-
wurf seit 2017 mit einer weltweiten Ausstel-
lungsreihe supplementiert. Auf deren bis-
herige Stationen Lissabon, Salvador da Ba-
hia, Rio de Janeiro, Dakar und New York
ging es um Ergänzungen und Überschrei-
bungen zu und wider Fichtes Textarbeit,
entstanden in Lebens- und Kunstzusam-
menhängen von ihm besuchter Orte. Da-
mit das möglich war, wurde Fichte in Spra-
chen übersetzt, in denen es ihn andernfalls
wohl noch lange nicht gegeben hätte. Man
kooptierte Künstlerinnen und Künstler, die
sich sonst vielleicht nie mit Fichte befasst

hätten. Die Schau „Liebe und Ethnologie –
Die koloniale Dialektik der Empfindlich-
keit (nach Hubert Fichte)“ im Berliner
Haus der Kulturen der Welt setzt nun samt
Begleitveranstaltungen (einer Tagung
etwa, oder einer Themaführung zur „Ver-
schwulung der Welt“) den vorläufigen
Schlussstein dieser erweiternden Werkspur-
begehung. Die Ausstellung stellt Zeugnisse

von Fichtes Weg neben Sachen und Sach-
verhalte, die bei ihm vorkommen und von
denen andere, die sich hier dazu äußern,
auf nicht immer ganz einfach darstellbare
Art „mehr“ (oder: anderes) „verstehen“,
als ihn interessieren konnte. Das reicht von
den schon geschilderten Phallusverpuppun-
gen des Coletivo Bonobando über ein Vi-
deo von Claudia del Fierro, in dem ein men-

schengemachter Treppenaufgang räumlich
breiter und weiter wirkt als der ganze Ster-
nenhimmel, bis zu einer Installation von
Renée Green, deren Ineinanderdenken von
Begriff und Wahrnehmung schon während
der kurzen Blüte eines politisch aufgelade-
nen Neokonzeptualismus in den neunziger
Jahren zahlreiche Verwandtschaften zu
Fichtes Wollen und Wirken aufwies.

Direkt neben „Liebe und Ethnologie“,
im selben Gebäude, inventarisiert gerade
eine von Anna Brus in Zusammenarbeit
mit abermals Anselm Franke erarbeitete
Ausstellung namens „Spektral-Weiß“ die
„Erscheinung kolonialzeitlicher Europä-
er*Innen“, und nicht nur von daher liegt
die Frage nahe, inwieweit die Fichte-
Schau mit ihren auf kurzen weißen Stelzen
dargebotenen Büchertischen oder Bildta-
feln und ihren weder eindeutig von vorn
nach hinten noch von links nach rechts zu
lesenden Arrangements einen Zugriff auf
außereuropäisches Leben verewigt, der
schon bei Fichte manchmal nach „Ent-
deckermann macht’s möglich“ schmeckt.
Ein Schriftsteller eignet sich „das ande-
re“ teils an und will teils umgekehrt davon
umschlungen und verwandelt werden,
sucht also eine unmögliche Kannibalance
zwischen Menschen und Erfahrungsfor-
men. Der Ausstellung, die das zunächst
mal ganz platt annehmen muss, um sich
dem Problem, das man damit haben kann,
überhaupt nähern zu können, hat man also
vorgeworfen, die Leute, denen sich Fichte
einerseits näherte und von denen er sich
andererseits beim Schreiben wieder souve-
ränitätsgestisch entfernen musste, kämen
darin nicht wirklich zu Wort. Wenn Kunst-
schaffen, und sei es außereuropäisches
oder anderweitig aus den weltüblichen
Bildblickrichtungen Gerücktes, auf Kunst-
schaffen reagiert, ist das nicht von vornhe-
rein ein reines Elitengespräch? Muss man
nicht andere als kuratorische Verfahren su-
chen, um vielfältig Privilegierten ihre nur
scheinbar rein ästhetisch oder intellek-
tuell, in Wahrheit aber über ökonomische
und politische Macht vermittelte angeb-
liche Übersicht und ihre angebliche Zustän-
digkeit für Unterschiede und Vergleiche
zwischen Menschengruppen zu vermie-
sen? Klar muss man das, wenn man mit gu-
ten Gründen findet, die vorhandene Welt
sei noch lange nicht die bestmögliche. Der-
zeit gelten ja Mobilitätsregeln wie: Wenn
Personen aus der reichen Gegend in die
ärmere Gegend kommen, heißt das Touris-
mus, wenn Leute aus der armen Gegend in
die reiche gehen, heißt das Migration. Da-
bei spielt es nicht immer eine Rolle, ob die
betreffenden Personen selbst absolut oder
relativ arm oder reich sind. Die Aufmerk-
samkeit derer, die in der Berliner Ausstel-
lung auf den Reisenden Hubert Fichte (di-
rekt oder indirekt) antworten, besucht sein
Werk an den interessantesten Stellen der
Schau tatsächlich so, wie Tourismus sich
für ein Selfie neben etwas Komisches
stellt. Diese Richtungsdrehung gegenüber
dem Gewohnten aber ist allemal ein Fort-
schrittchen – seitwärts, ins bislang global
Unsichtbare. DIETMAR DATH

Liebe und Ethnologie – Die koloniale Dia-
lektik der Empfindlichkeit (nach Hubert
Fichte). Im Haus der Kulturen der Welt, Berlin;
bis zum 6. Januar 2020. Der Katalog kostet
28 Euro.

Preisträger 2019

Weitere Informationen finden Sie unter http://www.deutscher-lesepreis.de

Nazan Eckes

Mit dem Deutschen Lesepreis zeichnen Stiftung Lesen und Commerzbank-Stiftung innovative und nachhaltige Initiativen zur Leseförderung aus. Ziel der beiden
Initiatoren ist es, den Blick der Öffentlichkeit für das vielfältige Engagement in der Leseförderung zu schärfen. Dabei werden sie unterstützt von den Kategorie-Paten
Arnulf Betzold GmbH, Fachgemeinschaft buch.netz im Bundesverband E-Commerce und Versandhandel e. V., FRÖBEL e. V., MELO Group GmbH & Co. KG,
PwC-Stiftung Jugend – Bildung – Kultur und Stiftung Kinder fördern – Zukunft stiften.


  1. Preis
    Mirai Mens

  2. Preis
    Katrin Hoffmann

  3. Preis
    Ingrid Tödtmann
    Faraj Younan

  4. Preis
    Familienzentrum &
    Kindertagesstätte
    Niehler Eltern-
    verein e. V.

  5. Preis
    FABIDO FZ
    Stollenstraße

  6. Preis
    Kindertagesstätte
    Klettermax

  7. Preis
    Johann-Turmair-
    Realschule

  8. Preis
    Janosch Grundschule

  9. Preis
    Friedrich-Ebert-
    Schule


Sonderpreis für prominentes Engagement

Herausragende Sprach- und Leseförderung in Kitas

Herausragendes individuelles Engagement in der Leseförderung

Herausragende Leseförderung an Schulen

Herausragendes kommunales Engagement in der Leseförderung Herausragende Leseförderung mit digitalen Medien


  1. Preis
    BERLINER LESEPATEN

  2. Preis
    ax-o e. V.

  3. Preis
    Stadtjugendamt Erlangen

  4. Preis
    Grundschule
    Bad Münder

  5. Preis
    Gymnasium
    Essen-Werden

  6. Preis
    Siegfried-von-Vegesack-
    Realschule Regen


Betrachten wir die Sache einfach histo-
risch. Nicht mit dem Blick des Geschichts-
lehrers, sondern mit dem der Kinoge-
schichte, in der Roland Emmerichs „Mid-
way“ am Ende einer langen Reihe von Fil-
men steht, die schon 1942 beginnt, im
Jahr der Seeschlacht selbst. Damals weilte
John Ford auf Einladung der amerikani-
schen Regierung auf dem Midway-Atoll
im Pazifik, und als der japanische Angriff
begann, drehte er einige berühmte Einstel-
lungen für eine Dokumentation, die weni-
ge Wochen später in die Kinos kam und
im folgenden Jahr einen Oscar gewann.
Bei Emmerich wird Ford jetzt von einem
Mann namens Geoffrey Blake gespielt,
der ein bisschen herumfuchtelt und -brüllt
und ansonsten keine weitere Bedeutung
hat. Wie das meiste in diesem Film.
Die Überbietungslogik, der fast jede
heutige Großproduktion folgt, hat den Er-
zählrahmen von „Midway“ so aufgebläht,
dass er auch noch Pearl Harbor, den Doo-
little Raid und die Schlacht in der Koral-
lensee umspannt. Für das kriegsentschei-
denden Duell eines amerikanischen und
eines japanischen Flottenverbands am 4.
Juni 1942 steht deshalb nur gut die Hälfte
der zweieinviertel Stunden zur Verfü-
gung, die „Midway“ dauert. In dieser ge-
drängten Form geht gerade der Zeitfaktor
verloren, der die Schlacht bei Midway ein-

zigartig macht. Denn das eigentliche Ge-
schehen spielte sich an diesem Tag zwi-
schen zehn und halb elf Uhr morgens ab,
als drei japanische Flugzeugträger in
Flammen aufgingen, weil ihr Befehlsha-
ber sich verrechnet hatte. Der Film hat
für das Drama dieser halben Stunde nicht
genügend Zeit, weil er sich an zu vielen
Fronten verzettelt. Damit vergibt er die
beste Chance, hinter seine Vorgänger ei-
nen Punkt zu setzen: nicht der gewohnten
Kurve von Niederlage und Revanche, son-
dern dem Zucken des Zufalls zu folgen;
den Moment zu zeigen, in dem die Ge-
schichte sich wendet.
Stattdessen die übliche Mischung aus
Feuerzauber und Pin-up-Patriotismus:
ein Bomberpilot, der Blut hustet, aber
trotzdem trifft, ein Nachrichtenoffizier,
der immer das Richtige vermutet, ein
amerikanischer Admiral (Woody Harrel-
son), der vor Kampfgeist kaum gehen
kann. Und Ehefrauen, die Kaffee kochen
und die Kinder ins Bett bringen, wenn
Papa mal wieder die Welt retten muss.
Das Kino hat mit Midway kein Glück:
Schon Jack Smights Film von 1976 wirk-
te wie ein Abgesang auf die Klassiker des
Kriegsfilms. Emmerichs Nachzügler
schließt jetzt den Deckel über dem Gen-
re: Die Zukunft gehört dem Gefleuch
von Marvel und Disney. ANDREAS KILB

Die Deutsche W.G.-Sebald-Gesell-
schaft schreibt einen nach dem 2001
tödlich verunglückten deutschen
Schriftsteller benannten Literatur-
wettbewerb aus. Vom 9. November
an können sich deutschsprachige
Autoren mit einer bis mindestens De-
zember 2020 unveröffentlichten Er-
zählung zum Thema „Erinnerung
und Gedächtnis“ um den mit 10 000
Euro dotierten Preis bewerben. Zu-
gleich bereitet die Gesellschaft für
den Herbst kommenden Jahres ein
wissenschaftliches Symposion im
bayerischen Sonthofen vor. F.A.Z.

Dialog ist, wenn Puppen
lernen müssen, zuzuhören:
Aus der Performance „Prata
Jardim, Omindarewa“
des Coletivo Bonobando
Foto Natália Reis

Platz da am Stauende! Luke Evans in Emmerichs „Midway“ Foto Universum Film


Derletzte Bulle: Der Kinofilm –
Kraftkrimi (nichts für Memmen).
Es hätte schlimmer kommen
können: Mario Adorf – Dokumenta-
risches Lebensbild eines überzeugten
Schauspielers.
Lara – Hohe Berliner Tragikomik
mitMusik (F.A.Z. von gestern).
Midway: Für die Freiheit – Im
Zweiten Weltkrieg war furchtbar
viel los (Kritik auf dieser Seite).
The Report – Spannende Folterkritik
mitbekannten Stars.

Preis erinnert


anW. G. Sebald


Die meisten staatlichen Museen in
Rom haben am vergangenen Sonntag
keinen Eintritt erhoben – von den Ka-
pitolinischen Museen bis zum Kolos-
seum, vom Museum in der Engelsburg
bis zur Galerie für moderne Kunst so-
wie den archäologischen Stätten und
Parks. Für von der Stadt Rom betriebe-
ne Einrichtungen galt das Gleiche, al-
lerdings nur für Besucher, die ihren
Wohnsitz in Rom oder der Metropoli-
tanregion haben und auch sonst
schon einen leicht reduzierten Ein-
trittspreis entrichten. In manchen Mu-
seen fiel die Bezahlschranke nur für
die ständigen Sammlungen weg, für
Sonderausstellungen blieb sie beste-
hen. Die Aktion, der eine Verfügung
des Ministeriums für Kunst, Kulturgü-
ter und Tourismus zugrunde liegt, soll
künftig an jedem ersten Sonntag im
Monat wiederholt werden. Die Kultur-
verwaltung sieht sie vor allem als Ver-
such, das Interesse für die kleineren,
weniger bekannten und nicht zentral
gelegenen Museen in der Hauptstadt
zu steigern. Für viele römische Se-
henswürdigkeiten wie das Pantheon
oder die Caracalla-Thermen wird ge-
nerell kein Eintritt erhoben. aro.

Wie hält man die Kannibalance?

Neu im Kino


Freier Eintritt


nur für Römer


Die Schau „Liebe und


Ethnologie“ im Berliner


HKW sucht Antworten


auf die (nach-)koloniale


Unruhe des Autors


Hubert Fichte.


Das Zucken des Zufalls


Roland Emmerichs Kriegsfilm „Midway“ vergibt seine


Chance,das Genre der Seeschlacht wiederzubeleben


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019·NR. 259·SEITE 13

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