Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.11.2019

(Greg DeLong) #1
Mit einer Frau an seiner Seite: Der
Schauspieler Keanu Reeves ist nicht
mehr allein. Am Wochenende ließ sich
der Fünfundfünfzigjährige, der jahrelang
alleine über rote Teppiche gegangen ist,
bei einer Ausstellungseröffnung in Los
Angeles mit der Künstlerin Alexandra
Grant fotografieren. Angeblich leben die
beiden schon seit Monaten zusammen.
Reeves lernte die Sechsundvierzigjährige
bereits vor zehn Jahren kennen. Damals
illustrierte Grant das erste Buch des
Schauspielers mit dem Titel „Ode to Hap-
piness“. Einige Jahre später arbeitete das
Paar auch bei Reeves’ zweitem Buch
„Shadows“ zusammen und gründete zu-

dem gemeinsam den Kunstbuchverlag X
Artists Books. Der Hollywood-Star, der
in Kanada aufwuchs und in Los Angeles
wohnt, verbrachte die vergangenen 20
Jahre eher zurückgezogen. Im Jahr 1999
kam Reeves’ gemeinsames Kind mit der
Schauspielerin Jennifer Syme tot zur
Welt. Zwei Jahre später kam auch die
Achtundzwanzigjährige bei einem Auto-
unfall ums Leben. Zu den früheren
Freundinnen des „Matrix“-Darstellers
zählen angeblich Sofia Coppola, Claire
Forlani und Amanda de Cadenet. Auch
mit Sandra Bullock, seinem Ko-Star im
Film „Speed“, soll Reeves in den Neunzi-
gern liiert gewesen sein.(ceh.) Foto EPA

dpa. TÜBINGEN. Der aufrechte Gang des
heutigen Menschen soll sich nach jünge-
ren Funden einer internationalen Forscher-
gruppe in Europa und nicht in Afrika ent-
wickelt haben. Der neu entdeckte mög-
liche Vorfahr von Mensch und Menschen-
affe habe sich wohl vor fast zwölf Millio-
nen Jahren auf zwei Beinen fortbewegen
können, vermutet ein Forschungsteam um
Madelaine Böhme von der Universität
Tübingen und des Senckenberg Center for
Human Evolution and Palaeoenvironment
in einer im Magazin „Nature“ veröffent-
lichten Studie. Das wäre mehrere Millio-
nen Jahre früher, als Wissenschaftler bis-
lang zumeist angenommen hatten.
„Das ist eine Sternstunde der Paläo-
anthropologie und ein Paradigmenwech-
sel“, sagte Böhme. Die Funde stellten die
bisherige Sicht auf die Evolution der gro-
ßen Menschenaffen und des Menschen in
Frage. „Dass sich der Prozess des aufrech-
ten Gangs in Europa vollzog, erschüttert
die Grundfeste der Paläoanthropologie“,
sagte Böhme. Es sei fast ausgeschlossen,
dass in Afrika noch ältere aufrecht gehen-
de Menschenaffenformen existierten.
Das Team hatte zwischen 2015 und
2018 in einem Bachlauf der Tongrube
Hammerschmiede im Unterallgäu die ver-
steinerten Fossilien einer bislang unbe-
kannten Primatenart entdeckt. Danuvius
guggenmosi habe vor 11,62 Millionen Jah-
ren gelebt und sich wahrscheinlich sowohl
auf zwei Beinen als auch kletternd fort-
bewegt. „Bislang war der aufrechte Gang
ein ausschließliches Merkmal von Men-
schen. Aber Danuvius war ein Menschen-
affe“, sagte Böhme. Die bislang ältesten
Belege für den aufrechten Gang sind rund
sechs Millionen Jahre alt und stammen
von der Insel Kreta und aus Kenia.
Aus der Tongrube im Ostallgäu bargen
die Paläontologen 37 Einzelfunde. Dar-
unter waren vollständig erhaltene Arm-
und Beinknochen, Wirbel, Finger- und
Zehenknochen – insgesamt 15 Prozent ei-
nes Skeletts. „Damit ließ sich rekonstruie-


ren, wie sich Danuvius fortbewegte“, sagte
Böhme. „Zum ersten Mal konnten wir meh-
rere funktionell wichtige Gelenke, dar-
unter Ellbogen, Hüfte, Knie und Sprung-
gelenk, in einem einzigen fossilen Skelett
dieses Alters untersuchen. Zu unserem Er-
staunen ähnelten einige Knochen mehr
dem Menschen als dem Menschenaffen.“
So habe Danuvius seinen Rumpf durch
eine S-förmige Wirbelsäule aufrecht hal-
ten können, während Menschenaffen nur
eine einfach gebogene Wirbelsäule be-
sitzen. Danuvius hatte X-Beine und ein
stabiles Fußgelenk – für Menschenaffen,
die sich kletternd fortbewegten, wäre bei-
des ungeschickt. Mit seinen langen Armen
und seinen Greiffüßen hatte Danuvius
aber entscheidende Merkmale von Baum-
bewohnern. „Danuvius kombinierte die
von den hinteren Gliedmaßen dominierte
Zweibeinigkeit mit dem von den vorderen
Gliedmaßen dominierten Klettern“, sagte
Mitautor David Begun von der Universität
von Toronto. Nach Einschätzung der
Forscher war der neue Vorfahr des Men-
schen etwa einen Meter groß.

Ilhan Omar


trennt sich ganz schnell


In Rekordzeit hat sich die amerikanische
Politikerin Ilhan Omar scheiden lassen.
Wie das Internetportal TMZ meldete,
wurde die Ehe der Achtunddreißigjähri-
gen mit ihrem Landsmann Ahmed Hirsi
am Dienstag nur vier Wochen nach dem
Scheidungsantrag auch offiziell beendet.
Die drei gemeinsamen Kinder wachsen
weiterhin bei Omar in Washington auf.
Die Kongressabgeordnete der Demokra-
ten, die in Mogadischu in Somalia zur
Welt kam und nach mehreren Jahren in
kenianischen Flüchtlingslagern von den
Vereinigten Staaten aufgenommen wur-
de, übernimmt laut Scheidungsvereinba-
rung auch die Kosten für Besuche der
Kinder bei deren Vater im Bundesstaat
Minnesota. Im Sommer hatte Omars Lie-
besleben für Aufsehen gesorgt, als die
Ehefrau eines Mitarbeiters sie beschuldig-
te, eine Affäre mit ihrem Mann zu haben.
Zuvor verband die Demokratin eine tur-
bulente Beziehung mit Hirsi. Nach meh-
reren Jahren und zwei gemeinsamen Kin-
dern heiratete die Muslimin im Jahr 2009
den Briten Ahmed Elmi. Zwei Jahre spä-
ter trennte sich Omar von Elmi, um wie-
der mit Hirsi zusammenzuleben. Im Jahr
2012 folgte die Geburt des dritten ge-
meinsamen Kindes. Die Demokratin, die
zusammen mit Alexandria Ocasio-Cor-
tez und zwei weiteren weiblichen Kon-
gressabgeordneten als „The Squad“ (Die
Truppe) bekannt ist, eine informelle
Gruppe des progressiv-linken Partei-
flügels, gehört zu den lautstärksten Kriti-
kern von Präsident Trumps Einwande-
rungspolitik. ceh.

Ai Weiwei


fordert mehr Mitgefühl


Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat
sich für mehr Menschlichkeit gegenüber
Flüchtlingen auch in Deutschland ausge-
sprochen. „Wir wissen alle, wie schwierig
eine Lage sein kann“, sagte der Zweiund-
sechzigjährige am Dienstagabend in Ber-
lin während einer Diskussionsrunde der
Friedrich-Naumann-Stiftung. „Aber
wenn wir unser Mitgefühl verlieren, was
bleibt dann noch?“ Leben bedeute, Fort-
schritte zu machen und anderen Men-
schen zu helfen. „Ich war sehr beein-
druckt, als ich Flüchtlingsheime besuch-
te, wie sehr sich die Menschen dort gegen-
seitig geholfen und sich unterstützt ha-
ben.“ Menschen auf der Flucht hätten ihr
Land verloren, ihre Religion, ihre Kultur.
„Sie wollen nur einen Platz.“ Flüchtlinge
würden nicht nur entstehen durch Gegen-
sätze wie arm und reich oder deutsch und
nichtdeutsch. „Es geht um globale Ver-
hältnisse und wie die Welt sich entwi-
ckeln soll.“ Kunst sei ebenfalls per defini-
tionem kontrovers, sagte Weiwei, der in
seiner chinesischen Heimat zeitweise in-
haftiert war. Als Künstler werde seine
Meinung akzeptiert. Doch ihm werde das
Recht abgesprochen, über Flüchtlinge zu
sprechen. Mitunter habe er den Eindruck,
es gebe in Deutschland mehr Interesse an
den Pandas im Berliner Zoo als an Flücht-
lingen. „Das ist kindisch.“ Nach vier Jah-
ren in Berlin hat Ai Weiwei Deutschland
den Rücken gekehrt, um mit seiner Fami-
lie in Cambridge zu leben. Angesprochen
auf erste Erfahrungen in seiner neuen
Heimat, konnte er kaum von Eindrücken
berichten. „Die Briten sind derzeit tief
verwirrt.“ dpa

Spektakulär: Handknochen eines männ-
lichen Danuvius guggenmosi Foto dpa

tjb. SÃO PAULO. Es war eines der
schwersten Bergwerksunglücke in der Ge-
schichte Brasiliens. Nach dem Damm-
bruch eines Rückhaltebeckens in einem
Bergwerk des Bergbaukonzerns Vale in
der Gemeinde Brumadinho im Bundes-
staat Minas Gerais hatte eine riesige
Schlammlawine Ende Januar 252 Men-
schen in den Tod gerissen. 18 Personen
gelten weiterhin als vermisst. Nun verdich-
ten sich die Hinweise darauf, dass die Tra-
gödie hätte vermieden oder zumindest be-
grenzt werden können: Nach einem am
Dienstag veröffentlichten Bericht der bra-
silianischen Bergbaubehörde (ANM) ist
dem Unternehmen Vale das Risiko eines
Dammbruchs bewusst gewesen. Der Kon-
zern habe es aber unterlassen, die Berg-
baubehörde ordnungsgemäß zu informie-
ren. Wäre das geschehen, hätte sie Vor-
sichtsmaßnahmen ergreifen und Vale zum
Handeln drängen können, schreibt die
ANM in dem Bericht.
Die Behörde bezieht sich auf interne
Dokumente von Vale. Diese zeigten, dass
Messungen des Flüssigkeitsdrucks zwei
Wochen vor dem Dammbruch eine kriti-
sche Situation anzeigten. Auch seien Sedi-
mente aus Drainage-Leitungen ausgetre-
ten, was als Alarmsignal hinsichtlich der
Stabilität des Damms gilt. Die ANM wirft
Vale vor, diverse Informationen zurück-
gehalten zu haben, die auf Sicherheits-
mängel des Damms hindeuteten.
Ebenfalls am Dienstag hat eine parla-
mentarische Untersuchungskommission
in Brasília einen Bericht zum Bergbau-
unglück gutgeheißen, in dem eine Ankla-


ge gegen Vale wegen Umweltverbrechen
und Korruption gefordert wird. Betroffen
ist auch das in München ansässige Bera-
tungsunternehmen TÜV Süd, das im Auf-
trag von Vale verschiedene Sicherheitsgut-
achten des besagten Damms erstellt hatte.
Der Bericht der Untersuchungskommissi-
on fordert zudem eine Anklage wegen vor-
sätzlicher Tötung gegen mehrere Direkto-
ren von Vale, Ingenieure und Subunterneh-
mer, darunter auch gegen den früheren
Vale-Direktor Fabio Schvartsman.
Im September entschied ein Gericht im
Bundesstaat Minas Gerais, dass Vale den
Opferfamilien 1,8 Millionen Reais, um-
gerechnet 2,6 Millionen Euro, Entschädi-
gung zahlen muss. Zuvor schon hatte ein
Gericht Vale zu Entschädigungszahlun-
gen verpflichtet. 2,7 Milliarden Euro aus
dem Firmenvermögen wurden eingefro-
ren, um die Zahlungen sicherzustellen.
Zahlreiche Angehörige von Opfern ver-
folgten am Dienstag die Präsentation der
Bergbaubehörde. Sie trugen Bilder ihrer
Liebsten bei sich, die bei dem Unglück
ums Leben kamen.
Die Katastrophe von Brumadinho war
der zweite folgenschwere Dammbruch in
einem Bergwerk innerhalb von drei Jah-
ren. Damals brach ein Damm eines von
Vale und dem australischen Konzern BHP
Billiton betriebenen Bergwerks. Die
Opferzahl war geringer, der Schaden an
der Umwelt jedoch größer. Der Bau gewis-
ser Dämme ist inzwischen nicht mehr er-
laubt in Brasilien. Dämme von derselben
Bauart wie jener in Brumadinho müssen
stillgelegt werden.

ceh. LOS ANGELES. Nach dem Anschlag
auf eine Splittergruppe der amerikani-
schen Kirche Jesu Christi der Heiligen der
Letzten Tage im Norden Mexikos, bei dem
am Montag drei Frauen und sechs Kinder
ums Leben kamen, ist ein Verdächtiger
verhaftet worden. Die mexikanische Be-
hörde für Verbrechensermittlung teilte
am Dienstag mit, den Mann bei Agua Pie-
tra im Bundesstaat Sonora entdeckt zu ha-
ben. Ob der Verdächtige einem Drogen-
kartell angehört, blieb vorerst offen. Als
die Beamten sein Lager stürmten, soll er
zwei Geiseln gefangen gehalten haben.
Am Montag waren in der Region mehre-
re Autos mit Mitgliedern der mormoni-
schen Glaubensgemeinschaft überfallen
worden. Nach den bisherigen Ermittlun-
gen beschossen die Täter die Gelände-
wagen, die zu einem Familientreffen im
Nachbarstaat Chihuahua fuhren. Einige
der Frauen und Kinder im Alter von sechs
Monaten bis zwölf Jahren starben durch
Kugeln, andere verbrannten in den Autos.
Ein 13 Jahre alter Junge versteckte mehre-
re angeschossene Kinder unter Büschen,
bevor er sechs Stunden durch die Wüste


lief, um Hilfe zu holen. Die verletzten Kin-
der wurden später in ein Krankenhaus
nördlich der Grenze in Arizona geflogen.
Die angeblich polygame Splittergruppe
der Mormonen, die vor etwa 100 Jahren
aus dem amerikanischen Utah nach Mexi-
ko zog, soll in der Vergangenheit wieder-
holt Auseinandersetzungen mit Drogen-
kartellen ausgetragen haben. Ihre etwa
3000 Mitglieder stritten mit den Banden
angeblich über Wasserrechte. Vor zehn
Jahren eskalierten die Spannungen, als
ein Mormone entführt wurde. Einige Mo-
nate nach seiner Rückkehr wurden zwei
seiner Verwandten erschossen.
Der Justizminister des Bundesstaats
Chihuahua, César Peniche Espejel, ver-
wies derweil auf Verteilungskämpfe rivali-
sierender Banden in der Region. Nach der
Festnahme von Joaquin „El Chapo“ Guz-
mán, dem früheren Führer des Sinaloa-
Kartells, hätten sich kleinere Gruppen ab-
gespalten. „Sie wachsen entlang der Gren-
ze zu den Vereinigten Staaten und sind
heftig damit beschäftigt, Menschen und
Rauschgift zu schmuggeln“, sagte Peniche
Espejel dem Sender Imagen.

T

heos Kindheit in West Virginia
wäre auch ohne die Odyssee
durch mehrere Pflegefamilien
trist genug gewesen. Schon bei
der Geburt vor sieben Jahren war er ab-
hängig von Opioiden. Wie Hunderttau-
sende Bewohner des ärmlichen Appala-
chen-Staats im Südosten der Vereinigten
Staaten, einer Hochburg der Opioid-Epi-
demie, hatte auch Theos Mutter während
der Schwangerschaft Schmerzmittel wie
Hydrocodon, Oxycodon und Fentanyl
eingenommen. Und obwohl ihr Sohn
schon in den ersten Lebensmonaten un-
ter Entzugserscheinungen wie Zittern,
überaktiven Reflexen und Schlafproble-
men litt, ließ ihn das Jugendamt bei sei-
nen Eltern.
Erst nach einigen Jahren beschloss das
Department of Health and Human Ser-
vices (DHHR), Theo zu Pflegeeltern zu
geben. Die Kinderhilfsorganisation A
Better Childhood zählte später mindes-

tens zwölf Familien, die den Jungen bei
sich aufnahmen und meist nach kurzer
Zeit schon wieder abgaben. Inzwischen
lebt der Siebenjährige in einem Heim
außerhalb von West Virginia.
Theo gehört zu den fast 7000 Jungen
und Mädchen des Mountain State, die in
der Obhut des Jugendamts aufwachsen.
Nach Schätzungen der Behörden stam-
men acht von zehn der Kinder aus so-
genannten Opioid-Familien. West Virgi-
nia hält seit Jahren gleich eine Reihe trau-
riger Rekorde. In dem Bundesstaat, frü-
her bekannt für Holzwirtschaft und Koh-
leförderung, sterben mehr Personen an
Überdosen als in jeder anderen amerika-
nischen Region. Allein für das Jahr 2017
zählten die Gesundheitsbehörden fast
850 tödliche Dosen von Opioiden wie
Schmerzmitteln, Heroin und Fentanyl –
zweimal mehr als im Jahr 2010 und drei
Mal mehr als durchschnittlich in den Ver-
einigten Staaten. Nach Angaben des Na-
tional Institute on Drug Abuse (NIDA)
stellten West Virginias Ärzte im Jahr
2017 mehr als 80 Opioid-Rezepte je 100
Bewohner aus. Der amerikanische Durch-
schnitt lag bei knapp 60.
Die Zahl von Kindern, die wegen der
Sucht ihrer Eltern in Pflegefamilien un-
tergebracht wurden, nahm dabei rasant
zu. Im Jahr 2019 wurden in dem etwa 1,
Millionen Bewohner großen Bundesstaat
fast 70 Prozent mehr Kinder von ihren Fa-
milien getrennt als im Jahr 2013. In den
ganzen Vereinigten Staaten stieg der
Wert in den vergangenen sechs Jahren
um etwa zehn Prozent. Pflegefamilien
sind in West Virginia mittlerweile rar ge-
worden. „Die Kinder- und Jugendhilfe
steckt in der Krise“, sagte Bill Crouch,
seit drei Jahren Kabinettssekretär der Ge-
sundheitsbehörde DHHR. „Oft müssen
wir Kinder in Hotels oder Motels unter-

bringen, um sie in der Nähe ihres Zuhau-
ses zu betreuen.“
Wie die „Washington Post“ recher-
chierte, begann das Opioid-Drama in
West Virginia vor fast 20 Jahren. Als Gou-
verneur Bob Wise damals Tom Susman
zum Chef der Versicherungsabteilung für
Angestellte des öffentlichen Diensts
(PEIA) ernannte, fiel Susman auf, dass
das gerade entwickelte Medikament
Oxycontin den Bundesstaat jedes Jahr
schon einige hunderttausend Dollar kos-
tete. Gleichzeitig wurden erste Stimmen
laut, die vor einer Abhängigkeit von der
Arznei warnten. Darrell McGraw, da-
mals Justizminister in West Virginia, ent-
schloss sich zu einer Klage gegen den
Oxycontin-Hersteller Purdue Pharma.
Schon vor Prozessbeginn wartete der
Rechtsanwalt des Unternehmens, Barack
Obamas späterer Justizminister Eric Hol-
der, mit Schuldzuweisungen auf. „Die
Ärzte haben aus freien Stücken entschie-
den, Oxycontin zu verschreiben. Miss-
brauchstäter haben aus freien Stücken
entschieden, es zu missbrauchen“, ließ
Holder das Gericht in McDowell County
wissen. Nach mehr als 2000 Klagen muss-
te Purdue Pharma schließlich vor zwei
Monaten Insolvenz beantragen. Zuvor
war über Schadenersatzforderungen von
bis zu zwölf Milliarden Dollar spekuliert
worden.
Im Jahr 2001 hatten die Richter hinter
verschlossenen Türen dagegen einen
eher günstigen Vergleich angeboten.
Trotz einer Fülle von Belegen für das ver-
harmlosende Marketing von Purdue Phar-
ma für das Medikament mit hohem Sucht-
potential einigte sich West Virginia mit
dem Unternehmen damals auf die Zah-
lung von zehn Millionen Dollar. Bei der
Verteilung des Geldes an verschiedene
Einrichtungen sollte im Gegenzug die „fi-

nanzielle Unterstützung in Absprache
mit dem Justizminister“ öffentlich an-
erkannt werden.
Die Opioid-Krise weitete sich derweil
in West Virginia und weiteren Bundes-
staaten aus. Im Jahr 2008 lebten im
Mountain State etwa 3400 Kinder in Pfle-
gefamilien, 2012 waren es schon 4200.
Viele potentielle Pflegeeltern mussten zu-
dem von der Liste der Notunterkünfte ge-
strichen werden, da auch sie die verlang-
ten Rauschgifttests nicht bestanden. Wie
Theo leben einige Kinder von Opioid-Ab-
hängigen inzwischen in Einrichtungen
von Nachbarstaaten wie Ohio und Ken-
tucky.
Im Namen des Siebenjährigen und wei-
terer elf Jungen und Mädchen reichte die
Organisation A Better Childhood darum
jetzt Klage vor einem Bundesgericht ein.
Sie wirft Gouverneur Jim Justice und
dem Department for Health and Human
Services vor, die Kinder nicht angemes-
sen zu betreuen. Oft würden sie von
ihren Eltern getrennt, ohne sie wie ver-
langt bei Pflegefamilien unterzubringen.
Vielmehr kampierten immer mehr Min-
derjährige in Notunterkünften, provisori-
schen Einrichtungen oder bei kaum über-
prüften Verwandten.
Wie der 13 Jahre alte Karter, der in
den vergangenen drei Jahren von Not-
unterkünften zu geschlossenen Einrich-
tungen und Krankenhäusern weiter-
gereicht wurde, bevor er in einem Heim
außerhalb von West Virginia unterkam.
Und wie Theo, der in sieben Lebens-
jahren schon mindestens zwölfmal um-
ziehen musste. „Wir verlangen keine
Schadenersatzzahlungen“, sagte Marcia
Robinson Lowry, die Vorsitzende des Ver-
eins. „Wir fordern aber, dass sich etwas
ändert und West Virginia sich um diese
Kinder kümmert.“

Schon als Säugling auf Entzug


Auf Opioid-Entzug: Ein zwei Wochen alter Junge wird auf der neonatologischen Station eines Krankenhauses in Charleston (West Virginia) beobachtet. Foto Getty


Persönlich


Verhaftung in Mexiko


Nach dem Anschlag auf eine christliche Splittergruppe


Auf zwei Beinen


Im Unterallgäu ging ein Menschenaffe schon aufrecht


Eine Katastrophe, die hätte


verhindert werden können


Nach dem Dammbruch Ende Januar in Brasilien erhebt


eineBehörde schwere Vorwürfe gegen den Betreiber


In West Virginia sind


Tausende Menschen


von Schmerzmitteln


abhängig, unter ihnen


viele Eltern. Um


ihre Kinder kann sich


nicht einmal der Staat


angemessen kümmern.


Von Christiane Heil,
LosAngeles

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Deutschland und die Welt DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019·NR. 259·SEITE 9

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