Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1

die Sie auch benennen, von uns aufgegriffen wur-
den“, sagte Merkel. Ihre Regierung habe von 300
geplanten großen Maßnahmen zwei Drittel vollendet
oder auf den Weg gebracht, sagte die Bundeskanzle-
rin. „Das zeigt, dass wir arbeitsfähig und arbeitswillig
sind.“ Die Halbzeitbilanz zu verabreden habe mit da-
zu beigetragen, dass die Vorhaben zügig abgearbeitet
worden seien, lobte Vizekanzler und Finanzminister
Olaf Scholz (SPD).
Weil die schwarz-rote Koalition 2017 allein aus
Staatsräson zustande gekommen war, hatten CDU,
CSU und SPD im Koalitionsvertrag die Zwischenbi-
lanz verabredet, die das Kabinett nun vorlegte. Auf
gut 80 Seiten listen Union und SPD auf, welche Geset-
ze schon in Kraft sind oder auf den Weg gebracht
wurden und was für die zweite Hälfte der Legislatur-
periode noch aussteht.
In der Wirtschaftspolitik etwa halten sich die Koali-
tionäre zugute, die Sozialabgabenquote wie verspro-
chen unter 40 Prozent gehalten, ein drittes Bürokra-
tieentlastungsgesetz, das Fachkräfteeinwanderungs-
gesetz und die steuerliche Forschungsförderung
beschlossen und eine Hightech-Strategie entwickelt
zu haben. Im Pflichtenheft für Wirtschaftsminister Pe-
ter Altmaier (CDU) steht noch, Deutschland zum Leit-
markt für Elektromobilität zu entwickeln, das Kartell-
recht zu modernisieren und die Entwicklung klima-
freundlicher Technologien zu fördern.
Sie habe das Gutachten „heute natürlich wieder
mit Interesse zur Kenntnis genommen“, sagte Merkel,
als sie die Wirtschaftsweisen empfing. Die Ökonomen
wissen, was das bedeutet: Wenig aus ihrer monate-
langen Analyse der Wirtschaftslage und von ihren
Vorschlägen wird Eingang in die Regierungspolitik fin-
den. So war es jedenfalls in den bisherigen Merkel-Re-
gierungsjahren.
In diesem Jahr wird es der Kanzlerin leichter noch
als in den Vorjahren fallen, die Ökonomen-Ratschläge
zu ignorieren: Zu drastischen Veränderungen raten
die Ökonomen nämlich nicht, sondern zu einem eher
behutsamen Vorgehen in der aktuellen Konjunktur-
flaute. Sie sagen voraus, dass auch 2020 das Wirt-
schaftswachstum in Deutschland so schwach ausfal-
len wird wie in diesem Jahr, für das sie 0,5 Prozent er-
warten. Dass sie trotzdem in ihrer Prognose für 2020
ein Plus von 0,9 Prozent ausweisen, ist allein einer
höheren Zahl an Arbeitstagen geschuldet.
Ein Konjunkturprogramm halten die Weisen aktu-
ell nicht für notwendig: Die bereits beschlossenen
und geplanten Entlastungen reichten aus. Und darü-
ber, ob die Regierung zumindest zur Vorsicht ein
Konjunkturpaket schnüren sollte, das sie im Falle ei-
ner womöglich doch eintretenden Rezession 2020
schnell umsetzen könnte, streiten sich die Ökono-
men. Drei der Weisen halten dies für unnötig, Isabel
Schnabel und Achim Truger fordern dies vehement:
Sie schlagen einen Kinderbonus und erleichterte Ab-
schreibungsmöglichkeiten für Firmen vor.
In der Finanz- und Steuerpolitik lobte sich die Ko-
alition dafür, die staatlichen Investitionen gegenüber
der vergangenen Wahlperiode um fast ein Drittel an-
gehoben und die schwarze Null eingehalten zu ha-
ben. Nach einer Grundgesetzänderung kann der
Bund jetzt, anders als früher, Milliarden für die Digi-
talisierung der Schulen oder den sozialen Wohnungs-
bau an die Länder durchreichen. Auch die im Koaliti-
onsvertrag versprochene Abschaffung des Solidari-
tätszuschlags für 90 Prozent der Steuerzahler
verbucht Scholz als Erfolg, auch wenn die Union wei-
ter die Komplettabschaffung fordert.


Investitionen umsetzen


Die Wirtschaftsweisen sehen größeren Reformbedarf.
Die Regierung solle die Unternehmensteuern senken,
den Solidaritätszuschlag komplett abschaffen und Bü-
rokratie abbauen, verlangen drei der Weisen,
Schmidt, Lars Feld und Volker Wieland. Die beiden
anderen, Schnabel und Truger, widersprechen dem
jedoch. Sie fänden es wichtiger, Investitionen auch
wirklich umzusetzen, die Schulen zu verbessern, die
Forschung in großem Stil zu fördern und die Digital-
netze schneller auszubauen. „Es gibt großen Investi-
tionsbedarf “, sagte Schnabel. Und auch, wenn das
Hindernis nicht Geldmangel, sondern fehlende Pla-
ner in den Bauämtern seien: Es werde auch Geld kos-
ten, neue Planer einzustellen und die Verwaltung per-
sonell zu stärken. „Wenn dann gleichzeitig Steuern ge-


senkt werden, stellen wir uns die Frage, wie das über
Umschichtungen im Haushalt noch finanziert werden
kann“, sagte Truger.
Die Weisen streiten deshalb in ihrem diesjährigen
Gutachten über die Schuldenbremse. Während
Schmidt, Feld und Wieland meinen, sie biete der
Bundesregierung genug Spielraum, um das Land
durch die aktuelle Konjunkturflaute zu steuern, wür-
den Schnabel und Truger sie in den nächsten Jahren
„anpassen“ wollen: Investitionen könne der Staat ru-
hig per Neuverschuldung finanzieren, denn sie kä-
men ja vor allem den nachfolgenden Generationen
zugute, argumentierte Schnabel.
Die schwarze Null wiederum, für die sich Scholz in
der Halbzeitbilanz lobte, hält der gesamte Sachver-
ständigenrat im Abschwung für schlecht „wegen der
Blindheit für die Konjunktur“, sagte Feld. Die Schul-

denbremse gestatte der Regierung im Abschwung,
wenn die Steuereinnahmen sinken und die Ausgaben
für Arbeitslosigkeit steigen, höhere Schulden, damit
sie die Flaute nicht durch Sparprogramme noch ver-
schärfen müsse. Dazu würde sie die schärfere schwar-
ze Null dann aber zwingen.
Die Opposition sieht ihre Kritik an der Regierung
bestätigt. „Das sklavische Festhalten an der schwar-
zen Null gefährdet die Wirtschaft. Wer in die Krise hi-
nein spart, befeuert den Abschwung“, sagte Grünen-
Chef Robert Habeck dem Handelsblatt.
Nötig sei das Gegenteil: „Wir müssen die Wirtschaft
durch Investitionen stabilisieren und stärken“, sagte
er. Auch die Grünen wollen die Schuldenbremse re-
formieren: Sie sollte mit verbindlichen Investitionsre-
geln verknüpft und an die europäischen Stabilitäts-
vorgaben angepasst werden. „Damit sinkt die Schul-
denquote weiter, aber wir schaffen einen Spielraum
von bis zu 35 Milliarden Euro“, sagte Habeck.
Wie bei den Weisen fällt auch bei der Wirtschaft
und den Gewerkschaften die Halbzeitbilanz der Re-
gierung nicht ganz so gut aus, wie die Regierung sie
selbst sehen will. „Arbeits- und sozialpolitisch kann
sich die GroKo sehen lassen, beim Wohnungsbau
muss sie nachsitzen“, sagte der Vorsitzende der In-
dustriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Robert Fei-
ger. Das Ziel von 1,5 Millionen Neubauwohnungen bis
2021 werde Schwarz-Rot sicher nicht erreichen.
BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang verlangte
von der Bundesregierung ein Wachstumsprogramm
zur Stärkung privater und öffentlicher Investitionen.
„Die Schere zwischen Konsum- und Zukunftsausga-
ben darf nicht weiter auseinandergehen“, verlangte
er. DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben ver-
langte dagegen eine Reform des Steuersystems. Diese
sollte vor allem der Stärkung des Eigenkapitals der
Unternehmen dienen.

> Kommentar Seite 19

Finanzminister
Scholz, Kanzlerin
Merkel: Pokermienen
zum Gutachten.

AP

Wir haben


das Gutachten


heute


natürlich


wieder mit


Interesse zur


Kenntnis


genommen.


Angela Merkel
Bundeskanzlerin

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DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
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