Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1
„ Ein Konjunktur-
programm ist
aus heutiger Sicht
nicht angezeigt.“
Christoph Schmidt,
Vorsitzender der Wirtschaftsweisen

„Wir müssen gemeinsam zeigen,
dass der Geist der
Zusammenarbeit Ergebnisse
ermöglicht, mehr als der Geist
der Konfrontation.“
Emmanuel Macron, französischer Präsident,
bei seinem Besuch in China

Stimmen weltweit


Zum Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungs -
gerichts meint die „Neue Zürcher Zeitung“:

D


as Urteil des deutschen Verfassungsge-
richts ist keineswegs harmlos. Es greift
machtvoll in die bisherige, umstrittene
Praxis der deutschen Arbeitsämter im Umgang
mit Langzeitarbeitslosen ein. Und doch ist das
Urteil maßvoll und klug abgewogen. Denn es be-
lässt die Grundidee der Hartz-IV-Reform in Kraft,
wonach Arbeitslose die Unterstützungsleistungen
des Staates nicht ad infinitum einfordern kön-
nen, sondern sich selbst intensiv um eine Rück-
kehr in den Arbeitsmarkt bemühen sollen. (...)
„Fördern und Fordern“ war der Slogan der
Hartz-Reform. Durch den Richterspruch vom
Dienstag wird er weiterhin gelten dürfen. Das ist
gut so. Denn Sozialtransfers alleine bringen Men-
schen nicht Arbeit, es braucht auch deren eigene
Anstrengungen sowie die Unterstützung durch
Fachleute auf den Arbeitsämtern. Ohne das „For-
dern“ würden die Hartz-IV-Leistungen zu einer
bedingungslosen Grundsicherung für alle.

Die Londoner „Times“ kommentiert den Streit
über die Veröffentlichung eines Geheimdienst-
berichts über eine mögliche Beeinflussung
des Brexit-Referendums im Jahr 2016 durch
Russland:

D


ie britische Regierung sagt, sie habe
nichts zu verbergen. Doch die Entschei-
dung des Premierministers, die Veröf-
fentlichung zu verzögern, schürt Spekulationen,
wonach er dies aus politischen Gründen tut. Eine
Veröffentlichung hätte eine Möglichkeit sein kön-
nen, wilde Geschichten über eine Russland-Ver-
bindung der Brexit-Kampagne und der Konserva-
tiven Partei zu widerlegen – einschließlich an-
scheinend weit hergeholter Behauptungen, Do-
minic Cummings, der Berater des Premierminis-
ters, habe Verbindungen zum Kreml aus den
1990er-Jahren, als er in Russland arbeitete. Es be-
steht, wie die Dinge liegen, die Gefahr, dass diese
Storys nun mehr Gehör finden. Wichtiger noch
ist, dass die Regierung eine Gelegenheit verpasst
hat, ein Signal an den Kreml über Großbritan-
niens Bekenntnis zur Transparenz und seine Ent-
schlossenheit zu senden, seine Demokratie zu
AFP, imago images/Reiner Zensen, APverteidigen.

Zu den politischen Positionen der spanischen
Rechtsaußen-Partei Vox kurz vor der
Parlamentswahl am Wochenende schreibt die
spanische Zeitung „El País“:

D


ie Anwesenheit einer Gruppe wie Vox
bei einer Wahldebatte, in der es um die
unmittelbare politische Zukunft Spaniens
geht, sowie die erschreckende Natürlichkeit, mit
der sich die fremdenfeindlichen und intoleran-
ten Argumente ihres Chefs (Santiago Abascal) un-
gestraft mit denen der übrigen Parteien mischen,
sollte (...) die Alarmglocken schrillen lassen. Im
Falle der (konservativen Kräfte) Volkspartei und
Ciudadanos heißt das, nicht weiter Regierungs-
mehrheiten auf eine politische Gruppe zu stüt-
zen, deren Grundsätze und deren Vorschläge kei-
nen Platz in der verfassungsmäßigen Ordnung
haben. Und im Fall der (linken) Sozialistischen
Partei und Unidas Podemos bedeutet das, nicht
auf ihre Pflicht zu einer Reaktion zu verzichten,
was unentschuldbar wäre.

E


s ist wenig überraschend, dass sich die Große
Koalition zur Halbzeitbilanz ein mehr als ordent-
liches Zeugnis ausstellt. Wer so (fast) bedingungs-
los weiterregieren will wie Union und SPD, kommt
nachvollziehbarerweise nicht auf die Idee, selbstkri-
tisch mit der eigenen Arbeit umzugehen. Zusammen
mit den Fraktionen habe die Regierung „viel erreicht
und umgesetzt“, loben sich die Protagonisten der Gro-
ßen Koalition. Der Hinweis, dass aber auch noch viel zu
tun bleibe, ist in diesem Zusammenhang nicht als
Selbstkritik an unvollständiger Regierungsarbeit zu ver-
stehen, sondern als Begründung für die Notwendigkeit,
die Große Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode
in knapp zwei Jahren fortzusetzen.
Die Wahrnehmung der Bürger hat wenig mit dem
mehr als 80 Seiten starken Marketingpapier der Bun-
desregierung gemein. Sowohl auf Bundes- als auch auf
Landesebene hat die Zustimmung der Bürger für die
beiden Volksparteien deutlich nachgelassen. Müsste
heute ein neuer Bundestag gewählt werden, hätten
Christ- und Sozialdemokraten keine Mehrheit. Bei der


Landtagswahl in Thüringen zählten Union und SPD
jüngst zu den großen Wahlverlierern. In dem Bundes-
land droht durch die Verschiebungen der Wählerstim-
men zur AfD nun eine Minderheitsregierung. Trotz aller
Gesetze und Beschlüsse ist es Union und SPD nicht ge-
lungen, den Aufstieg der Protestpartei zu verhindern.
Trotz der Enttäuschung vieler Bürger ist nicht alles
falsch, was die Große Koalition in der ersten Halbzeit
der Legislaturperiode angepackt hat. Der Digitalpakt
Schule, das Fachkräftezuwanderungsgesetz oder die
Pläne zum Thema Künstliche Intelligenz sind wichtige
Bausteine zur Sicherung des Wohlstands von morgen.
Gleichzeitig fehlen aber noch wichtige Vorhaben wie
der versprochene Bürokratieabbau und bessere Bedin-
gungen für die Bereitstellung von Wagniskapital für
Gründer, der Ausbau der digitalen Infrastruktur oder
die Vollendung der Energiewende.
Dass sich viele Wähler enttäuscht von der Großen Ko-
alition abwenden, hat nicht nur mit deren inhaltlicher
Arbeit zu tun, sondern vor allem mit deren Erschei-
nungsbild. Die permanenten Anfeindungen innerhalb
der Regierung, ob beim Thema Grundrente oder bei
der Lösung des Syrien-Konflikts, wirken nicht vertrau-
ensbildend, sondern abschreckend auf die Bürger.
Obendrein versprüht Kanzlerin Angela Merkel kaum
noch den Ehrgeiz, die Zukunft Deutschlands mit tief
greifenden Reformen gestalten zu wollen.
Die beste Nachricht ist deshalb die, die nicht in der
Halbzeitbilanz der Bundesregierung steht: Eine Fortset-
zung der Großen Koalition über die Legislaturperiode
hinaus planen weder Union noch SPD.

Große Koalition


Gezielte Selbsttäuschung


Die Bundesregierung stellt sich
ein überaus positives Zeugnis aus.
Der Befund ist weit von der
Wahrnehmung der Bürger
entfernt, meint Sven Afhüppe.

Der Autor ist Chefredakteur.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik
1


DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
19

Free download pdf