Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1
Bert Fröndhoff, Kevin Knitterscheidt,
Kathrin Witsch Düsseldorf, Eisenhüttenstadt

A


m Werkstor von Arcelor-Mittal in Ei-
senhüttenstadt scheint es, als sei die
Zeit vor 30 Jahren stehen geblieben.
Auf rostigem Grund prangt dort sil-
bern das Schild eines Unternehmens,
das es so eigentlich nicht mehr gibt: EKO Stahl,
kurz für Eisenhüttenkombinat Ost. Es ist der Na-
me, den einst die Gründer der DDR für ein einma-
liges kommunistisches Industrieprojekt auserkoren
hatten. In Rekordzeit errichteten sie an der polni-
schen Grenze östlich von Berlin Hochöfen und eine
sozialistische Planstadt für Zehntausende Beschäf-
tigte auf der grünen Wiese.
Das Schild am Werkstor steht mittlerweile unter
Denkmalschutz. Dahinter arbeitet nun, drei Deka-
den nach dem Mauerfall, ein durch und durch ka-
pitalistischer Betrieb. Effizienz und Qualität zählen
alles auf dem Stahlmarkt in Europa, wo mächtige
Autokonzerne die Preise drücken – und die Kon-
kurrenz aus weniger kostenintensiven Ländern wie
Russland und der Türkei immer größer wird. Seit
der Gründung 1950 stand der Ost-Betrieb mehr als
einmal vor dem Aus, er hat sich aber trotz aller
Widrigkeiten gehalten.
Heute ist das Werk eines der wenigen Beispiele
für ein DDR-Unternehmen, das die Wende überlebt
hat. Mehr als 10 000 Ost-Betriebe waren nach dem


  1. November 1989 plötzlich mit der Marktwirt-
    schaft konfrontiert. Von der DDR-Industrie blieb
    wenig übrig – viele Firmen waren zu marode und
    zu veraltet, vielfach gingen die Betriebe nach dem
    Mauerfall pleite, wurden zerschlagen oder zumin-
    dest radikal verkleinert. Bis 1994 hat die Treuhand
    rund 3 500 DDR-Betriebe abgewickelt. Der Rest
    wurde privatisiert: 85 Prozent des Produktivvermö-
    gens gingen in westdeutsche Hände.
    Eine De-Industrialisierung der ehemaligen DDR
    hat es aus Sicht von Historikern und Ökonomen
    aber nicht gegeben. In vielen Kernregionen Ost-
    deutschlands haben sich aus den Ruinen bis heute
    wieder neue und erfolgreiche industrielle Zentren
    entwickelt. So etwa im Stahl, in der Chemie und im
    Braunkohleabbau. Jetzt müssen sie sich in Zeiten
    von Digitalisierung und Dekarbonisierung aber ein
    weiteres Mal neu erfinden.


Stahl: Eine Stadt vom Reißbrett
In Eisenhüttenstadt künden riesige Industrieanla-
gen von der Geschichte des Stahlkochens am kar-
gen Westufer der Oder. Von den einst sechs Hoch-
öfen, die die DDR-Regierung bauen ließ, ist heute
keiner mehr dauerhaft in Betrieb. Eine Anlage aus
der Nachwendezeit schmelzt das angelieferte Ei-
senerz mittels angelieferter Kohle zu Roheisen. Ei-
gene Rohstoffvorkommen gibt es nicht.
Schon die Planung des Werks sei nicht unter
ökonomischen, sondern in erster Linie unter poli-
tischen Gesichtspunkten erfolgt, berichtet der His-
toriker Herbert Nicolaus, der über die Geschichte
des Werks geforscht hat und heute bei Arcelor-Mit-
tal die Kommunikation für den Standort in Eisen-
hüttenstadt leitet. „Der damalige stellvertretende
DDR-Ministerratsvorsitzende, Walter Ulbricht, hat-
te einen Zirkel genommen und um die Militärbasen
der Alliierten in Westdeutschland Kreise gezogen,
um festzustellen, welcher Standort für die Flugzeu-
ge am weitesten entfernt sein würde“, so Nicolaus.
„Übrig blieb ein Gebiet nahe Frankfurt an der
Oder.“ Dort, wo heute Eisenhüttenstadt liegt.
Innerhalb weniger Jahre entstand im Grenzge-
biet der DDR so nicht nur der größte Stahlstandort,
sondern auch gleich eine ganze Planstadt nach so-
zialistischen Idealen. Kindergärten, eine Poliklinik,
Kultur- und Freizeiteinrichtungen für Arbeiter und
Ingenieure gleichermaßen sollten den sozialisti-
schen Aufbau repräsentieren. 1988 zählte Eisenhüt-
tenstadt bereits mehr als 53 000 Bewohner.
„Die Menschen kamen von überall in der DDR
her, um für das EKO zu arbeiten“, erzählt Nicolaus.
„Viele von ihnen waren Vertriebene aus den ehe-
mals deutschen Gebieten in Polen und Tschechien.
Einige wurden auch von weiter her durch die Ver-
sprechungen der sozialistischen Führung angezo-
gen.“ Erfahrung im Stahl hatte keiner von ihnen.

Denn die deutschen Stahlbarone saßen mitsamt
dem Industrie-Know-how seit jeher vor allem an
Rhein und Ruhr sowie im Saarland. Unterstützung
aus der Sowjetunion gab es für das Vorhaben bis
1952 nur wenig, denn bis dahin dachte die sowjeti-
sche Führung noch an eine kurzfristige Wiederver-
einigung Deutschlands, die ein Stahlwerk in Bran-
denburg überflüssig gemacht hätte. Und so griff
man in der DDR auf Pläne der Nationalsozialisten
zurück – und baute zwischen 1951 und 1954 sechs
„Einheitshochöfen“, die für den Bau in eroberten
Gebieten entwickelt, aber von den Nazis nie gebaut
worden waren.
Jahrzehntelang fehlte dem EKO die Möglichkeit,
das in den Hochöfen erzeugte Roheisen selbst zu
verarbeiten. Erst 1984 folgte das Stahlwerk. Die
Warmwalzanlage wurde zu DDR-Zeiten nie gebaut,
was dazu führte, dass Stahlblöcke teils von Eisen-
hüttenstadt zum Walzen nach Westdeutschland
transportiert werden mussten, bevor sie zurück im
Osten weiterverarbeitet wurden.

Diese Voraussetzungen machten es dem EKO
schwer, nach der Wende unter Marktbedingungen
zu produzieren. Über Jahre fand sich kein Käufer,
der bereit gewesen wäre, die nötigen Investitionen
zu finanzieren. Für das EKO begann ein Überle-
benskampf, der erst 1995 beendet wurde.
Mit dem belgischen Mischkonzern Cockerill-
Sambre fand sich schließlich ein Käufer, der das
Werk mit staatlicher Hilfe neu aufbaute. In den Jah-
ren darauf wurden sowohl das neue Warmwalz-
werk als auch ein neuer Hochofen in Betrieb ge-
nommen, der die Kapazität der sechs alten ersetz-
te. Das Werk suchte den Anschluss an die
Automobilindustrie und landete nach mehreren
Fusionen und Übernahmen bei Arcelor-Mittal.
Von den 20 000 Mitarbeitern, die das EKO zu
seinen Hochzeiten ernährte, sind heute nur noch
rund 2 300 übrig geblieben. Auch die Stadt drum-
herum ist geschrumpft. Seit den Achtzigerjahren
hat sich die Bevölkerung auf 25 000 Menschen hal-
biert. „Man kann sagen: Trotz der schlechten Start-

Auferstanden


aus Ruinen


Mit der Stahlproduktion in Eisenhüttenstadt, dem Chemiepark in


Leuna und dem Braunkohlerevier in der Lausitz haben drei


wichtige Industriezentren Ostdeutschlands den Untergang der


DDR überlebt. Nun stehen sie vor dem nächsten Umbruch.


Bitterfeld, 1983: Ein Plakat erinnert an den
Mitbegründer des Kommunismus, Karl Marx.
Dirk Eisermann/laif

Es wird in


Leuna so viel


investiert


wie seit der


Privatisierung


nicht mehr.


Christof Günther
Chef von Infra Leuna

Unternehmen


& Märkte


DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
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