Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 141


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Ernst Augustin, 92
Er wäre ja fast wirklich berühmt geworden, damals, 1966,
bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton. Alle lobten sei-
nen Vortrag, der deutsche Schriftsteller war umschwärmt,
die Karriere konnte jetzt wirklich losgehen. Doch dann
kam Peter Handke, beschimpfte alle – und Ernst Augustin
war vergessen. Darunter zu leiden fiel ihm gar nicht ein. Er
dachte sich lieber neue Welten aus. Im schlesischen Hirsch-
berg geboren, studierte Augustin nach dem Krieg in Ost-
Berlin Medizin, arbeitete eine Weile in einem Wüstenkran-
kenhaus in Afghanistan, reiste durch Indien, lebte einige
Zeit in Costa Rica und ließ sich schließlich in München
nieder. 1962 debütierte er mit dem Fantasieroman »Der
Kopf«, in dem sein Protagonist Türmann sich Helden
erträumt. Mit 80 Jahren hat sich der Salsatänzer Augustin
in seinem Keller eine Disco eingerichtet. Bei einer Hirnope-
ration büßte er seine Sehkraft ein. Und rächte sich dafür
am Operateur in einem Roman. Augustin war der seltene
Fall eines deutschen magischen Realisten. Auf den Tod sei
er nicht sehr neugierig, hat er gesagt, »obwohl es wahr-
scheinlich ein unglaubliches Erlebnis ist«. Ernst Augustin
starb am 3. November in München. VW

Helmut Richter, 85
Es war fast schon tragisch, dass ein einziges Gedicht sein
lebenslanges Schaffen so deutlich überstrahlt hat. Helmut
Richter ist der Autor des Textes »Über sieben Brücken
mußt du gehn«, den die DDR-Band Karat vertonte und der
zu einem Hit wurde, gecovert auch von Peter Maffay und
José Carreras. Die Verse waren ein Ausdruck dessen, was
Richters Leben ausmachte: Nach Kriegsende musste er als
Elfjähriger mit seiner Mutter aus dem damaligen Sudeten-
land flüchten; sie strandeten in Sachsen-Anhalt; Richter ver-
diente Geld als Landarbeiter und machte eine Lehre als
Maschinenschlosser, bevor er sein Abitur nachholte und in
Leipzig Physik studierte. Eine Zeit lang arbeitete er als
Prüfungsingenieur, doch Anfang der Sechzigerjahre ent-
deckte er die Literatur für sich, studierte am renommierten
Jo hannes-R.-Becher-Institut. Hier lehrte Richter später, und
nach der Wende leitete er es für drei Jahre, damals hieß
es schon Deutsches Literaturinstitut Leipzig. Er schrieb Pro-
sa, Reportagen, Hörspiele, doch vor allem lag ihm an der
Lyrik. Helmut Richter starb am 3. November in Leipzig.CLV

Marie Laforêt, 80
Die französischstämmige
Sängerin und Schauspiele-
rin hatte 1973 mit dem Song
»Viens, viens« einen ihrer
größten Hits. Das Lied über
ein Mädchen, das seinen
Vater anfleht, zur Familie
zurückzukehren, hätte
leicht rührselig wirken kön-
nen. Marie Laforêt jedoch,
kühl und zugleich emotio-
nal, machte daraus eine gro-
ße Ballade, die zu Herzen
ging. Auch in ihren Kinorol-
len wirkte sie oft distan-
ziert, manchmal fast ent-
rückt. Schon in ihrem Kino-
debüt »Nur die Sonne war
Zeuge« (1960), im Alter
von 20 Jahren, bot sie auf
diese Weise den männlichen
Stars Alain Delon und Mau-
rice Ronet mühelos Paroli.

Ein Vergnügen, wie lässig
und lustig sie in »Der Wind-
hund« (1979) eine reiche
Romanautorin spielte und
einen coolen Kommissar
(Jean-Paul Belmondo) im
Nu dazu brachte, ihr bei
einer Autopanne den Reifen
zu wechseln. Sie wirkte in
TV-Serien mit, war ein
gefeierter Theaterstar und
sang mit ihrer rauchig-
sanften Stimme Coverver-
sionen von Hits wie »The
Sound of Silence«. Marie
Laforêt starb am 2. Novem-
ber im schweizerischen
Genolier. LOB

Sophinette Becker, 68
Tabus schreckten sie nicht.
Die Psychoanalytikerin
Sophinette Becker promo-
vierte mit einer Arbeit, die
sie »Die Unordnung der

Geschlechter« nannte.
Geschlechtsidentität, aber
auch Perversionen bei
Männern und Frauen sowie
der Wandel von Sexualität
interessierten Becker ihr
Forscherinnenleben lang.
Als im Jahr 2010 im Zusam-
menhang mit dem Miss-
brauchsskandal an der
Odenwaldschule eine
öffentliche Debatte um den
Umgang mit Pädosexualität
geführt wurde, leistete
Becker kritische Beiträge.
Sie wünschte sich weniger
»Enthüllungspathos und
Tunnelblick«, mehr Kon-
zentration auf Tendenzen
wie die Sexualisierung von
Kindern, um sexuellen
Missbrauch zu verhindern,
sagte sie in einem Interview.
Becker arbeitete unter
Volkmar Sigusch am Insti-
tut für Sexualwissenschaft
der Universität Frankfurt.
Als der Doyen der deut-
schen Sexualforschung
2006 emeritierte, wurde
das Institut geschlossen,
Becker leitete die sexual -
medizinische Ambulanz der
Uniklinik allein weiter. Dort
fanden zum Beispiel Men-
schen Hilfe, die ihr biologi-
sches Geschlecht als falsch
empfanden und eine Opera-
tion in Erwägung zogen.
Dabei stand Becker der
Idee, das Geschlecht sei ein
rein soziales Konstrukt,
ablehnend gegenüber, Dog-
matismus war ihr fremd:
»Ich will, dass wir verschie-
den sind, in tausend Eigen-
schaften verschieden. Ich
will nur keine Hierarchie.«
Sophinette Becker starb am


  1. Oktober in Frankfurt
    am Main. KS


ISOLDE OHLBAUM / LAIF

MONDADORI / AKG-IMAGES

BERND HARTUNG
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