Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

sich zu dem Schritt entschlossen und rund
28 000 Prämiensparverträge gekündigt.
Riskieren die Sparkassen mit den Kün-
digungen nicht, Kunden zu verprellen?
Viele hätten sich zwar an Verbraucher-
schutzzentralen gewandt, so Weck, aber
nur wenige ihr Konto gekündigt. »Die
Kunden zeigen Verständnis.« Dass viele
Sparkassenvorstände weiterhin gern eine
halbe Million Euro und mehr verdienen,
spricht er nicht an.
Letztlich steckten die Sparkasse und
ihre Kunden in der gleichen Klemme, sagt
Weck. »Fast niemand glaubt mehr daran,
dass die Zinsen noch einmal deutlich stei-
gen werden.«
Es wird also Zeit für neue Wege. Die
Münchner Stadtsparkasse hat den »Welt-
spartag« am 30. Oktober gerade auch zum
»Weltanlagetag« erklärt. Und so steht an
diesem Morgen um 10.30 Uhr ein einsa-
mer Rentner, in der Hand ein zerfleddertes
Sparbuch, in der nahezu leeren Sparkas-
senfiliale und sinniert: »Was soll man auch
sparen, es bringt ja nichts mehr.« Und er
sagt, was viele im Land denken: »Der
Draghi hat uns Milliarden gekostet.«


Frankfurt am Main, New York:
Die Wall Street ruiniert die Welt, aus
Mario Draghi wird Graf Draghila,
die Zentralbanker machen Politik.

Mario Draghi ist ein kühler Mann, meis-
tens. An diesem Sommertag im Juli 2012
ist es anders, für einen Moment, auf der
Bühne in einer prächtigen Villa am Lon-
doner Green Park, vor Hunderten Politi-
kern und Wirtschaftsvertretern. Seine
sonst so bleichen Wangen sind ungewöhn-
lich gerötet, in einer sich langsam hoch-
schaukelnden Rede sagt Draghi nach sie-
ben Minuten diesen Satz: »Die EZB ist be-
reit, alles zu tun, was nötig ist, um den
Euro zu bewahren.« Whatever it takes.
Zentralbanken waren lange unauffällige
Institutionen, im Hintergrund wirkend,
Leitplanken der Wirtschaft, die auf Infla-
tion achten, auf Kaufkraft, auf die Stabili-
tät des Geldes. Währungshüter. Unpoli-
tisch vor allem.
Draghi hat das geändert, beginnend mit
diesem Satz und dem, was in den Jahren
danach folgte: unerbittlich niedrige Zinsen,
Billionen von Euro, die in die Märkte ge-
pumpt wurden. Eine nie gesehene Geld-
schwemme, die ganz Europa flutete. Mario
Draghi, Präsident der Europäischen Zen-
tralbank von 2011 bis vorvergangene Wo-
che, hat sich damit, wohlwissend, zu einer
der zentralen Gestalten der Weltpolitik in
diesem Jahrzehnt gemacht.
Zu sagen, er polarisiere, wäre eine Un-
tertreibung. Das amerikanische »Time«-
Magazin nannte ihn einmal »The Man
Who Would Save Europe«. Die deutsche
»Bild« machte ihn zu »Graf Draghila«, der


die Konten der deutschen Sparer leer saugt.
Daran lässt sich schnell ablesen, wo die Li-
nien verlaufen. Hier die Deutschen, dort
der Rest der Welt. Wenn es um Finanz -
politik geht, scheint das heute die Norm.
Wer verstehen will, wie sich das Macht-
gefüge im globalen Finanzsystem verän-
dert hat, muss zurückblicken auf diese acht
Jahre seiner Amtszeit. An deren Ende die
Frage steht: Wie kann es sein, dass ausge-
rechnet ein Zentralbanker mit seinem Ver-
such, den Euro zu bewahren und die wo-
möglich schlimmste Wirtschaftskrise in
der Geschichte Europas zu verhindern,
zu einer der Hassfiguren deutscher Wut-
bürger und Finanzpolitiker gleichermaßen
wurde?
Europa zu retten sei schön und gut,
sagen seine Kritiker, aber Draghi habe es
übertrieben. Zu viel billiges Geld, zu lange.
»Was Sie machen, ist falsch«, schrieb der
Präsident des Deutschen Sparkassen- und
Giroverbandes, Helmut Schleweis, vor ein
paar Wochen in einem offenen Brief an

Draghi. »Die EZB fährt einen hochriskan-
ten Kurs, nämlich, dass Vorsorge und Spa-
ren keinen Sinn haben«, kritisierte der
CSU-Politiker Alexander Dobrindt. Der
Preis, den Europa für die Niedrigzins -
politik der EZB zahle, sei zu hoch, sagen
die deutschen Kritiker. Bundesbankpräsi-
dent Jens Weidmann votierte als Einziger
im Zentralbankrat gegen das Anleihekauf-
programm, mit dem Draghi seine Euro -
garantie untermauerte.
Der deutsche Groll irritierte Draghi an-
fangs noch, insbesondere, dass Teile der
deutschen Medien ihn als typischen Italie-
ner mit Hang zum Schuldenmachen kari-
kierten, traf ihn. Ausgerechnet ihn, der sei-
ne Armbanduhr stets absichtlich fünf Mi-
nuten vorstellt, damit er keine Zeit vergeu-
det. »Der deutscher ist, als es sich viele
Deutsche vorstellen können«, wie Ewald
Nowotny sagt, viele Jahre Chef der Öster-
reichischen Nationalbank und Mitglied des
EZB-Rats. Draghi, der sich nie am Stereo-
typ des »Dolce far niente«-Italieners vieler
Deutscher orientierte, sondern »am Mo-
dell eines preußischen Staatsdieners«, wie
Nowotny sagt. Mit einem Pflichtgefühl
und einer Disziplin, die wohl aus seiner
Zeit als Jesuitenschüler in Rom herrühre.
Draghis Ära ist nun gerade zu Ende ge-
gangen, seit dem 1. November hat die EZB
eine neue Präsidentin, Christine Lagarde.
Doch eine geldpolitische Kehrtwende wird
es mit ihr nicht geben. Auch deshalb gaben
sich Draghi und seine Mannschaft vor der
Amtsübergabe selbstsicher und entspannt.
Draghi selbst glaubt, im Großen und Gan-
zen alles richtig gemacht zu haben.
Das hat er auch in seinen letzten Amts-
tagen jedem deutlich gemacht, der mit ihm
darüber sprach, in der Präsidentenetage
der EZB, dort oben im 40. Stock mit Blick
über Main und Frankfurter Dom. Hatte er
selbst geahnt, dass aus einem Rettungspro-
gramm eine neue Ära wird, eine auf Dauer
veränderte globale Wirtschafts- und Fi-
nanzwelt? Zumindest nicht anfangs, direkt
nach der Finanzkrise.
Spätestens seit 2017 aber sei Draghis
EZB-Team klar gewesen, dass die Zinsen
auf absehbare Zeit nicht wieder deutlich
steigen werden. Damals hatten die Zen-
tralbanker begonnen, die Anleihekäufe zu
reduzieren, sie wollten den Krisenmodus
verlassen. Doch dann kamen ihnen der
Brexit, der Handelskrieg und nicht zuletzt
auch die Dieselkrise dazwischen. Draghi
hat der Krise der deutschen Autobauer
eine große Bedeutung zugemessen. Wenn
Deutschland, dessen Wirtschaftskraft und
Effizienz Draghi bis heute bewundert, an-
fange zu schwächeln, so seine Überlegung,
dann leide die ganze Eurozone.
Glaubt auch Draghi an das »New Nor-
mal«, die neue Normalität?
Oder gibt es einen Weg zurück zur alten
Normalität mit ordentlichen Zinsen? Nein,

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POLARIS / LAIF
EZB-Chef Draghi 2016
Eine nie gesehene Geldschwemme

Deutsche Schätze
Geldvermögen der privaten Haushalte
in Deutschland, in Billionen Euro
Bargeld und
Einlagen
2,

Wertpapiere**
1,

Versiche-
rungen*
2,

davon
Aktien
0,
6,
insgesamt
Quelle:
Deutsche Bundesbank,


  1. Quartal 2019


* inkl. sonstiger Forderungen; ** inkl. sonstiger Beteiligungen
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