Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Banken von der Familie haben wollten.
Zuerst über zwei, dann unter zwei, dann
weniger als ein Prozent sollte Stark für die
375 000 Euro bezahlen, die er sich leihen
will. Er habe keinen Grund, sich zu be-
schweren.
Andererseits würde Stark sich das Haus
mit Doppelgarage kaum leisten können,
wenn er in München, Berlin oder einer
der anderen großen Städte leben würde,
in denen sich die Immobilienpreise im ver-
gangenen Jahrzehnt teilweise mehr als ver-
doppelt haben. Wenn Zweizimmerwoh-
nungen mit 50 Quadratmetern eine halbe
Million Euro kosten, dann läuft grundsätz-
lich etwas schief. Es bedeutet, dass viele
Familien bei solchen Preisen ausgeschlos-
sen werden vom Immobilienkauf. Es be-
deutet aber auch, dass die niedrigen Bau-
zinsen und Immobilienkredite vielerorts
immer noch die gestiegenen Preise ausglei-
chen und den Kaufrausch befeuern.
Für die Erziehung ihrer acht Wochen al-
ten Tochter haben die Starks schon jetzt
eine Strategie. Sie soll einmal sparen lernen,
unbedingt, selbst wenn es unrentabel sein
sollte. »Die niedrigen Zinsen rütteln nicht
an meinem Weltbild«, sagt Stark. Die tat-
sächliche Vorsorge soll seine Tochter aber
über ein Aktienpaket bekommen, Stark
will es demnächst zusammenstellen, etwa
mit Anteilen von Digitalunternehmen.
Den Deutschen insgesamt ein anderes
Anlageverhalten beizubringen ist aller-
dings alles andere als leicht. Sparen ist eine
deutsche Spezialdisziplin. Rund zwei Bil-
lionen Euro liegen weitgehend unverzinst
auf deutschen Giro- oder Tagesgeldkonten
herum. Es ist absurd: Der deutsche Sparer
verwendet im Zweifel lieber all seine Ener-
gie darauf, sich über die ungerechte Welt
und die Europäische Zentralbank aufzure-
gen, als sich mit Aktien, Fonds und ande-
ren Anlageformen auseinanderzusetzen.
Das macht keine andere Industriegesell-
schaft der Welt so. Und deswegen leidet
auch keine andere Industriegesellschaft so
sehr an der neuen Normalität wie die Deut-
schen. Die Zinsflaute trifft den deutschen
Sparer ins Herz.
Auf 582 Milliarden Euro summierten
sich die Spareinlagen der privaten Haus-
halte Mitte 2019, fast die Hälfte davon liegt
auf Sparbüchern. »Es ist nicht rational,
was die Deutschen machen«, sagt der Wirt-
schaftshistoriker Johannes Bähr.
Der Sonderweg der Deutschen hat viel
mit Geschichte zu tun. »Spare, lerne, leiste
was, dann haste, kannste, biste was« – so
trommelten Sparkassen und Volksbanken
nach dem Krieg für sich und ihre Produkte.
Leitbild war die schwäbische Hausfrau –
so wie sie später Kanzlerin Merkel in der
Eurokrise idealisierte.
Paradox ist, dass gerade die Deutschen
so versessen aufs Sparen sind, trotz der
Hyperinflation nach dem Ersten Welt-


krieg, als die Ersparnisse wertlos wurden.
»Die kulturelle Prägung wirkt offenbar
stärker als derartige kurzfristige Schocks«,
sagt Bähr.
Heute wissen vor allem die Sparkassen
nicht, wohin mit dem ganzen Barvermö-
gen der Deutschen. Sie müssen das Geld
bei der EZB parken. Und dafür Negativ-
zinsen zahlen.
»Das können wir uns eigentlich kaum
leisten«, sagt Martin Weck. Der Vorstands-
chef der Sparkasse Mülheim an der Ruhr

sitzt in der Zentrale seiner Sparkasse,
einem Betonklotz mit der repräsentativen
Adresse Berliner Platz 1, der zu groß aus-
gefallen ist für die Ruhrgebietsstadt mit
ihren 170 000 Einwohnern und einer
Arbeits losenquote von 7,1 Prozent. Neun
Filialen betreibt sein Institut. Seine Mitar-
beiter betreuen 76 000 Kunden.
Rund eine Milliarde Euro sogenannte
Sichteinlagen muss die Sparkasse Mül-
heim vorhalten, um täglich flüssig zu sein.
Weck hat das Geld bei der EZB und der
Hessischen Landesbank geparkt. Bei 0,
Prozent Negativzins kostet ihn das fünf
Millionen Euro jährlich – der Jahresüber-
schuss fiel zuletzt mit einer Million Euro
deutlich kleiner aus.
Einen Teil der Extrakosten holt er sich
jetzt zurück: Mehr als 5000 Kunden hat
er die jahrzehntelang so beliebten Prä -
miensparverträge gekündigt. Die funktio-
nieren nach einem einfachen Prinzip: Kun-
den zahlen monatlich einen bestimmten
Betrag ein; nach einer Frist erhalten sie
Bonusprämien, die im Lauf der Zeit stei-
gen. In der Höchststufe erreicht die Prämie
50 Prozent dessen, was die Kunden im
Jahr einzahlen. Ein Urteil des Bundes -
gerichtshofs vom Mai ermöglicht es Spar-
kassen nun, Verträge zu kündigen, sobald
die höchste Prämienstufe erreicht ist, oft-
mals nach 15 Jahren.
Inzwischen dürften weit mehr als 50 der
bundesweit rund 380 Sparkassen die Spar-
verträge gekündigt oder das in Aussicht ge-
stellt haben. Denn sie erwirtschaften we-
gen der niedrigen Zinsen kaum noch, was
sie ihren Kunden an Prämien versprochen
haben. In Mülheim vertreiben sie die Pro-
dukte schon seit 2006 nicht mehr – zu teu-
er. Auch die Stadtsparkasse München hat

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Titel

TIM WEGNER / DER SPIEGEL
Sparerfamilie Stark: Von Opfern der Niedrigzinsen zu Profiteuren

Kostspielige Vorsorge
Monatlicher Sparbetrag, um ab 65 Jahren eine
Zusatzrente von 500 Euro* zu erhalten
Alter zu Beginn
der Ansparphase:

bei einer
Nettorendite von:

25 Jahre
35 Jahre
45 Jahre
55 Jahre

0 %

0,5 %

2,5 %

4,5 %

742
906
1241
2258

626
780
1091
2032

316
432
664
1361

158
242
414
942
*entsprechend heutiger Kaufkraft, konstant zwei Prozent
Inflation, ohne Steuerabzug, 30 Jahre Rentenbezug Quelle: Verivox
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