Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
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 Ökonomische Nostalgiker, die beson-
ders häufig in der AfD anzutreffen sind,
empfehlen gegen die verhasste Nullzins-
politik der Europäischen Zentralbank
(EZB) ein Patentrezept: Deutschland
müsse bloß wieder eine eigene Währung
einführen, schon würde geldpolitische
Normalität einkehren. Der Geldwert
bliebe stabil, der Wechselkurs genauso
und, das Wichtigste, endlich würde es
wieder Zinsen geben aufs Ersparte. Denn
Nullzinsen, da trügt die Erinnerung die
Währungsnationalisten nicht, gab es frü-
her nie, als die Bundesbank die heimische
Währung noch im Alleingang verwaltete.
Trotzdem könnten die D-Mark-Patrio-
ten nicht ärger danebenliegen. Ihre
Hoffnungen auf eine ruhmreiche Wie -
derbelebung der Wirtschaftswunder -
währung würden enttäuscht. Geschichte
lässt sich nicht wiederholen. In Wirk -
lichkeit wäre die Bundesbank zu noch
drastischeren Maßnahmen gezwungen als
derzeit die EZB, um die Wirtschaft am
Laufen zu halten.
Warum wäre das so? Die Deutschen
halten sich viel zugute auf ihre Rolle als
Exportmaschine. Tatsächlich erwirt -
schaftet kaum ein anderes Land einen hö-
heren Leistungsbilanz überschuss. Der
pendelte in den vergan genen Jahren stets
um die Marke von sieben Prozent der
Jahreswirtschaftsleistung. Die Deutschen
exportieren also viel mehr Waren und
Dienstleistungen in den Rest der Welt, als
sie von dort beziehen.
Das Geschäftsmodell funktioniert seit
Jahrzehnten – und zwar unabhängig da-
von, ob deutsche Unternehmen ihre Pro-
dukte in Mark oder Euro abrechnen. Und
dennoch gäbe es einen entscheidenden
Unterschied: Wäre Deutschland bei einer
eigenen Währung geblieben, hätte die
D-Mark in den vergangenen Jahren gegen-
über den meisten anderen Währungen
viel stärker an Wert gewonnen, als es mit
dem Euro der Fall war. Um deutsche Ma-
schinen, Autos oder Gummibärchen zu
kaufen, hätten die Kunden in aller Welt
ihr Geld in D-Mark tauschen müssen, was
deren Kurs in die Höhe getrieben hätte.
Der Grund: Die globale Nachfrage wäre
auf eine vergleichsweise kleine Volkswirt-
schaft getroffen, deren Währung nur über
begrenzte Liquidität verfügt. Als Konse-
quenz wäre der Wechselkurs der Mark
durch die Decke geschossen, mit erheb -


lichen Gefahren für die wirtschaftliche
Entwicklung.
Um Verwerfungen in der Wirtschaft zu
vermeiden und den Aufwertungsdruck
zu lindern, hätte die Bundesbank die Zin-
sen noch viel kräftiger senken müssen
als unter dem gegenwärtigen Währungs -
regime geschehen. Die Deutschen würden
heute also nicht über die Nullzinspolitik
der EZB klagen, sondern über die Nega-
tivzinspolitik der Bundesbank.
Mehr noch: Die deutsche Notenbank
würde wahrscheinlich in ähnlichem Um-
fang deutsche Anleihen kaufen wie
derzeit die EZB, mit dem einzigen Unter-
schied, dass sie zusätzlich an den De -

visenmärkten intervenieren und fremde
Währungen in Massen aufkaufen müsste,
um den Aufwertungsdruck der Mark zu
lindern.
Ein unrealistisches Szenario? Keines-
wegs, genau so ergeht es der Schweiz seit
einigen Jahren, die sich mit dem Franken
nach wie vor eine eigene Währung leistet.
Wie andere Notenbanken auch senkte die
Schweizerische Nationalbank die Zinsen
in den Negativbereich.
Anfangs kaufte sie in erheblichem Um-
fang Anleihen und führte für den
Franken einen garantierten Höchstkurs
ge genüber dem Euro ein. Sobald er
die festgelegte Marke überschritt, flutete
die Notenbank die Märkte mit heimi-
scher Währung, um deren Kurs zu drücken.
Genauso hätte auch die Bundesbank
ver fahren müssen. Die Geldschwemme
der EZB, die D-Mark-Nostalgiker stets
wortreich beklagen, wäre unter der Regie
der Bundesbank also noch viel üppiger
ausgefallen.
Und trotzdem hätten sich viele ökono-
mische Kennziffern in Deutschland
wohl längst nicht so günstig entwickelt
wie unter der Ägide des gerade verab-
schiedeten EZB-Präsidenten Mario
Draghi.
Der im Vergleich zum Euro höhere
Wechselkurs der Mark hätte deutsche
Waren und Dienst leistungen im Ausland
teurer gemacht, dort die Nachfrage
gedämpft und so den Export gebremst.
Als Konsequenz wäre das Wirtschafts-
wachstum deutlich schwächer ausgefallen
als in den vergangenen Jahren. Die
Deutschen wären heute weniger wohl -
habend.
Schwächeres Wachstum bedeutet für
gewöhnlich auch weniger Steuereinnah-
men. Die heimischen Staatsfinanzen stün-
den heute demnach viel unsolider da,
wenn die Deutschen ihre Verbindlichkei-
ten gegenüber dem Fiskus noch in Mark
begleichen würden.
Weil exportorientierte Unternehmen
längst nicht so gute Geschäfte gemacht
hätten wie im Euroland, wäre auch
die Arbeitslosigkeit weniger stark ge -
sunken.
Mehr Arbeitslose bedeuten wiederum
höhere Staatsausgaben. Kaum anzuneh-
men also, dass ein deutscher Finanzminis-
ter in den vergangenen Jahren angesichts
höherer Ausgaben und weniger Einnah-
men eine schwarze Null in seinem Haus-
halt erzielt hätte.
Die fiktive Bilanz einer eigenen Wäh-
rung sähe mithin so aus: weniger Wachs-
tum, höhere Arbeitslosigkeit, Defizite in
den Staatshaushalten, noch niedrigere
Zinsen. Eigentlich haben die Deutschen
keinen Grund, sich über den Euro zu be-
klagen. Christian Reiermann

D-Mark-NostalgieMit einer eigenen Währung würde Deutschland
heute bei vielen ökonomischen Kennziffern schlechter abschneiden.

Trügerische Hoffnung


WESTEND61 / IMAGO IMAGES


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Dezember 2014
Die Schweizerische
Nationalbank legt
Minuszinsen fest.

Unter Aufwertungsdruck
Leitzins der Schweizerischen Nationalbank,
in Prozent

Quelle: Refinitiv Datastream

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2008 2015

zum Vergleich:
EZB-Leitzins
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