Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Barack Obama und organisierte den Kampf
gegen die globale Finanzkrise. Mit 28 Jah-
ren wurde er einer der jüngsten Professoren
in der Geschichte der Harvard University,
später wurde er ihr Präsident. Er war Chef-
ökonom der Weltbank. Bill Clinton sagt,
Summers verfüge über das äußerst seltene
Talent, »wirklich die Zusammenhänge der
Welt zu verstehen und sie beeinflussen zu
können«.
Gespräche mit Summers sind nicht ganz
einfach. Zum einen weil er unglaublich
klug ist. Zum anderen weil er ungeduldig
und es gewohnt ist, immer mehr zu wissen
und immer recht zu haben.
Also Professor Summers, bitte erklären
Sie uns: Wie sind wir an diesen Punkt ge-
kommen, an dem eigentlich unverrückba-
re Regeln der Volkswirtschaft außer Kraft
gesetzt sind? Wie kann es sein, dass es seit
bald einem Jahrzehnt keine Zinsen gibt,
wo bleibt die Inflation, warum wächst die
Wirtschaft trotzdem so langsam?
»Das Verhalten der Volkswirtschaften
und der Finanzmärkte ist sehr überra-
schend«, sagt Summers. Niemand habe
sich 2009 vorstellen können, dass die Zin-
sen zehn Jahre später immer noch bei null
sind. Hätte man Ökonomen damals gesagt,
dass es trotzdem keine Inflation gibt: »Sie
wären geschockt gewesen.«
Nun ließe sich sagen: Wenn schon einer
der führenden Experten für die globale
Ökonomie kalt erwischt wurde, dann brau-
chen wir uns nicht weiter zu wundern,
dass uns die Welt so seltsam erscheint. An-
dererseits ist das höchst verstörend: Ist die
globalisierte, digitalisierte Wirtschaft ein-
fach zu komplex geworden, um sie noch
zu verstehen, geschweige denn zu steuern?
Rasen wir unkontrolliert neuen unvorher-
sehbaren Weltfinanzkrisen entgegen?
Inzwischen sei zumindest eins klar, sagt
Summers: Die lange gängige Lesart, die
Finanzkrise von 2008 allein sei schuld an
dieser seltsam veränderten Wirtschafts-
welt, stimmt nicht. Vielmehr, sagt Sum-
mers, hätten über 30 Jahre subtile Kräfte
im Hintergrund gewirkt, deren Auswirkun-
gen kaum zu erkennen waren. Auch nicht
von den besten Ökonomen.
Sicher, die Finanzkrise war ein Kataly-
sator: Für einen Moment schien es, als
würde die Welt in einen Abgrund stürzen,
das Bankensystem zusammenbrechen, die
Wirtschaft in sich zusammenfallen, die Fol-
gen Massenarbeitslosigkeit, Firmenpleiten,
Verarmung. Eine zweite Depression, wie



  1. Eine Notbremse schien angebracht:
    Die Zentralbanken senkten die Zinsen gen
    null und pumpten zugleich Billionen Dol-
    lar in die Märkte, damit die Verbraucher
    konsumieren, die Unternehmen investie-
    ren und die Banken Geld verleihen.
    Aber eigentlich begannen die Probleme
    schon viel früher, sie sind vielfältig und
    kompliziert, doch laut Summers haben sie


einen gemeinsamen Nenner: Wir sparen
zu viel. Sowohl Privathaushalte als auch
Unternehmen. Summers hat eine Theorie
dazu, 2013 stellte er sie erstmals vor. Sie
nennt sich »säkulare Stagnation«, und sie
geht so: Die Reichen sammeln immer mehr
Geld, während die Mittelschicht zu kurz
kommt, wir leben länger und brauchen des-
wegen mehr Geld in einem längeren Ru-
hestand, Globalisierung und Digitalisie-
rung verändern Industrie und Arbeits-
markt. Und deswegen sparen die Men-
schen mehr, »weil sie noch mehr Angst ha-
ben, dass etwas falsch laufen könnte«. Zu
viel Unsicherheit. Gleichzeitig horten Un-
ternehmen wie Apple und Google Aber-
milliarden von Dollar; schneller technolo-
gischer Wandel drängt zur Vorsicht, lieber
genügend Geld auf der Seite zu haben.
Auf der anderen Seite müssen Unter-
nehmen oft weniger Geld aufwenden als
früher, Summers hat Beispiele parat: Ein
Smartphone kann heute, was früher ein
Supercomputer für Hunderttausende Dol-
lar leisten musste. Dank E-Commerce
müssen weniger Einkaufszentren gebaut
werden. In der Ökonomensprache heißt
das: »Viele einst teure Investitionsgüter
sind heute billig.« Die Folge: Es liegt ein-
fach zu viel Geld rum. Der Druck auf die
Zinsen ist enorm, die Wirtschaft wächst
kaum.
Für Summers ist deswegen klar: »Der
Grund für die niedrigen Zinsen ist keine
politische Entscheidung der Zentralban-
ken. Sie reagieren nur auf fundamental
veränderte ökonomische Bedingungen.«
Es gibt auch andere Theorien von an-
deren bekannten Ökonomen, manche wi-
dersprechen Summers, teils vehement.
Kenneth Rogoff etwa, einst Chefökonom

* Mit US-Präsident Barack Obama 2010.

des Internationalen Währungsfonds,
meint, das Problem seien eher zu viele
Schulden. Nobelpreisträger Paul Krugman
sieht eine »Liquiditätsfalle«. Das Problem
ist nur: Niemand weiß so genau, wie wir
aus der Sache wieder rauskommen sollen.
Auch Summers nicht.
Nullzinsen und damit immer verfügba-
res billiges Geld seien »wie ein schwarzes
Loch«. Sobald eine Volkswirtschaft erst
einmal reingezogen worden sei, sei es fast
unmöglich rauszukommen. Japan und
Europa seien schon gefangen, sagt Sum-
mers, und die USA »nach der nächsten
Rezession wohl auch«.

Tokio: Die Marumonos sorgen sich um
ihre Kinder, die Japaner müssen immer
länger arbeiten, und Deutschland soll
auf keinen Fall wie Japan werden.

Omotesandō gehört zu den besseren Vier-
teln in Tokio, und die Marumonos gehören
zu den besser gestellten Japanern. Man
merkt es schnell, wenn man sie in einem
kleinen Jazz-Café in der Nähe ihrer Woh-
nung trifft. Masanao Marumono ist 69 und
eigentlich schon seit 16 Jahren pensioniert.
Eine typische erfolgreiche japanische Kar-
riere: führender Manager in einer Bank,
lange Tage, kurzer Urlaub, 60 Stunden die
Woche, ein Leben für das Unternehmen
und dann die Pensionierung mit 53. Wenn
er heute jung wäre, würde sein Berufsle-
ben auch noch so ablaufen? »Kaum vor-
stellbar«, sagt Marumono.
Das offizielle Rentenalter in Japan liegt
heute bei 60 Jahren. Das ist nicht mehr
haltbar. Nicht nur weil die Japaner immer
länger leben und die Geburtenrate zu nied-
rig ist. Der staatliche Pensionsfonds be-
kommt Probleme, die Renten zu bezahlen.
Vergangenes Jahr hat der japanische Ren-

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 19


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ZUMA PRESS / IMAGO IMAGES
Ökonom Summers*: »Das Verhalten der Volkswirtschaften ist sehr überraschend«
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