Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
Krisenzeiten handelten sie umgekehrt.
Aber solche Regeln gelten nicht mehr, weil
zu viel Geld in die Finanzmärkte statt in
die Realwirtschaft fließt. Allein das in Hed-
gefonds verwaltete Vermögen hat sich seit
der Finanzkrise von 2008 auf gut drei Bil-
lionen Dollar fast verdreifacht. Das Volu-
men von Indexfonds, die ein Marktbaro-
meter wie den Dax oder den Dow Jones
abbilden, hat sich auf 5,7 Billionen Dollar
vervielfacht.
Verloren habe fast niemand, sagt Serra.
»Außer Pensionären, Sparern, Banken und
Versicherungen«. Bedauerlich sei das, sagt
er, und – was die Sparer angeht – unnötig.
Es sei doch leicht, etwas zu tun: investie-
ren, anlegen, mehr riskieren. Eben alles
außer einfach sparen.
Das klingt simpel, vielleicht zu simpel.
Weil so viel Geld in den Markt geflossen
ist, »auch in illiquide Sektoren, waren eini-
ge Vermögensverwalter versucht, zu viele
Risiken einzugehen«, sagt Mohamed El-Eri-
an in der Finanzmetropole New York. Der
amerikanische Ökonom, Sohn eines ägyp-
tischen Diplomaten, war sechs Jahre lang
Chef des Vermögensverwalters Pimco, der
1900 Milliarden Dollar verwaltet und über-
wiegend in Anleihen angelegt hat, der welt-
größte Investor dieser Art. Präsident Ba-
rack Obama machte ihn zum Leiter seines
Global Development Council. Seit 2014 ist
er ökonomischer Chefberater der Allianz.
El-Erian ist ein stets freundlicher und
geduldiger Welterklärer, ein Anti-Sum-
mers in mancher Hinsicht. »Das Problem
ist«, sagt El-Erian, »dass man die Gefahren
lange nicht sieht. Es ist, als ob man eine
große Sandburg baute und denkt, die ist
aber stabil, bis eine einzige weitere Schip-
pe Sand sie komplett verändert.«
Aber es gebe Krisenindikatoren, kleine
Warnsignale, heute schon. Komplexe Fi-

nanzprodukte, die in der Finanzkrise von
2008 zu den Brandbeschleunigern zählten,
haben in ähnlicher Form wieder Konjunk-
tur. Auch andere Symptome der Überhit-
zung erinnern an damals. »Es gibt Vermö-
gensverwalter, die jenseits ihrer eigenen
Expertise nach höheren Renditen jagen,
die sich als zu riskant oder sogar flüchtig
erweisen könnten«, sagt El-Erian.
Argentinien gab vor zwei Jahren eine
100-jährige Anleihe aus. Obwohl das Land
in den vergangenen 100 Jahren acht Staats-
pleiten durchlebte, reichte das Angebot
nicht, so heiß waren Anleger auf die ver-
sprochenen sieben Prozent Zinsen. Schon
jetzt ist das Papier nicht einmal mehr die
Hälfte wert. »Und wenn es noch eines Be-
weises bedarf, wie verzerrt das Finanzsys-
tem ist«, sagt El-Erian, »dann die Tatsache,
dass selbst Griechenland zuletzt zu nega-
tiven Zinsen Schulden machen konnte.«
Das Land, das noch bis 2016 mit 175 Milli-
arden Euro an Hilfskrediten von IWF und
EU vor der Staatspleite gerettet werden

musste, bekommt noch Geld geschenkt,
wenn es neue Schulden aufnimmt.
Schuldner profitieren übermäßig von
der Geldflut, das gilt nicht nur für Staaten.
Welche Folgen die absurde Zinssituation
für Unternehmen hat, weiß Jochen Felsen-
heimer, Mitgründer und Chef des Münch-
ner Hedgefonds Xaia. Felsenheimer hat
lange bei der HypoVereinsbank gearbeitet,
mit faulen Krediten kennt er sich aus. »Die
Zahl der Firmen, die finanziell in Bedräng-
nis sind, steigt von Jahr zu Jahr«, sagt Fel-
senheimer. »Diese Firmen können nur
überleben, solange sie praktisch keine Zin-
sen zahlen.«
Zombiefirmen werden solche Unterneh-
men in Finanzkreisen genannt, weil sie ei-
gentlich tot und begraben sein sollten und
doch noch irgendwie umherwandeln. Die
Bank für Internationalen Zahlungsaus-
gleich – eine Art Zentralinstitut der Zen-
tralbanken – definiert als Zombiefirmen
alle Unternehmen, die mindestens zehn
Jahre alt sind und die mehr für Zinsen zah-
len müssen, als sie Gewinn machen. Nach
Berechnungen der EZB war vor einigen
Jahren etwa jedes zehnte Unternehmen in
sechs Kernländern der Eurozone – darun-
ter Frankreich, Italien und Deutschland –
ein Zombie. Eine erschreckende Zahl. Deut-
sche Reedereien und Autozulieferer zählen
dazu, ebenso italienische Zementfirmen
oder französische Supermarktketten.
Und oft sind sie nur schwer zu erkennen.
Normalerweise müssen angeschlagene Fir-
men höhere Zinsen zahlen, um ihren Geld-
gebern das Risiko zu vergüten. Doch die
Geldflut ebnet die Risiken ein. Vor allem
seit die EZB selbst in großem Stil Unter-
nehmensanleihen kauft, kommen selbst fi-
nanzschwache Firmen wie etwa die italie-
nischen Konzerne Feltrinelli oder Benet-
ton wieder billig an Geld. Italien ist von

Titel

KEINE MAUERN


DIE WELT BRAUCHT


Coca-Cola, die Konturflasche und die dynamische Welle sind eingetragene Schutzmarken der The Coca-Cola Company.


38


Auf Pump
weltweite Unternehmensschulden*,
in Billionen Dollar

* jeweils erstes Quartal; Quelle: IIF

1997 2007

73


2019

21

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