Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

möglich Geld in Technologien oder Werke,
die kaum rentabel sind. Die Produktivität
sinkt, weil der Druck fehlt, innovativ und
effizient zu sein.
Die Entwicklung beschleunigt sich, ra-
sant. Vor einem Jahr noch habe Bertels-
mann für eine Anleihe mit siebenjähriger
Laufzeit 1,25 Prozent Zinsen gezahlt, er-
zählt Hirsch. Heute müsste man für eine
vergleichbare Anleihe nur noch 0,5 Pro-
zent zahlen.
Der Münchner Siemens-Konzern be-
kam vor wenigen Monaten sogar Geld da-
für, dass er Schulden machte. Siemens gab
Unternehmensanleihen heraus, lieh sich
also Geld, und zwar satte 3,5 Milliarden
Euro – und musste für einen Teil dieser
Anleihen keine Zinsen zahlen, sondern be-
kommt zum Beispiel für Papiere mit zwei-
jähriger Laufzeit 0,315 Prozent Zinsen.
Anders gesagt: Wer Siemens 1000 Euro
gab, bekommt nur 993,70 Euro zurück.
Das klingt absurd, nicht nur für Laien.
»Da wird ein Grundgesetz außer Kraft
gesetzt, nämlich das von Leistung und Ge-
genleistung. Ultimativ heißt das ja: Je
mehr man sich verschuldet, desto mehr
Erträge erwirtschaftet man«, sagt Hirsch.
Und das könne Firmen und Finanzin-
vestoren zu einer Menge Unsinn verleiten.
Hirsch sieht Bertelsmann im Vorteil, weil
es dem Unternehmen gut geht und es or-
ganisch wächst. Anders ist das bei Firmen,
die nur wachsen können, indem sie andere
Firmen hinzukaufen.
Besonders anfällig für einen leichtsinni-
gen Umgang mit dem vielen Geld sind da-
her Finanzinvestoren, deren Geschäftsmo-
dell gerade darin besteht, Unternehmen
mit überwiegend geliehenem Geld zu
übernehmen und die Kredite aus den Ge-
winnen der Firmen abzustottern.
Diese Private-Equity-Firmen schwim-
men derzeit im Geld. Übernahmen durch
Finanzinvestoren haben sich von rund 600
Milliarden Dollar 2010 auf 1,4 Billionen
Dollar 2018 mehr als verdoppelt.
Wenn die Wirtschaft schrumpft, wächst
für viele der von Finanzinvestoren über-
nommenen Firmen das Risiko, die ihnen
aufgeladenen Schulden nicht mehr bedie-
nen zu können. Das erinnert an die Finanz-
krise.
Ein Problem kann die Kaufwut der Fir-
menjäger aber schon jetzt sein. Unterneh-
men wie Bertelsmann stehen vor der Fra-
ge, wie sie sich im Wettbewerb mit aggres-
siven Konkurrenten und Finanzinvestoren
behaupten können, ohne übertriebene fi-
nanzielle Risiken einzugehen. Schwieriger
noch wird es für mittelständische Firmen,
die kaum oder gar keinen Zugang zum
billigen Geld der Kapitalmärkte haben.
»Langfristig werden kleinere und mittlere
Unternehmen eher zu den Verlierern die-
ser Zinsentwicklung gehören, weil sie
nicht die Möglichkeit haben, sich über den


internationalen Kapitalmarkt zu finanzie-
ren«, sagt Hirsch.
Und noch etwas kommt hinzu. Zwar
sparen Unternehmen derzeit eine Menge
Zinsen, bei Bertelsmann ist das etwa ein
zweistelliger Millionenbetrag. Doch da -
gegen steht rechnerisch eine um 500 Mil-
lionen Euro höhere wirtschaftliche Ver-
schuldung. Sie komme dadurch zustande,
erklärt Hirsch, dass künftige Pensionsver-
pflichtungen ebenfalls mit dem viel nied-
rigeren, aktuellen Marktzins abgezinst
werden müssten. Sie schlagen sich also
heute sehr viel stärker und belastender in
der Bilanz nieder.
Die Vermögensverwaltung Flossbach
von Storch schätzt, dass Dax-Konzernen
wie VW, Daimler oder Siemens durch die
Niedrigzinsen rechnerisch Zusatzlasten
durch künftige Pensionen in Milliardenhö-
he entstehen. Viele Konzerne haben für
die künftigen Lasten nicht ausreichend vor-
gesorgt, die Niedrigzinsen lassen die Lücke
nun weiter anschwellen.

Mailand, New York: Ein Fondsmanager
jubelt, ein Chefökonom warnt,
und Unternehmen werden zu Zombies.

»Kein Land hat so von der Währungsunion
und der Geldpolitik der EZB profitiert wie
Deutschland«, sagt Davide Serra, der In-
vestor. Führte Deutschland statt des Euro
wieder die D-Mark ein, würde der Wech-
selkurs auf 1,70 oder 1,80 Dollar steigen;
auf einen Schlag würde Deutschland eine
Billion Euro an Krediten verlieren, weil
der verbleibende, schwächere Rest der Eu-
rozone nicht mehr bezahlen könnte. Ex-
porte brächen weg, 30 Prozent der deut-
schen Wirtschaftsleistung wären verloren,
die Staatsverschuldung stiege auf 100 Pro-
zent, rechnet Serra vor (siehe Seite 18).
Serra, gebürtiger Italiener, arbeitet seit
fast einem Vierteljahrhundert in der Hoch-
finanz, erst bei der Schweizer Großbank
UBS, dann bei Morgan Stanley, seit 2006
hat er seine eigene Firma. Wegen des Bre-
xits zog er mit seiner Familie nach Mailand,
nahm aber gleichzeitig die britische Staats-
bürgerschaft an. Er ist mit dem ehemaligen
italienischen Regierungschef Matteo Renzi
befreundet und mit Sigmar Gabriel, hält
manche italienischen Banken für verbre-
cherisch und nennt die deutsche Kritik an
der EZB »heuchlerisch«. Hinter seinem
Schreibtisch hängt ein Bild, das ihn auf der
Spitze einer Felsnadel balancierend zeigt.
Das vergangene Jahrzehnt war ein gutes
für Serra, für die meisten Finanzprofis. Die
Kurse von Aktien und Anleihen, die Preise
von Immobilien, vielen Rohstoffen, fast
alles legte zu. Lange galt es als ehernes
Gesetz, dass Aktien und Anleihen nicht
gleichzeitig steigen. Erwarteten die Händ-
ler Wachstum, kauften sie Aktien und lie-
ßen die sicheren Anleihen links liegen, in

21

Betongold schlägt alles
Vergleich von Geldanlageklassen seit 2008

Staatsanleihen
Rendite von Bundesanleihen mit 10 Jahren Laufzeit

Aktien
Dax, in Punkten

Festgeld
Effektivzinssätze für Einlagen privater Haushalte
mit vereinbarter Laufzeit bis 2 Jahre

Immobilien
Preisentwicklung von Neubau-
Eigentumswohnungen in kreisfreien
Städten gegenüber 2008


  • 0,32 %


13 289


0,21 %



  • 102 %


4,33 %


8067


4,04 %


Quelle: Refinitiv Datastream

Quelle: Refinitiv Datastream

Quelle: Bundesbank

Quelle: Empirica

2008 2019

2008 2019

2008 2019

2008 2019

3

2

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3

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