Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
Mikaela Straus, vor
gerade mal 20 Jahren
in Brooklyn geboren,
hat bereits viel zu
erzählen. Ihre Urur-
großeltern gingen
mit der „Titanic“ unter, mit elf Jahren
bot man ihr den ersten Plattenvertrag
an, und sie definiert sich als Gender-
queer-Person. Deshalb auch ihr Künst-
lername King Princess, unter dem
veröffentlicht sie nun auf dem Label
von Mark Ronson ihr Albumdebüt
„Cheap Queen“ und klingt dabei
überhaupt nicht billig. Auch wenn
ihr balladesker Pop ein paar Brüche
und Kanten mehr vertragen könnte:
Ihre reife Stimme und ihr Gespür
für eingängige Melodien sollten sie
bald ins Radio und auf die großen
Bühnen bringen. 22222

POP


Für den minimalis-
tischen Rock, den
sie auf ihrem Debüt
wie beiläufig dahin-
warfen, erhielt das
Trio International
Music aus Essen viel Lob. Nun waren
Gitarrist Peter Rubel und Bassist Pedro
Goncalves Crescenti erneut im Studio,
der Schlagzeuger musste draußen
bleiben. Als Düsseldorf Düsterboys
zaubern sie auf „Nenn mich Musik“
eine ganz besondere Melancholie.
Die Musik driftet zwischen Hypnose,
Klartraum und Vollrausch. Lagerfeuer-
Gitarren schrammeln, die Orgel jammert,
und dazu gibt es doppelstimmige,
doppelsinnige Texte über Kneipen
und Musen, über nächtliche Besuche
an der Tankstelle und Schalke 04.
Halb sakral, halb verkatert – und
vollkommen lässig. 22222

FOLK


Das Rührende an
Ringo Starr ist,
dass der inzwischen
79-Jährige immer
noch nicht richtig
singen kann. Aber
wen stört das schon? Der Mann war
schließlich mal der Schlagzeuger der
besten Band der Welt und genießt
damit musikalische Narrenfreiheit
auf Lebenszeit. Für sein neues Album
„What’s My Name“ hat er sich ein
paar alte Freunde eingeladen. Paul
McCartney natürlich, aber auch Dave
Stewart oder den Eagles-Gitarristen
Joe Walsh. Musikalisch knüpft Ringo
dort an, wo er mit den Beatles auf-
hörte, was keine schlechte Entschei-
dung ist. Höhepunkt des Albums:
Ringo singt und summt den alten
John-Lennon-Song „Grow Old
With Me“. 22222

ROCK


FOTOS: ANNE DE WOLFF


Ein Blick zurück – und
ein Blick nach vorn: Michel
van Dykes berührendes
Retropop-Album „Fangt
schon mal ohne mich an“
22222

zuvor schrieb. Einflüsse der Erkrankung?
Michel van Dyke klingt das zu einfach. Er
hat sich lange dazu durchringen müssen,
über dieses Krankheits-Ding überhaupt zu
sprechen. Nichts liegt ihm ferner, als mit
seinem Schicksal hausieren zu gehen.
„Ich definiere mich nicht über die
Krankheit, sondern noch immer als Musi-
ker. Ich hatte nie die Absicht, Krebs zum
Thema einer Platte zu machen“, sagt er,
„und das Album handelt auch nicht von
Krankheit.“
Eher: von großen Gefühlen. Von Hoff-
nungen und Enttäuschungen. Von Sehn-
süchten und dem Wunsch, etwas festhalten
und bewahren zu können. „Ich hadere
nicht mit meinem Leben“, sagt van Dyke,
„ich mache das Beste daraus.“
Das hat er geschafft. Es ist noch immer
Popmusik, mit der sich möglichst viele
Menschen identifizieren sollen. Aber na-
türlich eine andere Art von Pop: zu Herzen
und Seele gehende Musik mit nach-
denklichen Texten. Häufig sind bei den
Songs zwei Lesarten möglich:
Geht es, etwa in „Einer von uns
bleibt“, um den Abschied von
einer Liebesbeziehung? Oder um eine Le-
bensbilanz?
So ist es auch mit „Sonntagmorgen“,
einem fast epischen, zutiefst melancho-
lischen Stimmungsbild. „Ich hab den
Überblick verloren, was das Leben aus uns
macht“, singt van Dyke da. Ist nur eine
Liebe gescheitert? Oder geht es um viel
mehr?
Fast jedes Stück auf dem neuen Album
besitzt jene Tiefe und Intensität, um im
Zuhörer lange widerzuhallen: Diese
verstörende Stimmung in „Schlecht ge-
träumt“, die in einem herzzerreißenden
Gitarrenpart mündet, ehe die schlechten
Träume kurz darauf auch musikalisch
hör- und fühlbar werden.
In „Küssen“ klingt viel Lebenslust und
Freude durch, dann dreht das direkt folgen-
de, trostlose Liebeslied „Geht es dir jetzt
besser“ die Stimmung wieder. Schluss-
punkt eines meisterhaften Albums ist der
Titelsong „Fangt schon mal ohne mich an“.
Was zunächst so resignativ klingt, mündet
in friedvoll-versöhnlicher Heiterkeit.
„Je älter ich werde, desto weniger kann
ich es mir leisten, belanglos zu sein“, sagt
Michel van Dyke.

Michel van Dykes Karriere begann Ende
der 80er Jahre. Zunächst sang er auf Eng-
lisch, seit der Jahrtausendwende dann
Deutsch. Die Alben „Die große Illusion“
(2001) und vor allem „Bossa Nova“ (2004)
gehörten zum Besten, was deutschsprachi-
ger Pop zu jener Zeit jenseits des Main-
streams zu bieten hatte: melancholische
Songs mit Klavier, Keyboards oder Retro-
Streichern, stilistisch tief in den Sechzi-
gern verwurzelt.
Auch auf „Fangt schon mal ohne mich
an“ geht es wieder um van Dykes große
Themen als Künstler: um die unstillbare
Sehnsucht nach der einen, großen Liebe,
um Selbstzweifel, um die Suche nach
rauschhafter Leichtigkeit. Aber unter all
die vertrauten Zutaten für große Popsongs
mischt sich nun zum ersten Mal eindring-
lich etwas anderes: Dunkelheit und Er-
schütterung. Wer so komponiert, dem ist
etwas widerfahren. Aber was?
Ein Treffen mit Michel van Dyke in
einem Hamburger Café. Wie er da vor
seinem Mineralwasser sitzt,
ziemlich dünn, wirkt er so, als
müsse er sich erst wieder ge-
wöhnen an dieses Leben in der Öffentlich-
keit. Er hat sich zurückgezogen, lange
keine Interviews mehr gegeben. Nun will
er wieder raus, Rückzug vom Rückzug. Und
nun spricht er, abwechselnd heiter und
nachdenklich, zum ersten und vermutlich
einzigen Mal öffentlich über das, was in
sein Leben hereinbrach.
Michel van Dyke ist an einer seltenen
Form von Krebs erkrankt. Er hat gelernt,
damit umzugehen, seit die Ärzte ihm vor
zehn Jahren die Diagnose stellten. Immer
wieder ging es ihm sehr schlecht. Er hat
das volle Therapie-Programm hinter sich:
Tabletten, Chemo, Stammzellentherapie.
Aber er hörte nicht auf zu komponieren,
egal, wie übel ihm war, egal, wie mies er
sich fühlte. Gerade geht es ihm gut.
Er schwimmt regelmäßig und hofft, dass
sich seine Blutwerte nicht verschlechtern.
Optimismus hilft ihm, Freunde und Fa-
milie helfen auch: „So wie ich Fahrrad fah-
re, werde ich vermutlich eher im Straßen-
verkehr sterben als durch diese Krankheit“,
scherzt er. Aber natürlich hat die sein Den-
ken und Fühlen von Grund auf verändert.
„Der Krebs hat mir vor Augen geführt, wie
verwundbar ich bin. Wir alle halten uns
ja für unsterblich.“ Diese Zeit ist vorbei.
„Die vergangenen drei Jahre habe ich viel
mit Warten verbracht“, erzählt er. „Ich habe
gewartet, dass es mir wieder besser geht.
Oder ich habe in Wartezimmern gesessen.“
Was er in diesen Phasen komponierte,
klingt konzentrierter als alles, was er

Von Tobias Schmitz

24.10.2019 107
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