Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1

anderen Kindern reichten völlig aus.


Selbstwirksamkeit und eine sichere Bin-


dung seien viel wichtiger als die frühe


Förderung irgendwelcher Fähigkeiten.


„Die Erfahrung, dass das Kind selbst etwas


bewirken kann, ist überaus wertvoll für


seine Entwicklung. Zu viel Förderung


verursacht Stress, und Stress behindert das


flexible Lernen.“


Michael Schulte-Markwort greift Strü-

bers Gedanken auf. In seinem Klinikalltag


hat er es immer wieder mit unsicheren


Eltern zu tun, deren eigene Nöte zu Kinder-


nöten werden. „Schon Dreijährige sollen


durch Frühförderung auf die Autobahn


zum Abitur gelenkt werden. Die schlimms-


te Diagnose, die ich heute stellen kann, ist


Lernbehinderung. Das fürchten Eltern am


allermeisten. Dann denken sie: Mein Kind


bekommt keinen guten Schulabschluss. Es


wird im Leben nicht erfolgreich sein.“


Eine gedanklicher Kurzschluss. Nicht


ein gutes Zeugnis, sondern eine sichere


Bindung sei der Beleg für gute Erziehung.


„Man muss nicht viel erziehen, wenn die


Bindung stimmt. Eine liebevolle, fürsorg-


liche, sichere Beziehung hilft sehr dabei,


Ihrem Kind Werte und Wertmaßstäbe


vorzuleben. Dann bemerken Eltern ganz


automatisch: Wo braucht mein Kind noch


Unterstützung? Wo kann ich ihm mehr


Autonomie geben? Eltern sollten mehr


an der Beziehung arbeiten, weniger an der


Erziehung.“


Versagens. Ich bin dann wieder ganz das
Kind von damals, das sich überfordert
fühlte.“
„Solche Mechanismen erlebe ich sehr
häufig“, sagt Beatrix Solyga, „Erziehungs-
probleme vererben sich sozusagen von
Generation zu Generation weiter: etwa bei
der Mutter, die sich nicht traut, ihrem Kind
ein klares Gegenüber zu sein, weil sie selbst
früher zu autoritär erzogen wurde. Das
Kind schlägt und spuckt und schreit, aber
die Mutter gibt nach und gibt nach und
gibt nach. Oder sie wird selbst aggressiv
und reagiert über. Ruhig und gleichzeitig
klar und bestimmt zu reagieren, das üben
viele Eltern heute neu ein und müssen da-

bei auch viel Geduld sich selbst gegenüber
aufbringen.“
Ähnliches erlebt auch Birgit Kärgel in
ihrem Beratungsalltag. Die 57-jährige
Pädagogin sitzt beim Landesverband des
Deutschen Kinderschutzbundes in Ham-
burg am Telefon, wenn hilfesuchende
Eltern die „Nummer gegen Kummer“ an-
rufen. „Eltern, die sich von ihren Kindern
schlagen lassen, sind ein Problem“, sagt
Kärgel, „das hat in den vergangenen Jahren
deutlich zugenommen. Die Eltern sind ver-
zweifelt, beschämt und hilflos. Sie wehren
sich nicht. Das hat seine Ursache häufig
schon im Kleinkindalter. Schon da wären
Klarheit und Orientierung wichtig. Nach
dem Motto: Stopp! Ich verstehe deinen
Ärger. Aber du schlägst mich nicht!“ 4

Und wie gelingt das? Mit Freundlichkeit
und Zuwendung – und mit einem klaren
Rahmen. „Standhafte Liebe“ nennen die
Berliner Erziehungsberaterinnen Beatrix
Solyga und Cordula Klaffs das Konzept, das
sie Eltern ans Herz legen. „Eltern sind nicht
die besten Freunde ihres Kindes“, sagt So-
lyga, „sondern sie müssen eine Richtung
vorgeben, an der sich das Kind orientieren
kann.“ Fehlen klare Vorgaben, wird es bis-
weilen grotesk.

Auf der Autobahn. Die Familie, zwei Kin-
der, fährt längere Strecken nur noch getrennt.
Mit dem eigenen Auto plus Mietwagen. In
jedem Fahrzeug sitzt ein Erwachsener und

ein Kind. So vermeiden die Eltern, dass sich
die Geschwister auf den hinteren Plätzen
streiten.

Warum lassen es Eltern so weit kom-
men? Vielleicht, weil ihnen bei der Erzie-
hung immer wieder die eigene Prägung
im Weg steht. Johannes, 47, wuchs mit
einem autoritär-cholerischen Vater auf,
der sofort aus der Haut fuhr, wenn sein
Sohn die Hausaufgaben nicht verstand.
Heute hat Johannes eigene Kinder, mit
denen er gut klarkommt – außer beim
Thema Haus aufgaben. „Versteht meine
Tochter eine Mathematikaufgabe nicht,
gerate ich als erwachsener Mann in Panik“,
sagt Johannes, „das geht bis zu Schweiß-
ausbrüchen und dem Gefühl des eigenen
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