DER ANSCHLAG VON HALLE
FOCUS 42/2019 11
Tür der Synagoge. Er flucht: „Scheiße,
Mann!“ Er gibt seinen Plan auf, steigt
in den Wagen und kündigt an, er wer-
de jetzt eben „zu den Kanaken“ fahren.
Wenige Hundert Meter entfernt betritt
er einen Döner-Laden, schießt um sich,
ermordet einen Gast, der hinter einem
Getränkeautomaten Deckung gesucht
hat. Der immer wieder fleht: „Bitte nicht!
Bitte nicht!“
Von der „Banalität des Bösen“ sprach
einst die jüdische Philosophin Hannah
Arendt angesichts des in Jerusalem ange-
klagten Adolf Eichmann, der in Hitlers
Reich die Vernichtung der europäischen
Juden geplant hatte. Das Video des Atten-
täters Stephan B. zeigt diese alles vergif-
tende Banalität des Bösen. Der Killer hat,
außer einigen Flüchen und Hassfetzen,
nichts zu sagen. Er wirkt abgestumpft,
roh und seelenlos.
Was ihn antrieb? Angeblich hat er ein
Manifest mit Floskeln und Hetzsprüchen
gegen Juden ins Netz gestellt. Abge-
schrieben, kopiert, wiedergekäut. Eine
Kopie ist auch der Anschlag selbst. Das
Blutbad als Livestream-Video inszenierte
zuvor der Killer, der in zwei Moscheen
im neuseeländischen Christchurch 51
Menschen ermordete. Den Döner-Laden
als Angriffsziel hatte die Mörderban-
de der NSU ausgesucht. Und jüdische
Gemeindezentren sind immer wieder
Tatorte für antisemitische Gewalttäter.
Weltweit.
Auch in Deutschland. Der bislang
schwerste Anschlag auf Juden in der
Bundesrepublik geschah im Februar
- Damals setzten unbekannte Täter
das Altersheim des Jüdischen Gemein-
dehauses in München in Brand. Sieben
Menschen starben – darunter solche, die
den Holocaust überlebt hatten.
Das Grauen, so scheint es, liegt weit
zurück. Ein halbes Jahrhundert. Aber in
Wahrheit ist es ganz nah. Es taucht immer
wieder auf. Vor wenigen Tagen drang ein
mit einem Messer bewaffneter Mann auf
das Gelände einer Synagoge in Berlin ein.
Er stieß Drohungen und Verwünschun-
gen aus. Die Justiz konnte gerade mal
den Verdacht eines Hausfriedensbruchs
erkennen. Der Angreifer wurde in die
Psychiatrie eingewiesen.
Und jetzt die Tat von Halle: Eine wäh-
rend des Gottesdienstes versammelte
jüdische Gemeinde war vollkommen auf
sich allein gestellt. Ohne Schutz, ohne
Hilfe. Zwischen Leben und Tod nur eine
Tür. Diese Szene schockiert und verstört
wohl auch deshalb, weil sie so fremd
und abstrus erscheint. Dabei enthüllt sie
ihren wahren Schrecken erst, wenn man
bedenkt, dass sie jederzeit und an fast
jedem Ort in Deutschland möglich ist.
Jüdische Zentren – Kindergärten, Schu-
len, Synagogen, Gemeindehäuser – wer-
den lediglich in den großen Städten der
Republik von Polizisten bewacht. Glei-
ches gilt für den Schutz der jüdischem
Gottesdienste.
Die Jom-Kippur-Feierlichkeiten in der
großen Berliner Synagoge finden immer
unter dem Schutz mehrerer Dutzend
Polizeibeamter statt. Die kleineren Jüdi-
schen Gemeinden aber müssen bislang
ohne staatliche Wächter auskommen. Sie
organisieren sich ihre Schutzmaßnahmen
selbst. Die Gemeinden bilden Freiwillige
als Wächter für die Gottesdienste aus.
So wie in Halle. Dort hatte ein Wach-
posten per Kamera die Außentür im Blick.
Die Juden in der Synagoge hörten die
Schüsse und Sprengsätze, sie sahen den
Mann, der sie ermorden wollte. Sie ver-
rammelten die Tür. Sie riefen die Polizei.
Sie harrten aus.
Der Schrecken dieser Jom-Kippur-Fei-
er gehört nun zur Geschichte der Juden
in Halle. Und die reicht weit zurück, bis
ins Jahr 1184. Juden wurden im mittel-
alterlichen Halle geduldet, vertrieben
und ermordet. Jüdisches Leben kehrte
immer wieder zurück. Nach dem Vorbild
der Berliner Synagoge in der Oranienbur-
ger Straße wurde 1870 in Halle eine neue
Synagoge eingeweiht. In der Pogrom-
Nacht 1938 wurde das Gotteshaus nie-
dergebrannt. Bis 1941 waren die vielen
Hallenser Juden ausgewandert. Jene,
die geblieben waren, wurden ermordet.
Die meisten im KZ Theresienstadt. Nach
dem Einmarsch sowjetischer Soldaten sie-
delten sich ein paar Dutzend Juden als
„Displaced Persons“ in Halle an. Nach
1990 zogen einige Hundert deutschrus-
sische Juden an die Saale. Sie und ihre
Angehörigen bilden heute die Jüdische
Gemeinde in Halle.
Ihre Synagoge ist die nach dem Krieg
umgebaute Trauerhalle des angrenzen-
den jüdischen Friedhofs. Die Trauerhalle
verwandelte sich am vergangenen Mitt-
woch in einen Ort der Angst, der Hoff-
nung und des Überlebens.
Als der Attentäter verschwunden war,
als schließlich doch die Polizei auftauchte,
setzten die Juden in Halle ihren Gottes-
dienst fort. Und verließen erst dann ihre
Synagoge. n
1938 von den Nazis zerstört
Historische Aufnahme der alten
Synagoge (links) in Halle aus dem
Jahr 1890. Die Jüdische Gemeinde
hat heute etwa 700 Mitglieder
Todesängste
Max Privorozki, Vorsitzender der
Jüdischen Gemeinde zu Halle, kritisierte
ein zu spätes Eingreifen der Polizei
Tatorte
Stephan B. warf einen offenbar selbst
gebauten Sprengsatz auf den jüdischen
Friedhof. Danach griff er die Synagoge an