Focus - 12.10.2019

(Ron) #1
WISSEN

F o t o s :

Marcel Maffei für FOCUS-Magazin, Science Photo Library, Helmholtz Zentrum München

92 FOCUS 42/2019

K


aum ein Typ-1-Diabetiker weiß
genau, warum er an dieser
bislang unheilbaren Krank-
heit leidet. Sandra Scheck, 31,
kommt dem Hauptauslöser
vermutlich recht nahe, wenn
sie sagt: „Ich war als Klein-
kind häufig krank, hatte mal eine Mandel-
entzündung, mal einen grippalen Infekt.
Möglicherweise beging mein Immunsys-
tem im Kampf dagegen einen Fehler und
richtete sich plötzlich gegen die Zellen
meiner Bauchspeicheldrüse.“
Es ist eines der brisantesten Rätsel der
Medizin. Kontinuierlich steigt europaweit
die Neuerkrankungsrate des Typ-1-Dia-
betes im Kindes- und Jugendalter. Sie
wächst jährlich um drei bis vier Prozent.
„In Deutschland ist diese Entwicklung seit
den achtziger Jahren dokumentiert“, sagt
der Kinderarzt Andreas Neu von der Uni-
versitätsklinik Tübingen. Etwa 33 000 unter
20-jährige Patienten leben hierzulande,
insgesamt sind es zwischen 300 000 und

Jahr für Jahr steigt die Zahl der Fälle von Typ-1-Diabetes. Forscher verfolgen vor allem


eine Spur zu frühkindlichen Infektionen. Und Patienten lindern die Symptome mit Hightech


Die unheimliche Epidemie


3–4


400 000. Die Zahl der Neuerkrankungen
werde weiter steigen „und sich schlimms-
tenfalls in den kommenden 20 Jahren
verdoppeln“, prognostiziert Neu, der in
Tübingen eine Diabetes-Ambulanz für
junge Patienten leitet.
Viele Forschergruppen suchen nach
den Ursachen. Ihre bisherigen Ergebnisse
sind lückenhaft. Sicher ist nur, dass es
mehrere Faktoren gibt, zum Beispiel
die Vererbung. Doch es ist kein
einzelnes Gen, es sind Dutzen-
de, die das Risiko für Typ-1-
Dia betes erhöhen.
Jüngere und demnächst er-
scheinende wissenschaftliche
Studien zeigen, dass auch
Mikroben eine Rolle spielen.
Anette-Gabriele Ziegler vom
Helmholtz Zentrum München,
eine weltweit beachtete Dia-
betes-Forscherin, sagt: „Offen-
bar erkranken Kinder, die in
ihren ersten sechs bis zwölf

Lebensmonaten eine Infektion durch-
machen, eher, insbesondere wenn es sich
um Atemwegsinfektionen handelt.“ Der
Verdacht fällt etwa auf sogenannte Cox-
sackie-Viren, die meist im Alter unter
zehn Jahren zu Erkältungen und grippe-
ähnlichen Symptomen führen. Eine Stu-
die liefert ein weiteres Indiz, indem sie
nahelegt, dass die Impfung gegen Rot-
aviren vor Typ-1-Diabetes schützt.
Gleichzeitig gibt es Hinweise da-
rauf, dass sich hierzulande Rota-
viren stärker ausbreiten.
Gegen Viren, Bakterien und
andere Erreger kämpfen Im-
munzellen. Bei Menschen, die
an Typ-1-Diabetes erkranken,
läuft das Immunsystem offen-
bar an einem Punkt Amok und
richtet sich gegen die Zellen der
Bauchspeicheldrüse, die Insulin
produzieren, das einzige Hor-
mon des Körpers, das den Blutzu-
ckerspiegel senkt. Zu viel freien

Prozent
beträgt die jähr-
liche Steigerungs-
rate an neu
erkrankten Typ-1-
Diabetikern. Meist
sind es Kinder

Notwendiges
Regulativ
Insulin (hier eine
computergene-
rierte Darstellung
des Moleküls)
reguliert den
Blutzucker.
Bei Typ-1-
Diabetikern fehlt
es weitgehend,
bei Typ-2-
Diabetikern
wirkt es zu
schwach

Versierte
Patientin
Sandra Scheck
aus Nord-
rhein-Westfalen
muss sich seit
24 Jahren das
Hormon Insulin
zuführen, sonst
entgleist ihr
Blutzucker. Neue
Technik hilft
ihr dabei

Dieser Text


zeigt evtl. Pro-


bleme beim


Text an

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