Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 25. Oktober 2019


ROMAIN LAURENDEAU

FOTO-TABLEAU

Diki – das heimliche


Leben 4/


Hicham stammt aus bescheidenenVerhältnissen,aber
er kann sich glücklich schätzen. Seit seineFamilie um-
gezogen ist, bewohnter all ein das winzige Zweizim-
merhaus, wo sie vorher zu sechst lebten; und mit ein
paar Handgriffen hat er es zu einem «Diki»
umgewandelt, das innerhalb seines sozialen Umfelds
fast schon Luxusklasse beanspruchen kann. Statt sich
ans Ende einer Sackgasse oder in ein Abbruchhaus
zu verkriechen,können Hicham und seineFreunde
hier Videos schauen, Shisharauchen, über Gott und
die Welt schimpfen; was allerdings fehlt, sind
Mädchen. Sie fürchten die neugierigenAugen und
scharfen Zungen der Nachbarschaft, denn in Algerien
haben sie sich vor der Ehe vom anderen Geschlecht
fernzuhalten. Eine Heirat aber ist nur möglich, wenn
man eine Stelle und ein ausreichendes Einkommen
hat – und davonkönnen viele, die in den Zwanzigern
stehen, nur träumen. DiesesLand biete den jungen
Menschen, die mittlerweile die Mehrheit der
Bevölkerung stellten, nichts –keinen Ort undkeine
Institution, worin sie sich wiedererkennenkönnten,
merkt derFotograf RomainLaurendeau bitter an.

Versäumnisse in Sachen Ostdeutschland


Aufbruch ist anderswo


Gastkommentar
von CHRISTINA E. ZECH

Wenn man dreissigJahre nach der friedlichen
Revolution wieder einmal durch Ostdeutsch-
land streift, erblickt man immer mehr die dunk-
len Augen von leerenLadengeschäften in schön
renovierten, jedoch leblosen Innenstädten. Die
«blühendenLandschaften», die HelmutKohl 1990
voraussagte, wirken heute stellenweise eher wie
die Palliativstation einer äusserlich wohlversorg-
ten Gesellschaft, der aber dasFeuer derJugend
und Hoffnung abhandenkam, bevor es sich über-
haupt erst entfachen und die Herzen der Men-
schen richtig erwärmenkonnte.
Selbst Leipzig, für viele der Lichtblick im Os-
ten, hat nur einen Bruchteil seiner Bedeutung
von vor1945 wiedererlangt.Damals war es so
reich wie Hamburg und warFrankfurt am Main
in vielem voraus. Leipzig ist zwar äusserlich wie-
der schmuck, aber auch hier fehlt es an innerer
Grösse. Der sozialistische Geist des Sparens ver-
hindert vielerorts das Entstehen vonFülle.
Zu Goethes Zeit wurde das Leipziger Flair
mit dem vonParis verglichen. Heute führt man-
gelnder Geschäftssinn in Gastronomie undVer-
waltung dazu, dass wichtigeWirtschaftszweige
nicht inFahrt kommen oder die wenigen gros-
sen Unternehmen, die ihrenFuss wieder in die
Messestadt zu setzen wagten, nicht von der Ab-
wanderung abgehalten werden.Dabei ist bestens
bekannt, dass einem Standort aufDauer nurFir-
menzentralen, jedochkeine Niederlassungen zu
Wohlstand verhelfen.
Kein Zweifel,der deutscheWesten hat enorme
Summen in den deutschen Osten investiert.Da-
für gebührt den Steuerzahlenden höchsterDank.
Doch Geld und Infrastrukturreichen nicht, um
einerRegion nach einem Kaiserreich und zwei
Diktaturen zu grundlegender Neuausrichtung zu
verhelfen. Nach1990 wurde es bewusst unterlas-
sen , auch die innere Neuorientierung der Men-
schen zu unterstützen.
Erinnern wir uns:Westdeutschland erhielt nach
dem ZweitenWeltkrieg viele materielle Güter
durch den Marshall-Plan.Parallel dazu wurden
jedoch auch systematische demokratische Bil-
dungsprogramme auf allen Ebenen etabliert: für
Beamte undPolitiker, für Journalisten und für den
Nachwuchs per Lehrplan in den Schulen.
Letzteres wurde im Osten sträflichvernachläs-
si gt. Mit dramatischenFolgen. Ich erinnere mich
an zahlreiche Momente in Unternehmen oderein-
fach nur auf dem LeipzigerWochenmarkt,wo den
Menschen aggressives Schweigen statt kreatives
Miteinander im Gesicht stand. Selbst das basale
«Ich bin okay – du bist okay. Lass uns darüberre-
den», das demokratischesVerhandelnausmacht,
haben die Menschen schlicht und ergreifend nicht

verinnerlicht.Wie sollen sie da grösser denken
und eigenständige Szenarien für ihre prosperie-
rende Zukunft entwickeln?
Kein Wunder – das SchulfachPolitik wurde
nirgends im Osten systematisch eingeführt. Als
ein namhafterVerlag zwanzigJahre nach der
Wende bei sächsischen Lehrkräften deren Be-
darf an Lehrmitteln in Gemeinschaftskunde er-
fragte, hiess es:Das Fach stehe erst in den letzten
Schuljahren auf dem Stundenplan.Doch es werde
fas t nirgends unterrichtet, denn es gebe zu wenig
ausgebildete Lehrkräfte. Und selbst diese hätten
Angst davor, dass ein Halbwüchsiger, der rheto-
risch perfekt inrechtsextremem Denken geschult
sei, ihnen dasWort imMund verdrehe und den
Unterricht schmeisse.
Keine Partei, keiner derPolitiker der frühen
Stunde,die oft aus demWesten kamen, hatten In-
teresse an politischer Bildungfür alle.Jetzt erhal-
ten sie die Quittung auf denWahlzetteln.In einem
solchenVakuum ist auch die Gefahrviel grösser,
dass Extreme eine vermeintlich noch schwächere
Gruppe als Sündenbock brandmarken und an-
greifen. Und je länger mit klarenKonzepten zu-
gewartet wird,destoaussichtsloser wird dieLage
im Osten. Zweifellos gibt es grandiose Menschen
in derRegion.Aber sie allein besitzen nicht genug
St rahlkraft, um diekomplette Bevölkerung zu er-
reichen.
Bisher wurde nicht bedacht,dass der mentale
Wandel von Menschen ein äusserstkomplexer
Vorgang ist.Dafür braucht es systemische Ein-
flüsse auf vier Ebenen:«top-down aussen» wie
Strassenbau, «top-down innen» wie demokrati-
sche Strukturen. Hier wurde für den Osten viel
getan.Aber genauso wichtig sind die Ebenen
«bottom-up aussen» wie intaktekommunale Ein-
richtungen und«bottom-up innen» wie politische
Bildung.
Die äusseren beiden Dimensionen zurVer-
fügung zu stellen, ist oft vielbequemer. Aberauf
die Menschenwirklich zuzugehen, sich nach den
vielen historischenVerwundungen mit ihren inne-
renWerten und Nöten zu befassenund mit ihnen
gemeinsamkonstruktiveWege für ein demokrati-
sches Miteinander zu entwickeln,ist unabdingbar,
um die Dinge langfristig zum Blühen zu bringen.
Deutschland ist immer noch von preussischer
Härte gegen sich selbstgep rägt. Die Menschenin
Ostdeutschland besser aus ihrer Geschichte her-
aus zu verstehen und sie ernst zu nehmen, bietet
auch die Chance, eine versöhnliche Gesellschaft
für alle zu werden.

ChristinaE.Zechlebtals Politik- und Strategieberaterin
in Zürich. 20 18 legte sie den Band«Weltsalon. Zukunfts-
weisendeKonzeptefür eine friedliche und ökologisch in-
takte Welt» vor.

Altersvorsorge


Acht harte Zahlen


zur emot ionalen Debatte


Gastkommentar
von AXELP. LEHMANN


Über dasThema Vorsorge wird zunehmend emo-
tional diskutiert.Dabei könnteein nüch terner
Blick auf dieTatsachen helfen, die Diskussion zu
versachlichen – vierFakten mit acht Zahlen las-
sen die Brisanz der Situation erkennen.
Betrug die durchschnittlicheRentenbezugs-
zeit bei der Einführung der AHV imJahr 1948
knapp 13Jahre, so ist diese fürPersonen,die heute
das Rentenalter erreichen, auf über 24Jahre an-
gestiegen. Somit ist dasVerhältnis von Beitrags-
jahren zuRentenbezugsjahren von 3,4 auf 1,8 ge-
schrumpft. Anders ausgedrückt:1948 konnten
65-Jährige erwarten,17 Prozent ihres gesamten
Lebens alsRentner zu verbringen. Ein heutiger
Neurentner verbringt voraussichtlich 26 Prozent
seines Lebens imRuhestand, eine Neurentnerin
gar 29 Prozent.
Keine Gesellschaft kann eine solch massive
Reduktion der Erwerbszeitrelativ zurRenten-
bezugszeit langfristig ohne eineWohlstandsreduk-
tion bewältigen – entweder über tiefere Renten
oder über einen tieferen Lebensstandard der zah-
lenden Generationen. Letzteres entspricht unse-
rer bisherigenPolitik.
Um eine zunehmendeWohlstandsreduktion
der zahlenden Generationen zu vermeiden, sind
verschiedene Lösungsansätze denkbar:Sokönnte
ein gleichbleibendesVerhältnis zwischen Erwerbs-
und Ruhestandsjahren bei 2,0 festgelegt werden



  • beziehungsweise man legt einekonstante Ziel-
    grösse für den Anteil desRuhestands am gesam-
    ten Leben fest, zum Beispiel bei 25 Prozent.
    Die AHV verspricht den heutigenRentner-
    jahrgängen mehr anAuszahlungen, als diese je
    selber eingezahlt haben. Ein solches Umlagesys-
    tem funktioniert aufDauer nur, wenn die nach-
    folgenden Generationen immer grösser und pro-
    duktiver sind oder ihnen immer mehr ihrer Kauf-
    kraft entzogen wird.
    Als die AHV gegründet wurde, lag die Ge-
    burtenrate bei etwa 2,5Kindern pro Frau. So
    waren 6,5 Erwerbstätige proRentner und ein
    Lohnbeitrag von 4 Prozent (heute:8,4 Prozent)
    ausreichend, um dieRenten zu finanzieren. In-
    zwischen müssen mehr als einViertel der jähr-
    lichen AHV-Ausgaben aus anderen Quellen als
    den viel höheren Lohnbeiträgen gedeckt wer-
    den. Denn anstattkontinuierlich anzusteigen, sta-
    gniert die Geburtenrate seit über vierzigJahren
    bei durchschnittlich 1,5 Kindern proFrau. 2030
    werden darum nur noch 2,5 Erwerbstätige einen
    Rentner finanzieren.


Auch in der beruflichenVorsorge wurde die
massiv angestiegeneRentenbezugszeit ignoriert
und dieUmwandlungssätze viel zu lange nicht ge-
senkt.
Verstärkendkommt seit 2015 das Negativzins-
umfeld hinzu:Konnten diePensionskassen das
Rentnerkapital über vieleJahre hinweg bei 4 Pro-
zent sicher inAnleihen anlegen, so ist dieVerzin-
sung der fünfjährigen «Eidgenossen» heute mit
–1 Prozent tief im negativen Bereich.Würde dies
in einer risikoneutralenPensionskassenbuchhal-
tungberücks ichtigt,läge derkorrekte Umwand-
lungssatz schon heute unter 4 – nicht wie gegen-
wärtig bei 6,8 Prozent. Doch das Anlagerisiko
und die Negativzinsen werden den nachfolgen-
den Generationen überlassen –während dieRen-
di te aus denRisikoanlagen heute denRentnern
zugutekommt.
Gegen eine Erhöhung desRentenalters wird
häufig die gesellschaftlich brisante Problematik
der Arbeitslosigkeit über 50 angeführt.Tatsäch-
lich ist die Erwerbsbeteiligung der über 55-Jäh-
rigen von zirka 60 Prozent um1990 kontinuier-
lich gestiegen und ist heute mit über 76 Prozent so
hoch wie noch nie. Es gibt also einebedeutende
Gruppe älterer Arbeitskräfte, die dieFinanzie-
rungsherausforderungen in der Altersvorsorge
mittragenkönnte.
Allerdings habenPersonen,die über einen län-
geren Zeitraum starken physischen Belastungen
ausgesetzt sind und/oder besonders tiefe Löhne
aufweisen, eine kürzere Lebenserwartung vergli-
chen mit Akademikern und Besserverdienenden,
die zudem häufig erst später in den Arbeitsmarkt
eintreten.
Rentenaltermodelle, die solcheFaktoren be-
rücksichtigen, sind darum gerechtfertigtund wei-
sen eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz auf. So
könnten berufs- oder branchenspezifische Ab-
schläge (zum Beispiel fürBauarbeiter) oderAuf-
schläge (zum Beispiel für Akademiker) auf das
ge ltendeRentenalter berücksichtigt werden.Für
jeden Anstieg desRentenalters für Professoren
um drei Monate würde etwa jenes fürBauarbei-
ter um einen Monat angehoben.
Fazit:Die Debatte über die Zukunft des
SchweizerVorsorgesystems darf – oder soll –
leidenschaftlich geführt werden, denn die Zeit
drängt. Doch die Diskussionsteilnehmer sollten
sich einem Umdenken nicht verschliessen – und
sich stets dieFakten vorAugen halten.

Axel P. LehmannistVerwaltungsratspräsidentder UBS
Schweiz.
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