Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 MEINUNG & DEBATTE


Soziale Unruhen in Chile


Zurück in der lateinamerikan ischen Normalität


Tagelange Demonstrationen wegen sozialer Unzu-
friedenheit mit bisher mindestens18 Todesopfern,
die Plünderung von mehrerenDutzend Einkaufs-
zent ren und andereVandalenakte sowie ein Prä-
sident, der diese Situation als Krieg bezeichnet:
Was zurzeit in Chile geschieht, würde man eher
in den Andenländern Ecuador und Bolivien ver-
orten als in demLand,das jahrzehntelang als leuch-
tendeAusnahmeerscheinung inLateinamerika ge-
golten hatte. Die gegenwärtige Krise ist einerseits
Ausdruck des langsamen Zerfalls der von General
Pinochet geschaffenen politischen und wirtschaft-
lichenOrdnung, andererseits ist sie eineFolge der
sich verschlechternden wirtschaftlichenRahmen-
bedingungen in ganzLateinamerika.
Nach derRückkehr zur Demokratie1990 rüttel-
ten dieMitte-links-Regierungen Chiles zweiJahr-
zehnte lang nicht an der von Pinochet übernom-
menen Ordnung. Einerseits war dies wohl darauf
zurückzuführen, dass dieregierendenPolitiker an-
gesichts der blutigen jüngerenVergangenheit noch


zu vielRespekt vor den Militärs hatten.Anderseits
hatte Pinochet einWahlsystem geschaffen, das
Reformen schwierig machte.Eine spezielleWahl-
geometrie bewirkte, dass die zwei dominierenden
politischen Blöcke imKongress immer ungefähr
gleich stark vertreten waren.Mehrheiten fürRefor-
men waren damit schwer zu beschaffen.
Doch es zeigte sich zunehmend, dassReform-
bedarf vorhanden war. Die Wirtschaft wuchs zwar
im regionalenVergleich erstklassig, und dasLand
hat heute das höchste Pro-Kopf-Einkommen der
Region, doch ist die imregionalenVergleich grosse
sozialeUngleichheitvonChilenichtkleinerworden.
DieshatinderBevölkerungzuzunehmenderUnzu-
friedenheitgeführt.DiePinochet-Ordnungverlorin
den letztenJahren immer mehr von ihrer Unantast-
barkeit;es gab ersteAnläufe zuReformen.
Die gegenwärtigen Manifestationen sindkeines-
wegs die ersten dieserArt, aber in ihrer Heftigkeit
neu. Bereits zu Beginn diesesJahrzehnts machte
Chilebeispielsweise Schlagzeilen mit lange an-
haltenden Protestender Studenten und Schüler.
Auch hier ging es um die Ungleichheit in der Ge-
sellschaft.Das von Pinochet entwickelte Bildungs-
system,das de facto die Schüler nach Einkommens-
klassen segregierte, führte zu sehrungl eichenAus-
gangschancen für dieJugendlichen und zementierte
dadurch die soziale Ungleichheit.

Der allmähliche Zerfall der Pinochet-Ordnung
kommt in einem Moment, in dem sich die äusseren
wirtschaftlichenRahmenbedingungen – sprich die
Rohstoffpreise – nicht nur für Chile, sondern für
ganzLateinamerika ungünstig entwickelt haben.
Jahrzehntelangkonnte Chile mit einemWachstum
desBruttoinlandproduktsvondurchschnittlichrund
5 Prozent brillieren.Doch in den letztenJahren hat
sich dieses merklich verlangsamt, für das laufende
Jahr wird nur noch mit gut 2 Prozent gerechnet.Das
LandmussdenGürtelengerschnallen.Esgibtnoch
weniger Spielraum für sozialenAusgleich.
Präsident Piñera ist sich derTiefe der Unzufrie-
denheit offensichtlich bewusst. Er hat vor den Chi-
lenen einen Bückling gemacht und erklärt,dass die
Regierungen der letztenJahrzehnte die Probleme
in ihrer Bedeutung nicht richtig eingeschätzt hät-
ten. Die von ihm angekündigten Massnahmen, ins-
besondere die Erhöhung derPensionen, dieFest-
legung eines Mindestlohnes und ein besserer Zu-
ga ng zum Gesundheitsdienst,bringen für die ärme-
ren Chilenen substanzielleVerbesserungen, die den
Staat mindestens 1,2 MilliardenFrankenkosten
dürften. Doch für die Demonstrierenden ist dies
nicht genug, die Proteste gehen weiter. Es ist nun an
Regierung und Opposition, Hand zurealistischen
Lösungen zu bieten,wenn dasLand nicht ernsthaft
Schaden nehmen soll.

Es ist an Regierung und


Opposition, Hand zu


Lösungen zu bieten, wenn


das Land nicht ernsthaft


Schaden nehmen soll.


Ranking der Weltbank zum Geschäftsklima


Vorsicht vor internationalen Ranglisten


Die Schweizer Skirennfahrer erklimmen bei
internationalenWettkämpfen immer seltener die
Podeste.Also vertröstet sich die geschundene
Volksseele mit denRankings zum wirtschaftlichen
Leistungsausweis. Bei diesenRanglisten, die mitt-
lerweile in inflationärem Mass produziert werden,
schneidet die Schweiz in allerRegel recht solid ab.
Gewiss,nicht immerreicht es für einen Platz auf
dem Podest. Doch eineRangierung unter den ers-
ten zehn ist der Schweiz zumeist gewiss. Eine ge-
wichtigeAusnahme bildet nun aber der «Doing
Business»-Report derWeltbank. Dieser interna-
tional sehr einflussreiche Bericht will Informatio-
nen dazu liefern, wie einfach oder schwierig es ist,
in einemLand unternehmerisch tätig zu sein.
Die Schweiz schneidet in der jüngstenVersion
des Reports enttäuschend ab.Sie rangiert auf dem
36 .Platz von insgesamt190 Ländern. Im vergan-
genenJahr sah es sogar noch schlechter aus. Da-
mals lag man – knapp hinterWeissrussland – auf


dem 38.Rang. DiesesJahr muss sich die Schweiz
nun von derTürkei geschlagen geben.Von jenem
Land also,das im vergangenenJahr denWert sei-
ner Währungkollabieren sah, das sich unter einem
autokratischen Präsidenten zusehends vonrechts-
staatlichen Prinzipien verabschiedet,das die Unab-
hängigkeit der Notenbank mitFüssen tritt und das
jüngst auch noch eine Militäroffensive im benach-
bartenSyrien lanciert hat.
Das wirftFragen auf: Steht es um dieRahmen-
bedingungen für Schweizer Unternehmen tatsäch-
lich so schlecht?Müssen hiesigeFirmen neidvoll
in dieTürkei blicken, weil es sich dort–Autokra-
tie hin oder her – lautWeltbank besser wirtschaf-
ten lässt? Selbstverständlich nicht.Denn die Unter-
suchung hat einen engenFokus. Sie ignoriert bei-
spi elsweise die makroökonomische Stabilität, die
Wettbewerbskraft, die Rechtsstaatlichkeitoder den
Bildungsstand derArbeitnehmer. Der Blick richtet
sich nurauf dasregulatorische Umfeld. Gemessen
wird etwa, wie vieleTage es braucht, um ein Unter-
nehmen zuregistrieren oder eineBaubewilligung
zu erhalten. Und diese Zeitdauer ist in derTürkei
offenbar kürzer als in der Schweiz.
Die Weltbank ist sich der methodischen Schwä-
chen bewusst. Sie betont, dass der «Doing Busi-
ness»-Bericht nicht als Leitfaden für Investitions-

entscheide tauge, da für Investoren auch die wirt-
schaftliche oder politische Stabilität zählt. Denn
was nützt dierascheRegistrierung eines Eigen-
tumsrechts,wenn dieses Eigentum vom Staat
ebenso rasch wiederkonfisziert werden kann,
wie dies in derTürkei jüngst oft derFall war. Hei-
kel sind auchVergleiche über die Zeit hinweg. So
we rden im Berichtregelmässig neue Indikatoren
hinzugefügt oder Erhebungen angepasst.Dadurch
verschiebensich die Platzierungen, ohne dass sich
in denLändern etwas ändert. Nicht jedeRangver-
besserung ist daher Grund für Lob.
Politiker kümmern sich nicht um solche Nuan-
cen. Sie nutzen internationaleRankings als Argu-
mentationshilfe. IrgendeineRangliste lässt sich
immer zitieren, um die eigeneForderung zu unter-
mauern. Doch hinter denRankings stehtkeine
exakteWissenschaft. Nicht alles lässtsich messen


  • und was messbar ist,läss t oft diverse Schlüsse zu.
    So verlockend es sein mag, sich dieWelt als Scheibe
    vorzustellen und alleLänder über einen Leisten zu
    schlagen,so gross ist die Gefahr, komplexe Zusam-
    menhänge durch oberflächliche Kategorisierungen
    zu simplifizieren.Auch in einer globalisiertenWelt
    gibt es kulturelle Eigenheiten. Und auch imJahr
    2019 kann das Geschäftsklima der Schweiz durch-
    aus mit jenem derTürkei mithalten.


Müssen hiesige Firmen


neidvollindieTürkeiblicken,


weil es sich dort lautWeltbank


besserwirtschaftenlässt?


Selbstverständlich nicht.


Schuldspruch gegenden Präsidenten der Fussball-Liga


Schifferle muss in den Ausstand treten


Heinrich Schifferle ist Präsident derSwiss Football
League, der bedeutendsten Kammer des Schweize-
rischenFussballverbands. Damit ist Schifferle ein
entscheidender Exponent dieses Sports imLand.
Und nun wird der 66-Jährige vom Bezirksgericht
Winterthur der ungetreuen Geschäftsbesorgung
schuldig gesprochen. DerFall geht auf Schifferles
Zeit als Geschäftsführer der Siska ImmobilienAG
zurück. Er soll privateFahrzeugversicherungen so-
wie eine Schutzdecke für seinAuto über dieFir-
menkasse abgerechnet haben.Ausserdem hat er
gemäss UrteilsdispositivSiska-Personal für private
Zwecke eingesetzt. Bei der Siska wurde Schifferle
wegen dieser und andererVorwürfe vor fünfJah-
ren Knall aufFall entlassen; die Entlassung mün-
det e in einen öffentlich ausgetragenen Streit zwi-
schen dem Siska-Verwaltungsratspräsidenten Gün-
ter Heuberger und ihm.
Ist ein hoher Sportfunktionär, der gerichtlich
schuldig gesprochen wird, im Amt noch tragbar?


Schifferle ist seit 2011 Liga-Präsident,kein Mann
der grossen Geste, eher einer, der im Hintergrund die
Fäden zieht. In seinerAmtszeit hat er es geschafft,
einenFernsehvertrag auszuhandeln,der viel mehr
Geld in die Kassen der Schweizer Profiklubs spült.
Er giltals Funktionärmit Macht,obwohl er anfäng-
lich nur alsVertreter des kleinen FCWinterthur in
die Verbandsleitung stiess.Doch dieJahre in den
verschiedenen Gremien habensein Netzwerk ver-
dichtet,sein (zusätzliches)Amt alsVizepräsident des
SchweizerFussballverbandes verleiht ihm noch mehr
Gewicht. Schifferle spricht darum auch in Belangen
der Nationalmannschaft mit;sein Gewicht zeigte sich
etwa bei der Präsentation des neuen Nationalteam-
Managers im Sommer: Schifferle führte das erste
Wort. Der Mann scheint sein Amt gut auszufüllen.
Die Welt derFussballfunktionäre ist schlecht be-
leumdet. Spätestens seit der spektakulärenVerhaf-
tung vonFunktionären desWeltverbandesFifa vor
einem Zürcher Hotel im Mai 2015 ist es zum Kli-
schee geworden,dass ein hohesAmt imFussball mit
Korruption und anderen kriminellen Machenschaf-
ten einhergeht.Jedenfalls sind seit jenem Ereignis
Dutzende vonFunktionären aus allerWelt inhaftiert
und verurteilt oder zumindest gesperrt worden, die
Fifa wurde in ihren Grundfesten erschüttert–und
mit ihrLandes- undKontinentalverbände.

Vor diesem Hintergrund ist auch derFall Schifferle
zu betrachten. Zwar gibt es erst ein erstinstanzliches
Urteil, einWeiterzug ist wahrscheinlich.Ausserdem
sind die ihm angelastetenVerfehlungen nicht imFuss-
ballmilieu entstanden; mit seinemAmt als Liga-Präsi-
dent haben sie nichts zu tun. Zudem geht es um eine
relativ kleine Summe. Doch das ist eine zu flüchtige
Sicht: Gerät ein hoherVerbandsvertreter ins schiefe
Licht,wird auch seinAmt beschädigt.SeinWirken hat
nichtmehr die gleiche Kraft, was gerade inVerhand-
lungen mit Präsidenten der Profiklubs oder im Buh-
len um Sponsorenverträge sehr belastend sein kann.
Jedenfalls sollte der SchweizerischeFussballver-
band das Urteil des Bezirksgerichts imFall Schif-
ferle nicht auf die leichte Schulter nehmen, unab-
hängig von dessen möglichenAuswirkungen auf
die Amtsführung. Der hiesigeVerband steht näm-
lich stetsauchfür jenen Sport, dessenFunktionärs-
kaste weltweit einen soramponiertenRuf hat , dass
er sich nach innen und aussen umso stärker um
Lauterkeit und Glaubwürdigkeit bemühen muss.
Was bedeutet das für Schifferle und seinAmt als
Lig a-Präsident?Verband und Liga schweigen dazu;
es wird darauf verwiesen, dass erst ein erstinstanz-
liches Urteil vorliege. Dabei gibt es bis zum defini-
tiven Urteil nureine n vernünftigen Weg:dass Schif-
ferle in seinemAmt in denAusstand tritt.

Der Schweizerische


Fussballverband sollte


das Urteil des Bezirkgerichts


im Fall Schifferle nicht auf


die leichte Schulter nehmen.

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