Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 SCHWEIZ


«Ichgebe mir Mühe und bin voll bei der Sache.» Läuterung ist eines der Ziele derKurse fürVerkehrssünder. ANNICK RAMP / NZZ

Autofahrer auf Entzug


Angetrunken, zu schnell oder zu risikofreudig unterwegs – im Besser ungskurs werden jährlich 500 bis 600 Verkehrssünder umerzogen


HELMUTSTALDER


Etwas betreten stehen sie vor demKurs-
lokal amBahnhofplatz in Zürich. Den
einen ist es peinlich, dass sie hier über
ihreDefizite beim Fahren sprechen
müssen. Die andern hadern mit derJus-
tiz, die ihnen dies zumutet. Und allewol-
len die Lektionenrasch absitzen, um
bald wieder auf die Strasse zukommen.
Allen Kursteilnehmenden wurde der
Führerausweis nach gröberen und zum
Teil wiederholtenVerkehrsregelverlet-
zungen für mehrereMonate entzogen.
Wenn sie denKurs für «verkehrs-
auffällige Lenkende mitWarnungsent-
zug» absolvieren, den die Beratungs-
stelle für Unfallverhütung (BfU) an-
bietet, haben sieAussicht darauf, dass
der Entzug um einen Monat oder mehr
verkürzt wird. 530Franken für viermal
anderthalb Stunden Nacherziehung am
Abend haben sie hingeblättert. Sie sol-
len unter Anleitung der Psychologin
Hélène Leblois ihrFahrverhalten hin-
terfragen, heikle Situationen erkennen
und Strategien entwickeln, um künftig
Verstösse undAusweisentzüge zu ver-
meiden. DieKursleiterin Lebloiskennt
ihre Klientel im Besserungsprogramm
undkommt gleich zur Sache.


Schuld warendie andern


In derVorstellungsrunde fordert sie die
Teilnehmenden auf,sich zu ihrenVer-
kehrssünden zu bekennen.Das fällt
nicht allen leicht. Meist waren ihre
Vergehen aus ihrer Sicht harmlos, und
schuld waren sowieso die andern, die
Umstände, die kleinlichenRegelungen,
die Signalisation oder gar dasFahrzeug.
Er sei letztesJahr am Morgen in eine
Kontrolle geraten, mit 0,02 Promille zu
viel «Restalkohol» im Blut, berichtet ein
Teilnehmer Mitte 40. DiesesJahr habe
er mit dem Motorrad etwas zu frühauf-
gedreht. 94 Kilometer pro Stunde hatte
er drauf, statt der erlaubten 50.«Das
Dorf war halt noch nicht fertig», sagt er.
Für die schwereWiderhandlung wäh-
rend der Bewährungsfrist wurde ihmdas
Billett für sieben Monate abgenommen.
Wenn er denKurs absolviert,können es
zwei Monate weniger sein.
«20 18 geriet ich beim Gipfeli-Holen
in denRadar, 103 statt 80», sagt der mit
etwa 30JahrenJüngste in derRunde.
DiesesJahrwurde er erneut mit 84 Kilo-
metern pro Stunde im 60er-Bereich er-
wischt, das gab vier Monate Entzug, die
bereits auf drei Monate verkürzt wur-
den, weil er dasAuto beruflich braucht.
Wenn er denKurs mache, wären es noch
zwei Monate.Was er arbeite? Er ver-
kaufe CBD-Produkte, legales Canna-
bis. Warum er zu schnell gefahren sei?
«Ich musste ausliefern und war megaim
Stress. Und dasAuto fährt so ruhig, dass
man die Geschwindigkeit nicht merkt.»


Er fährt einen spritzigen VW Beetle
mit 300 PS, wie er nicht ohne Stolz be-
richtet. Mit den jungenRasern, die in
letzter Zeit mit spektakulären Unfäl-
len in übermotorisiertenFahrzeugen
für Schlagzeilen sorgen, willkeiner der
Kursteilnehmer gleichgesetzt werden.

GuteVorsätze


Fünf Monate Entzug hat die Mittvier-
zigerin kassiert, die aus ihrer Sicht gar
nichts gemacht hat.Jemand habe sie an-
gezeigt und behauptet, sie habe auf der

Autobahn zu nah aufgeschlossen und sei
nach dem Überholen zu knapp einge-
bogen. Es sei aber nichts geschehen, sagt
sie und hadert sichtlich mit dem Urteil.
Etwas weiter entwickelt ist das Unrechts-
bewusstsein bei einer älterenDame. «Ich
habe imGarten mit der Nachbarin ‹gwi-
isswiilet›, bin dann nach Hause gefahren
undhabe nach dem Garagentoröffner
‹gnuuschet›.»Laternenpfahl gerammt –
zweimal überschlagen–Totalschaden –
und voraussichtlich sechs MonateAus-
weisentzug. Siekommt schonvordem
Urteilsspruch in denKurs, um gutenWil-

len zu zeigen.Voraussichtlicher «Rabatt»
bei der Entzugsdauer, dasist bei allen
das Motiv für denKursbesuch.
DieKursleiterin Leblois will hören,
welcheVorsätze die Klienten gefasst
haben. Sie wissen, was von ihnen er-
wartet wird.«Wenn ich anfange zu trin-
ken, kann ich schwer aufhören. Deshalb
fahre ich nur nüchternAuto, auch auf
kurzen Strecken»,sagt dieWeisswein-
Liebhaberin.«Ich werde nur noch nach
denVerkehrsregeln fahren, geduldi-
ger sein und nur schnell fahren, wo es
erlaubt ist», verspricht derTöfffahrer

treuherzig. «Ich halte immer genug Ab-
stand», gelobt die drängelnde Mittvier-
zigerin. «Ich werde mir Mühe geben,
dass es nicht mehr passiert», sagt der
CBD-Händler mit seinen 300 PS. «Es
‹passiert› nicht–Sie machen es»,inter-
veniert dieKursleiterin. Er fahrenicht
riskant, nichtrücksichtslos, drückesich
nicht inKolonnen hinein, verteidigt er
sich und bringt schliesslich doch fertig
zu sagen: «Ich gebe mir Mühe und bin
voll bei der Sache.» Der erste Schritt,
dieAuseinandersetzung mit den eige-
nenTaten, ist immerhin getan.

Impulskontrolle


DieKursleiterin Lebloiskonfrontiert
die Teilnehmer im weiterenVerlauf
mit Statistiken undRechtsgrundlagen.
Etwa dass die häufigste Unfallursache
überhöhte Geschwindigkeit auf Über-
landstrassen sei.Dass junge Männer
am häufigsten Unfälle bauten.Dass der
Ausweisentzug und derKurs keine Schi-
kane seien, sondern eine administrative
Massnahme, damit sie sich besserten.
Und dass beiVerkehrsdelikten das Kas-
kadenprinzip gelte, so dassje nachVor-
strafen und Schwereder Delikteimmer
härtere Massnahmen drohten.
DieTeilnehmenden nehmen die In-
formationen zurKenntnis und blicken
auf die Uhr. Leblois verteilt Hausaufga-
ben, denndieTeilnehmer müssen auch
zwischen denKursabenden etwas leis-
ten.In den nächsten Lektionen gehe
es darum, die Selbstwahrnehmung zu
verbessern, Alarmsignale zu erken-
nen, Strategien zur Impulskontrolle zu
entwickeln undkonkrete individuelle
Lösungen gegenFrust, Aggression und
gefährlicheVerhaltensweisen zu ent-
wickeln, sagt Leblois. Durchfallenkön-
nen dieTeilnehmenden eigentlich nicht,
und daswissen sie. Ausgeschlossen wird
nur, wer unpünktlich, betrunken, bekifft
oder gar nicht erscheint, wer die Haus-
aufgaben verweigert, ausfällig wird oder
dieKursleiterin bedroht.Wohl alle wer-
denamEnde die ersehnteBescheini-
gung und denRabatt erhalten.
Hélène Leblois hält die Gruppe bei
der Stange, noch bleiben zwei Abende,
um sie zu einerAuseinandersetzung mit
ihremVerhalten zu aktivieren und zur
Läuterung zu bringen.Was sie bis jetzt
aus demKurs mitnähmen,fragt sie am
Ende der Lektion. Die Antworten sind
etwas ernüchternd.«OhneAuto bin ich
verloren, also macheich das jetzt», sagt
eine. «ImKopf passiert schon etwas,
man fährt bewusster», meinteinanderer.
Und derRenitente findet: «DerKurs
stinkt allen so, dass sie sich imVerkehr
Mühe geben werden, um nie mehr her-
kommen zu müssen.» Immerhin, sogar
wenn dies die einzige Motivation wäre,
erzielt das Besserungsprogramm den be-
absichtigten Lerneffekt.

Weniger Trunkenheit am Steuer – mehr Frauen in den Kursen


st.·Das Strassenverkehrsgesetz be-
stimmt, dass befristet entzogeneFüh-
rerausweise früher wieder erteilt wer-
denkönnen, wenn der Tätereine Nach-
schulung absolvierthat. Die Beratungs-
stelle für Unfallverhütung (BfU) bietet
vierKurse an, zwei à vierKursabende
für Täter mitWarnungsentzug wegen
Geschwindigkeitsdelikten oder erst-
maligenFahrens mit Alkohol am Steuer,
zweiàsechsKursabende für Leute, die
denFahrausweis wegen wiederholten
Fahrens unter Alkoholeinfluss fürlän-
gereDauer oder wegen massiverTempo-
delikte auf unbestimmte Zeit abgeben

mussten. Insgesamtwurden bisher 20 00
Kursemit rund 1 3000 Teilnehmenden
durchgeführt, so dass proJahr etwa 500
bis 600Verkehrssünder die Programme
durchlaufen. 20 bis 30Teilnehmende
flögen jedesJahr aus demKurs, weil sie
nichtkooperierten oder angetrunken
kämen, sagt Markus Hubacher,Team-
leiter Nachschulung der BfU.Aus der
Kursstatistik lasse sich ablesen: Über-
höhte Geschwindigkeit sei ein jugend-
typisches Delikt, während Alkohol am
St euer häufigerauch bei Älteren vor-
komme. DieFälle vonTr unkenheit am
St euer nähmengenerell etwas ab, der

Anteil derFrauen in diesen Kursen
nehme hingegen eher zu.
Mit einem Kurs lässt sich laut
Hubacher die Rückfallwahrschein-
lichkeit halbieren.Jüngstüberwies der
Nationalrat einenVorstoss, wonach Len-
ker, die zum erstenMal ein leichtes oder
mittelschweres Verkehrsdelikt begehen,
denFührerausweis nicht mehr abgeben
müssen, wenn sie einenKurs besuchen.
Davon hält die BfU nichts. Es brauche
die erzieherische Massnahme, aber auch
die Sanktion, sagt Hubacher. Manver-
hielte sich umsichtiger, wenn einem der
Entzug desFührerausweises drohe.

Witze erklären von Jesus bis Jansen


Wo hört der Spass auf? Immer wied er ist es am Ombudsmann von SRF, über diese Frage zu entscheiden – ein tr ostloses Unterfangen


FRANK SIEBER


Ombudsmann. Die schwedisch-char-
manteFunktionsbezeichnung mag läs-
sig sein, derJob selber ist es eher nicht.
Jedenfalls nicht für den, der für das Pro-
gramm des SchweizerRadios undFern-
sehens (SRF) zuständig ist und bei Be-
anstandungen prüft, ob die Redak-
tionen sachgerecht berichtet und nie-
manden diskriminiert haben.Für die
Deutschschweiz ist dasRoger Blum.
EineDurchsicht seiner Schlussberichte
des laufendenJa hres zeigt, womit er es
zu tun hat: Der eine siehtRogerKöppel
ungerecht behandelt, der anderen passt
ein Hockey-Kommentator nicht, und
der Dritte wittert überall Propaganda
und gibt einfachkeineRuhe.
Einevon Blums delikateren Aufga-
ben im steten Strom der Stänkerei ist es,
Witze zu erklären und ihre Existenz zu
rechtfertigen oder zu tadeln.Für viele


hört der Spass nämlich irgendwo auf,
auch wenn sie wirklich gar nichts gegen
Satire haben.





Man muss Herrn Blum lassen, dass er
sich Mühe gibt, seine Einschätzunggut
zu begründen. Häufigkommt er dabei
um sehr Grundsätzliches nicht herum:
«IhreForderung, Satire müsse neutral
und objektiv sein, entbehrt jeder Grund-
lage», hält er beispielsweise fest.ImKon-
kreten verweist BlumaufdenKontext,
erläutert dieFaktengrundlage, klärt, wer
da spricht und auf wen die Kritik zielt.
Regelmässig verweist er auf die weit aus-
zulegendeKunst- und Meinungsäusse-
rungsfreiheit, die sicherstelle, dass Satire
(fast) alles dürfe.
Die Definition dieser Klammer aber
ist schwierig. Eine Beanstandung etwa
betraf einenAuftritt desKomikers Cenk

Korkmaz, der in der Sendung «Deville»
über geschäftliche Möglichkeiten für
Jesus in der heutigen Zeit spekulierte
(Anbieter von Kreuzfahrten inklusive
Hochseewanderung und Nagelstudio).
Der durchschnittliche Christ wirdsol-
cheWortspielerei heute ohne grossen
Seelenschmerz überstehen und falls
nicht, sollte er es lernen. Das hätte man
dem Beanstander eigentlich so mittei-
lenkönnen, aber dieFunktion erlaubt
das dem Ombudsmann wohl nicht. Also
setzte Blum ihm auseinander, dass zwi-
schen dem göttlichenund dem mensch-
lichenJesus zu unterscheiden sei, dass
die Kreuzigung wohl schon zu den zen-
tralen Glaubensinhalten gehöre, dass er
Cenk trotzdem gern dasRecht zu die-
sem Spott zuerkennen würde, ihm da-
mit aber unwohl sei.Kurz: Blum traute
sich hierkeinen Entscheid zu und ver-
wies denVerletzten weiter an die Un-
abhängige Beschwerdeinstanz.

Entschlossener urteilte Blum bei
der Intervention derJuso-Präsidentin
RonjaJansen. Sie beanstandete, in der
Sendung «Late Update» desKomikers
Michael Elsener diskriminiert worden
zu sein. Elsener hatte in derKunstfigur
des deutschenJournalistenFrank-Wal-
terFroschmeier SP-Präsident Christian
Levrat interviewt undJansen als «Miss
Juso» und «heiss» bezeichnet. Blum er-
kannte darin ebenfalls Sexismus und
unterstützte Jansen, weil Elseners
Kunstfigur sich hier nicht typenkon-
form äussere undJansen auf ihrÄusse-
res reduziert worden sei.





Der Sache ist aber nicht viel gedient
mitrecht künstlich herbeiargumentier-
ten Grenzen der Satire.ImFall Frosch-
meier lief es ja dann sowieso gut: Levrat
wurde es an derJansen-Stelle endgültig

zu blöd, und er beendete das Gespräch.
Man sah also, dass, wenn ein anmassen-
der Schwätzer auch noch sexistische
Sprüche klopft,einhalbwegsvernünfti-
ger Gesprächspartner seinerWege geht.
Das solltedenKomikproduzenten hin-
terFroschmeier Anlass genug sein,zu
fragen, ob dieFigur wirklich dazu tau-
gen kann, etwasanderesblosszustellen
als sich selbst. Und der Ombudsmann
hätte in diesemFall anmerkenkönnen,
dass grösseresAufheben nicht nötig sei.
Wie beispielsweise in einem anders ge-
lagertenFall mit Hazel Brugger, die das
unerigierte Glied imRadio einmal plas-
tisch als «kümmerliche Fleischpatrone»
bezeichnet hatte. Das winkte Blumvöl-
lig zuRechtund mit ein paar trösten-
denWorten für den Beanstander durch.
Generell wäre gutes Zureden – gerade
inFragen derKomik – dieeher vorneh-
mereAufgabe,als (subjektive) Grenzen
zu ziehen. Meistens tut Blum das ja auch.
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