Freitag, 25. Oktober 2019 FEUILLETON 41
ANZEIGEStirbt die Turteltaube aus, stirbt auch das Wunder
Wird nicht mehr geturtelt, verschwindet eine ganze Reihe religiöser Bilder, und das Tierbuch der Menschheit verliert eine zarte Seite
DANIELE MUSCIONICO
Wer liebt, ist mindestens zu zweit.Allein
geht Liebe natürlich auch, doch bloss
für Spezialisten. Der Generalist liebt im
Paar oder zu vielen, je nach Geschmack
und persönlichem Lebenskonzept.Viel-
leicht stellt jemand dann dieFrage:«Tur-
telst du mit mir?»
Wer seinerromantischen Empfin-
dungso Ausdruck verleiht, erntet in
den meistenFällen ein mitleidsvolles
Lächeln. Das Wort «turteln» gilt als
Tätigkeit aus dem Katalog der verges-
senen Liebeskünste. Es steht dort kurz
nach «Strumpfbänder» und kurz vor
«Vatermörder», dem steifen Kragen des
Herrenoberhemdes im19.Jahrhundert.
DieFähigkeit desTurtelns zählt zum
überlebten Minnewesen.
Wer heute turtelt, hat imRegelfall ein
Date. Das heisst: vier trockene Buchsta-
ben,kalt in derAnmutung und ohne Hall-
raum für die Phantasie. Für dasZögern
und Anpirschen, das erotischeWittern
undWarten zweier Menschen auf ein
unaussprechliches Ziel hin – imVollzug
einesDates bleibt dafürkein Platz mehr.
Aus derWelt und aus der Mode ge-
fallen wie dasTurteln ist allerdings auch
das Wesen, das der Ursprung der laut-
malerischen Bezeichnung ist, nämlich:
die Turteltaube. Sie ist aus unseren mit-
teleuropäischen Städten undLandstri-
chen grösstenteils verschwunden.
Dabei hat sie die Menschheits-
geschichte in vielerlei Bereichen wie
kein andererVogel geprägt. Allein das
Balzverhalten derTurteltaube ist dem
derMenschen so verblüffend ähnlich,
dass seit dem Mittelalter, bis in die Mo-
derne dasWort «turteln» zumVokabu-
lar der Liebeslyrik gehört.
Angesichts des Artensterbens – und
in Betracht desTodes einiger artiger
Umgangsformen unter Zeitgenossen –
stellt sich dieFrage:Wer wird wohl als
Erstes für immer vergessen sein? Die
Turteltaube – oder das Bewusstsein da-
für, was sie uns vorgemacht hat? Ein-
tönig wäre das menschliche Liebes-
werben ohne die Praxis aus demTier-
reich, dasTurteln in all seinenVarianten
vonRucksen, Gurren und Girren.
Der Tod lauertim Süden
Streptopelia turtur, die Turteltaube, ist
hierzulande ein seltener Gast gewor-
den.Wir warteten auf unsereTurteltaube
den ganzen langen Sommer.War es denn
überhaupt ein Sommer ohne ihr Flattern
und Schnäbeln?Jetzt löst der Herbst-
regen unsere Brotkrumen für sie auf,
und die verwaisteTanne wirkt finster.
Sie scheint beschlossen zu haben, dass
es bereitsWinter sei. In diesenWochen
wird sich unserVogel einer Schwarmge-
sellschaft von Artgenossen angeschlos-
sen haben und in den Süden fliegen.
Wer eineTurteltaubekennt,kennt
alle. So sieht es jener, der blind für die
Wunder um uns herum ist. Unsere Tur-
teltaube war ohneFrage unvergleichlich.
Sie trägt fassungslos symmetrisch ge-
maserte Flügel und seitlich am schlan-
ken Hals auf hellgrauem Grund ein
Schönheitsmal. Doch auch das wird sie
nicht vor ihrem Schicksal bewahren.
Wenn die Turteltaube auf ihrem
Winterflug inFrankreich, Spanien oder
Malta vom Himmel geschossen wird, er-
füll t sich ein durchschnittlichesTurtel-
taubenleben. IhrTod wird einFall für
die Statistik sein. Doch mit jedemTier,
das aus dem Überwinterungsgebiet
nicht mehr zurückkehrt, mit jederTur-
teltaube,die in unserenTannen fehlt,
wird das Stadtleben ein kleines Stückgeheimnisloser. Und das Staunen über
das WunderwesenVogel wird abgelöst
von der nüchternen Debatte über die
Auswirkungen des Artenschwunds. Er
wird schliesslich gekrönt von der Ein-
sicht, dass derLauf der Dinge und das
Verschwinden derTurteltauben nicht zu
ändern sei.Aristoteles war parteiisch
Die Bejagung derTurteltauben und die
Bedrohung ihres Lebensraumes führten
dazu,dass ihr Bestand in der Schweiz und
in Deutschland seit den1980erJahren
um neunzig Prozent gesunken ist. Opti-
mis tische Schätzungen zählen in unse-
rem Land noch 400 Brutpaare, pessimis-
tische wollen von150 Paaren wissen.
Im NachbarlandFrankreich, wo der
Abschuss erlaubt ist, hat dieRegierung
Anfang September erstmals eine Quote
festgelegt. Statt rund 80 000 Vögel sol-
len im ganzenLand in Zukunft jährlich
nun noch18 000Tiere getötet werden
dürfen. Doch derRückgang im gesam-
ten ursprünglichen Lebensraum scheintnicht mehr aufhaltbar zu sein: Der
Naturschutzbund Deutschland und der
bayrischeLandesbund fürVogelschutz
haben dieTurteltaube zumVogel des
Jahres 2020 gewählt. Sie wollen sie vor
demAussterbenretten.
Täglich sterbenTierarten aus, und
ständig entstehen neue. Die Evolution
kann naturgemäss nicht zum Stillstand
kommen. Doch dasVerschwinden der
Turteltaube wäre erheblicher als jenes
vieler andererTier-und Vogelarten.
Denn sie hat immensen Einfluss genom-
men auf unsere christlicheKultur.
Wenn Streptopelia turtur, die zier-
lichste Art in der grossenTaubenfamilie,
aus unserem Leben verschwindet, geht
ein es der ältestenSymboltiere unserer
Kulturgeschichte vergessen.Wenn die
Turteltaube ausstirbt, verlieren wir den
Zugang zu menschlichen Geheimnissen
und Mysterien: DieTurteltaube ist der
Inbegriff derreligiösen Naturauslegung.
Sie istTeil des «Physiologus»,jenes
wichtigenTextes, der mit seiner ersten
christlichen Gesamtdeutung der Natur
als das älteste uns bekannteTierbuch gilt.Diegriechische Schrift eines anonymen
Verfassers, der im zweitenJahrhundert in
Ägypten gelebt haben soll, enthält zahl-
loseVerweise auf dieWurzeln der spiri-
tuellen Motive und der Hermeneutikin
der Natur. Er erklärt zum Beispiel, was
der Pelikan mit Christus zu tun hat und
was das Einhorn mit derJungfrau Maria.In derTaube gurrt Gott
Dieser «Physiologus» widmete derTur-
teltaube besonders grosseAufmerksam-
keit undräumte ihr mehr Platz als ande-
renTieren ein: In der Lobrede auf den
Vogel der Liebe vergleicht derText das
Wort Gottes schliesslichmit dem Gur-
ren derTurteltaube. Und er verweist auf
die Stelle in der Bibel, wonachJuden,
die sichkein Lamm leistenkönnen, auch
Turteltauben als Opfertiere in denTem-
pel bringenkönnen.
Der Einfluss des mittelalterlichen
«Physiologus» im Hinblick auf dieWir-
kung und die Stilisierung derTurtel-
taube war mächtig. Sie prägte die Kir-
chengeschichte, und er etablierte ein
christlichesFrauenbild, das bis heute nur
schwer zu erschüttern ist.DemTäubchen
nämlich, das gerne alsPaar auftritt, tur-
telnd selbst in fester Beziehung, schrieb
man ausschliesslich edelmütige Eigen-
schaften zu:Reinheit,Keuschheit, Sanft-
mut,Treue und Zärtlichkeit. DieseSym-
bolik fand vollumfänglich Anwendung
auf das Bild derJungfrau Maria,Inbegriff
der reinen Magd und einer idealenFrau.
Die christliche Lesart, die Maria
mit einerTurteltaube vergleicht, bezog
sich auf dieForschungen von Aristote-
les. «EineTurteltaube hatkeine Galle»,
stellte er fest und erklärte damit die
Sanftheit,Treue und anspruchslose Lie-
besfähigkeit desTieres. Natürlich hatte
Aristotelesrecht,Taubenvögel besitzen
keine Galle. Doch dass durch ihrFehlen
der Charakter desTieres zwangsläufig
sanft sei– undgeeignet alsVorbild für
die Frau –, war Propaganda der vorherr-
schendenVier-Säfte-Lehre.
ZahlreicheTiere, auch Säugetierewie
Pferde, leben ohne Gallenblase. Wäre je
einer der Idee verfallen, unsFrauen in
ethisch-moralischer Hinsicht mit einem
Hengst zu vergleichen? DerTaubenzüch-
ter Aristoteles war schlicht parteiisch, als
er dafür zurTurteltaube griff. Hätte er
stattdessen Pferde bevorzugt, man weiss
nicht, wie sich die Geschichte derFrau,
aus männlicherPerspektive, entwickelt
hä tte. Doch nicht nur dieTurteltaube
hätte davon womöglich profitiert.Die Turteltaubewirdimmer einsamer,ihre Beständeschrumpfen seit geraumer Zeit. FRED FULLER / CC BY 2.0Er schritt mit der Tradition voran, statt sie zu zertrümmern
Die Musikgeschichte schätzen, aber etablierte Werkverständnisse hinterfragen – das tat der Komponist und Dirigent Hans Zender ein Leben lang
DANIEL ENDER
Am bekanntesten und beliebtesten
wurde er mit der Musikeines ande-
ren, des auch von ihm selbstviel ge-
liebtenFranz Schubert – und zwar mit
der «Winterreise». Hans Zender hat sie
in seiner «komponierten Interpretation
für Tenor und kleines Orchester» (1993)
auch zu seiner eigenen Musik gemacht.
Seine Lesart verfolgt zweigegensätz-
liche Richtungen: Einerseits bleibt sie in
Ablauf und Singstimme nahe am Ori-
ginal, andererseits lässt sie durch farb-
liche Nuancierungen ebenso aufhorchen
wie durch kraftvolle Illustrationen von
Wind, Wetter und inneren Stürmen.
In gewisserWeise kann der Ansatz
diesesWerks,das genaugenommen und
vielsagend mit «Schuberts [!]Winter-
reise» betitelt ist, als symbolträchtig für
Zenders gesamtesWirken als Dirigent
undKomponist gelten. ÄhnlicheWege
hat er auch mit der «Schumann-Fanta-
sie» für grosses Orchester (1997) und
mit den «33Veränderungen über 33Ver-
änderungen» (Beethovens «Diabelli-
Variationen», 2011) beschritten.
Zenders Schaffen jedoch ist wesent-
lich vielgestaltiger und nicht leicht zu
greifen. Seinejahrzehntelange intensive
Tätigkeit als Dirigent strebte von allem
Anfang an auf Erweiterung allzu enger
Repertoire-Pfade, auch wenn er hier
dan k e iner umfassendenAusbildung
in Klavier, Orgel und Dirigieren so-
wieKomposition in seiner Heimatstadt
Wiesbaden, inFrankfurt undFreiburg
eine geradezu bilderbuchhafte Kapell-
meisterkarriere absolvierte.Schon als Student arbeitete der 1936
Geborene an den Städtischen Bühnen
Freiburg, mit 27Jahren wurde der zwei-
maligeRom-Stipendiat Chefdirigent der
Oper Bonn. Leitungspositionen in Kiel,
Saarbrücken, Hamburg und den Nieder-
landen, Gastdirigentenstellen in Brüssel
und zuletzt beim SWR-Sinfonieorches-
ter Baden-Baden undFreiburg beglei-
teten ihn über ein halbesJahrhundert;er dirigierte auch in Berlin undWien,
bei denBayreuther und den Salzburger
Festspielen.
Unermüdlich setzte er sich dabei für
eine Integration zeitgenössischerWerke
ins Repertoire ein.Dabei folgte er dem
Grundsatz, «dass ich nicht wie einRe-
volutionär dieTraditionen kaputtschla-
gen will,sondern im Gegenteil, dass ich
versuche zu zeigen, was schon an Mög-
lichkeiten in den traditionellenAnsätzen
drin ist und wie wir diese neu lesenkön-
nen». Hatte er alsJugendlicher noch Diri-
genten wieWilhelmFurtwängler, Carl
Schuricht oder GünterWand erlebt, so
war er zugleich im höchsten Grade neu-
gierig aufavantgardistische Strömungen.
Schon ab1949 lernte er neue Musik aus
Europa und den USAkennen.
Als Komponist hat Zender die
Musikgeschichte des 20.Jahrhunderts
über weite Strecken in seinem Schaf-
fen nachgezeichnet, indem er zunächst
mit zwölftönigen bzw. seriellen Metho-
den arbeitete («DreiRondels nach Mal-
larmé», 1961). Dann schrieb er elektroni-
sche Studien, bezog offeneFormen ein
(etwa in «Schachspiel» für zwei Orches-
tergruppen,1969) und vermittelte in sei-
nen Solo- und Kammermusikwerken so-
wie in seiner Orchestermusik vielfachzwischenTraditionen und Neuerungen- etwa mit mikrotonalen Klangräumen
von hochgradiger Differenzierung –
ebenso wie zwischen abendländischen
und fernöstlichen Ansätzen (Zyklus
«Lo-Shu», 1977–1997). Langjährige
Auseinandersetzungen mitkomposito-
rischen Problemstellungen zeigen sich
au ch im neunteiligen Zyklus «Canto»
(1965–2007) oderin der fünfteiligen
Serie «Hölderlin lesen» (1979–2012).
Vieldeutige (Anti-)Helden beschwor
er in seinen drei Opern nach selbst ver-
fasstenTextbüchern: «Stephen Climax»
(1986) nachJames Joyce und Hugo
Ball, «Don Quijote de la Mancha»
(1993/1999) nach Miguel de Cervantes
sowie «ChiefJoseph» (2005) über den
Konflikt zwischen denWeissen und den
amerikanischen Ureinwohnern.
Diesem Anliegen widmete er sich
auch als Professor fürKomposition an
derFrankfurter Musikhochschule, wo-
bei er seinen Studierenden zu vermit-
teln trachtete,«dass unser Schicksal
heute dieFreiheit ist und dass jeder
seinen eigenenWeginstilistischer und
technischer Hinsicht finden muss».
Dass er seine Gedanken überseine
ganze Lebenszeit auch schriftstellerisch
fixierte, zuletzt mit der Essaysammlung
«Waches Hören. Über Musik» (2014),
zeugt voneinem hohen, selbstauferleg-
ten Ethos.
In seinem83.Lebensjahr ist Hans
Zender in der Nachtdes 22. Oktober in
Meersburg auf der schwäbischen Seite
des Bodensees verstorben.Hans Zender
Dirigent,Komponist,
Professor
IMAGO für KompositionDANZA
CONTEMPORÁNEA
DECUBA
31.10.–2.11.
DreiChoreografienvonJulio CésarIglesias,
FleurDarkinund GeorgeCéspedes(^4) JAH^0 RE