Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 WOCHENENDE 51


amerikanischenKolonien, um unter-
wegs dieWassertemperatur des tropi-
schenOzeans zu messen. Mit Eimer,
Seil undThermometer nahm er Proben
in bis zu 1200 MeternTiefe und stellte
fest: je tiefer,desto kälter.Ganz unten
war das Meer17 Grad kälter als die Luft.
FünfzigJahrespäterentdecktederengli-
sche Physiker GrafRumford Ellis’Auf-
zeichnungen in den Archiven derRoyal
Society of London und wunderte sich:
Wiekonnte dasTiefenwasser in denTro-
pen soviel kälter sein als die darüber-
liegende Atmosphäre? Man wusste be-
reits, dass dasWasser an der Oberfläche
in steter Bewegung war,angetrieben
durch dieWinde, doch dieTiefsee hielt
man im18.Jahrhundert noch für bewe-
gungslos.Rumforderkannteanhanddie-
ses einenTemperaturprofils das Gegen-
teil: «Es scheint mir nur sehr schwer
vorstellbar,wennnicht ganz unmöglich,
diese Kälte am Boden der heissen Zone
unseres Planeten lokal zu erklären,aber
es legt dieVermutung nahe, dass dafür
kalte Strömungen von denPolen verant-
wortlich sind.» Er hatterecht.


Wenn das Schwungraderlahmt


Die Framstrasse zwischen Grönland
und Spitzbergen ist ein Nadelöhr: die
einzigeTiefseeverbindung des Arkti-
schen Ozeans mit anderenWeltmeeren.
Wie auf einerAutobahnkommen sich
an der Oberfläche zwei Strömungen ent-
gegen.Auf derrechten Spur fliesst war-
mes, salzigesWasser vomÄquator, das
der Atlantik in den Norden trägt.Auf
der linken Spur wandert kaltes undre-
lativ salzarmes Wasser vom Nordpolar-
meer Richtung Süden.Mitten in derPas-
sage geschieht etwas Bemerkenswertes.
Ein Teil des warmenWassersaus dem
Atlantik macht eine Art U-Turn: Nach-
dem es in der arktischen Luft abgekühlt
ist, hat es eine höhere Dichte und sinkt
in dieTiefe, fädelt sich auf der gegen-
überliegendenFahrbahn ein und fliesst
mit dem Ostgrönlandstrom zurück. Süd-
lich von Island stürzt es in gigantischen
untermeerischenWasserfällen in die
Tiefseebecken des Nordatlantiks,was an
der Oberfläche neues, warmesWasser
nachströmen lässt.Ein nie stillstehen-
des, kolossales Schwungrad.
Das Phänomen heisstKonvektion,
Umwälzung,und tritt in einigenPolar-
regionenauf.EsistAntriebfüreineMee-
resströmung, die den gesamten Globus
umschlungen hält. Etwa ein Drittel des
gesamtenOzeanwasserswirdmitdiesem


Förderband bewegtundWärme aus den
TropenbiszudenPolenumverteilt.Auch
der Golfstrom,dem wir das milde Klima
in Westeuropa verdanken, istTeil dieses
Strömungssystems. Zudem nimmt das
absinkende Wasser vor seinem U-Turn
Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf
undversenktesinderTiefe.Etwa30Pro-
zentdesseitderindustriellenRevolution
freigesetzten, anthropogenenKohlen-
dioxids sind im Ozean gespeichert. Eine
ökologische Dienstleistung, die kaum zu
überschätzen ist, denn wäre dieses CO 2
noch in der Atmosphäre, wäre die Erd-
erwärmungschonweiterfortgeschritten.
Das Schwungrad, so hat eine Studie
desInstitutsfürKlimafolgenforschungin
Potsdam ergeben, werde bereits schwä-
cher. Klimamodelle gehen davon aus,
dass es bis Ende desJahrhunderts etwa
ein Viertel seiner Kraft einbüssen wird.
Aber eskönnt e a uch noch schlimmer
kommen: Die Klimaforscher erachten
diethermohaline–alsodurchSalzgehalt
undTemperaturunterschiedegetriebene


  • Konvektion als potenzielles Kippele-
    ment.Demnachkanneinbereitsimkriti-
    schenBereichoperierenderTeildesErd-
    systems durch eine weiterekleineVer-
    änderung in einen gänzlich neuen Zu-
    stand kippen.Wie ein Organversagen im
    menschlichenKörper hätte das weitrei-
    chendeFolgen. Doch welcher Mecha-
    nismus die Stärke der Umwälzung be-
    stimmt, ist nicht vollständig erforscht.
    Ausser Frage hingegen steht ihre Be-
    deutung für das Leben auf der Erde: Sie
    beeinflusst dieTemperaturen der Mee-


resoberfläche im Nordatlantik, die wie-
derum die Niederschläge in der afrika-
nischenSahelzone,inIndien und Brasi-
lienbeeinflussen.AuchdieHeftigkeitder
Wirbelstürme imAtlantik und der Som-
merinEuropaundNordamerikahängen
vonihrab.SiehatEinflussaufdenRück-
gang des Meereises in derArktis und auf
das Abschmelzen des grönländischen
Eisschildes. Prozesse, die inWechsel-
wirkung stehen. Schmilzt die Eiskappe,
strömt Süsswasser in die Grönlandsee,
und dasWasser in derFramstrass ekann
aufgrund zu geringer Dichte – je süsser,
destoleichter–nichtmehrabsinken.Das
Schwungrad erlahmt.
Seit dreissigJahren istKonrad Stef-
fen jedenFrühling auf Grönland, doch
so etwas wie in diesemJahr habe er noch
nie erlebt,sagt er:«Am1. Mai hatten wir
am Swiss Camp5Grad. Es sollten mi-
nus 15 sein.» Der Schnee schmolz ihnen
unter denFüssen weg,Schmelztümpel
wurden zu kleinenFlüssen, im Eis taten
sich Spalten auf, und nach einerWoche
mussten er und seinTeam mitdem Heli-
kopter abgeholt werden. «Es war trau-
rig», sagt Steffen. Aber die Organisato-
ren vom amerikanischen Nationalfonds,
die dasForschungsprojekt heute finan-
zieren, insistierten,«zu hohes Risiko».
Als der Glaziologe das Camp, das von
der Forschungsanstalt fürWald, Schnee
undLandschaft(WSL)unterhaltenwird,
1990 siebzig Kilometer von derWest-
küste entfernt einrichtete, galt sein In-
teressedersogenanntenGleichgewichts-
linie des Eisschildes – jener Linie, an der
der winterliche Schneefall und das som-
merliche Schmelzen präzise ausbalan-
ciert sind.Doch von Gleichgewicht kann
nicht mehr dieRede sein.

AlfredWegener liegt im Eis


Jedes Jahr fallen rund 500 Milliarden
Tonnen Schnee in Grönland.Früher
blieb der Schnee liegen,verdichtete sich
und liess den Eispanzer wachsen. Über
einen Zeitraum von mehr als 10 0000
Jahren wurde er mehr als drei Kilometer
dick, ein gigantisches Archiv der Erd-
geschichte. 1930 hat der deutsche Meteo-
rologe AlfredWegenerbereits versucht,
die Dynamiken der Eisbildung genauer
zu verstehen. Unter grössten Entbeh-
rungen schleppten er und seinTeam da-
mals mit SchlittenhundenAusrüstung
und Proviantfür ein Jahr hinauf auf den
Eisschild, um in «Eismitte» zu überwin-
tern. DochWegener starb überraschend
im November1930, vermutlich an Er-

schöpfung, und liegt noch immer dort
im Eis. Bei Bohrungen,die irgendwo auf
Widerstand stossen,rufen Steffens Dok-
tor anden manchmal scherzhaft:«Es ist
Wegener!»Eine Artkollegialer Huldi-
gung gegenüber dem Pionier.Tatsäch-
lich kann es sein, dass das EisWegeners
Leichnam in naher Zukunft preisgibt.
Seit 2000 verliert Grönland deutlich
mehr Eis, als durch Schneefall hinzu-
kommt. «Bis dahin war Grönland im
Gleichgewicht», sagt Steffen. Doch nun
reagiere es immer schneller; in den letz-
ten zehnJahren habe sich die Schmelz-
rate vervierfacht.Tom undJerry können
dasbestätigen.SonennenKlimaforscher
die z wei Satelliten der deutsch-amerika-
nischen Mission «Grace», die seit 2002
permanent das Schwerefeld der Erde
vermessen. Im Abstand von 200 Kilo-
meternjagendiebeidenin450Kilometer
Höhe um den Planeten; neunzig Minu-
ten dauert eine Umrundung.Überfliegt
TomeinenBereichmiterhöhterSchwer-
kraft, wird er leicht angezogen und da-
durch beschleunigt, so dass sich der Ab-
stand zuJerry vergrössert.Die Abwei-
chung verrät,wie gross dieVeränderung
des Schwerefeldes ist.Die beiden sind so
präzise, dass sie sogarregistrieren, wenn
währendderRegenzeitdieWassermenge
im Amazonasbeckenansteigt. DerVer-
lustanGrönlandsEismassenbliebihnen
nicht verborgen. Seit 2002 ist ihrVolu-
menum4500 Kubikmeter,etwa0.15Pr o-
zent, zurückgegangen.
Die Gletscher in denRandregionen
haben ihr Fliesstempo erhöht.Jakobs-

havn,der schnellste insMeer mündende
Gletscher Grönlands, kroch 2012 sieb-
zehn Kilometer auf die Disko-Bay zu, in
die er mündet, dreimal so schnell wie in
denJahrenzuvor.FüreinenGletscherist
das schon ein Sprint. DiesesJahr sorgte
er fürAufregung, weil er plötzlich wie-
der wuchs, was aberkeineswegs Grund
zurEntwarnungist,wieExpertenschnell
herausfanden. Im Gegenteil: Ursache
wareinezyklischeAbkühlungdesNord-
atlantiks, was beweise, dass die Meeres-
temperatur mehr Einfluss auf den Glet-
scherrückganghabealsbisherangenom-
men. «DieGletscherhaben wir nicht
mehrimGriff»,sagtSteffen.SechzigPro-
zent würden bis Ende desJahrhunderts
verschwunden sein,dann folge derRest.
In den Gletschern steckten noch etwa
43 Zentimeter Anstieg des Meeresspie-
gels – also knapp ein halber Meter. Das
liesse sich von denKüstenstädten viel-
leicht handhaben.Wenn aber Grönlands
Eiskappe auftaue, «kommen nochmals
sechs Meter dazu». Miami, Manhattan,
London, Schanghai,Bangkok, Mumbai,
Hamburg, Rotterdam und viele andere
Städte stünden dann imWasser.
2019 war wieder einRekord jahr,
gleich mehrere Hitzewellenin Grön-
land brachten enorme Schmelzra-
ten. «Seit Beginn der Messungen 1973
haben wir bisher erst einmal erlebt,
dass das Eis bis in 3300 Meter Höhe ge-
schmolzen ist.Wenn das dauerhaft ge-
schieht,verlieren wir das Nährgebiet»,
sagt Steffen. Dadurch wiederum würde
der Eisschildlangfristig an Höhe verlie-
ren.Seine Oberfläche, die sich jetzt noch
in kalten Luftschichten befindet,sinkt
und wird wärmerenTemperaturen aus-
gesetzt. «Das wäre ein Kipppunkt», sagt
Steffen. Eine Studie aus demJahr 2009
sagt diesen Kipppunkt für eine Klima-
erwärmung von 1,2 Grad Celsius voraus.
Wir sind jetzt bei 1,1 Grad.
Die sogenannten Schädigungspro-
zesse des Eisschildverlustes sind hoch-
komplex. UnserVerständnis ist noch
nicht gross genug, um zuverlässig vor-
hersagenzukönnen,wieschnellesgehen
wird. Nicht nur derTemperaturanstieg

Die Lebensbedingungen auf der isländischen Insel Heimaey sind extrem.Freiwillige kühlen 1973 den Lavastrom des Hausvulkans mit eiskaltem Meerwasser. FRED IHRT /GETTY

Südlich von Island


stürzt das Wasser


untermeerisch


in die Tiefseebecken


des Nordatlantiks,


einnie stillstehendes,


kolossales Schwungrad.


1930 starb der


deutsche Meteorologe


Alfred Wegener


aufdem Weg nach


«Eismitte» überraschend,


wahrscheinlich


an Erschöpfung.


SERIE ZUMANTHROPOZÄN
Der Mensch hat den Planeten in ein
neues Erdzeitalter geführt. Noch haben
wir dieWahl: Zerstörung oderWandel?

nzz.ch/wochenende
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