Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 POLITIK 11


Trudeau im Wahlkampf, hier bei einem Fernsehinterview in Toronto am 9. Oktober


Foto: Stephane Mahe/Reuters

Die vier


Sünden eines


Heiligen


Kanadas Premier Justin Trudeau, Held der


Liberalen, werden Rassismus und


Korruption vorgeworfen. Jetzt fürchtet er


um seine Wiederwahl VON KLAUS BRINKBÄUMER


I


st der freie Fall zu vermeiden? Oder wird
der Sturz in die Finsternis gleichsam
automatisch zum Finale einer politi-
schen Erzählung, wenn die Erzählung
so märchengleich begann? Hätte Kana-
das Premierminister Justin Trudeau, 47,
also überhaupt verhindern können, was
ihm in diesen Tagen widerfährt?
Es ist das Los der Linken und Progressiven,
dass sie im politischen Machtspiel die Guten sein
müssen, sein wollen. Zynismus und Kalkül wer-
den den anderen, den Konservativen zugeschrie-
ben, Pragmatismus ohnehin. Männer wie Trudeau
haben edel zu sein, und oft wird dann Moral zum
Wesen ihres politischen Programms – und wenn
sie doch bloß Menschen sind, mit menschlichen
Fehlern, schreiend blöden Fehlern, dann fallen sie,
und sie fallen tief.
Justin Trudeau hat sich in den vergangenen
Jahren als Heiliger inszeniert, weil er gewiss wusste,
dass er nur auf diese Weise gewinnen konnte. Er
versprach eine gerechte Gesellschaft und die Gleich-
zeitigkeit von Klimaschutz und wirtschaftlichem
Aufschwung und damit nicht weniger als ein per-
fektes Land. Es waren die Obama-Jahre in den
USA, und die Jugend des Nachbarlands sehnte sich
nach einem kanadischen Obama. Dass Trudeau,
einstiger Herumtreiber und Snowboardlehrer, erst
drei Jahre Politikerfahrung hatte, war 2013 nicht
weiter wichtig, als er an die Spitze der Liberalen
Partei stürmte; und Erfahrung spielte im Wahl-
kampf von 2015 keine Rolle, als Trudeau dem so
humor- wie lustlos, aber auch stabil und berechen-
bar wirkenden Premierminister Stephen Harper mit
einer rauschhaften Kampagne das Amt entriss.
Charisma und das Versprechen von Erneuerung
wirkten: Das vorgeblich Gute und Reine machte
Trudeau wählbar, machte ihn 2016 zum Gegen-
entwurf des neuen US-Präsidenten Donald Trump.
Erst in diesem Vergleich wurde Trudeau zu einem
Weltstar der Politik. »Why can’t he be our President?«,
fragte das Magazin Rolling Stone, »Warum kann er
nicht unser Präsident sein«, und die Politologen von
Yale und Harvard priesen das multilaterale Denken
des neuen Kanada.
Das alles war Trudeaus Erzählung, von ihm
entworfen, gezwungen hat ihn niemand. Gerade
deshalb wirken seine Fehler so absurd. Und ja,
natürlich wären sie zu vermeiden gewesen, mit
ein wenig Weitsicht schon, Instinkt, Klugheit.
Aber er machte sie alle – seine vier Fehler.
Es begann, wie so trostlos oft, mit einem ge-
brochenen Versprechen. Trudeau hatte, als er
noch nicht an der Macht war, angekündigt, das
Wahlrecht zu reformieren – ähnlich wie in den
USA ist es antiquiert, da nicht jede Stimme
gleich viel zählt. Als er an der Macht war, gab
Trudeau den Plan auf.
Anschließend kaufte der Staat die Trans Moun-
tain Pipeline, die die Berge von Alberta mit der
Küste von British Columbia verbindet. Trudeau,
selbst ernannter Klimakämpfer, wollte nun die Öl-
und Gasförderung ausweiten, der zweite Fehler.
Und weil Justin Trudeau danach auf die brutale
Art zwei Ministerinnen verlor, ist selbst vom Ruf
des Feministen und des integren Kämpfers gegen
Korruption wenig übrig. Die Justizministerin Jody
Wilson-Raybould, erste Ureinwohnerin in diesem
Amt, hatte wegen des Verdachts auf Bestechung
gegen den Baukonzern SNC-Lavalin ermitteln
wollen und, so sagt sie es, nicht ermitteln dürfen.
Weil Trudeau und sein Jungstrupp sie gebremst
hätten. Und eingeschüchtert. Trudeau bestreitet
diese Geschichte, und tatsächlich stand nur die
damalige Finanzministerin Jane Philpott zu Wilson-
Raybould. Beide Frauen aber traten zurück und
schwiegen nicht, weshalb Trudeau sie hochherr-
schaftlich aus der Partei ausschloss.


Ein Feminist?
Und wie ernst meint er es mit der Integrität?
Inzwischen steht fest, dass SNC-Lavalin der Fa-
milie des einstigen libyschen Revolutionsführers
Muammar al-Gaddafi wegen eines Brücken-
projektes in Bangladesch 160 Millionen Dollar
Bestechungsgelder zugeschoben hatte.
Und weil nun, viertens, das Magazin Time
enthüllte, dass Justin Trudeau sich vor vielen
Jahren, zweifelsfrei aber schon als Erwachsener
und sogar noch als Lehrer, dreimal und vermut-
lich öfter als Schwarzer angemalt und verkleidet
hatte, wird ihm Rassismus vorgehalten. »Black-
facing« und manchmal »brownfacing« heißt es in
Nordamerika, wenn Weiße sich ihr Gesicht dun-
kel anmalen – und es gilt heute und es galt auch
schon vor 20 Jahren als mindestens respektlos.
Einen mieseren Zeitpunkt für das Auftauchen
dieser Fotos und Filme von damals hätte der Pre-
mierminister sich nicht ausdenken können, denn
in wenigen Tagen, am 21. Oktober, wird gewählt.
Die vor einem Jahr unbesiegbar wirkenden Libera-
len Trudeaus und die Konservativen des neuen und
darum noch ziemlich unbekannten Spitzenkandi-
daten Andrew Scheer liegen in Umfragen gleichauf.
Anders als in den USA gibt es weitere Parteien: Die
Grünen und auch die Neuen Demokraten, beide
linksliberal, dürften ins Parlament kommen und
mutmaßlich wichtig werden. Jagmeet Singh, Vor-
sitzender der Neuen Demokratischen Partei, fragt:
»Welcher ist denn nun der wahre Mister Trudeau?«

Justin Trudeau konnte einst Dinge, die nur
wenige Menschen beherrschen

Trudeaus Leute wiederum fragen, wie gut der in
siegreichen Zeiten so euphorisch gerühmte In-
stinkt des Chefs im Regierungsleben nun tat-
sächlich ist: Warum hat er die Bilder nicht selbst
bekannt gemacht, zu einem ungefährlichen Zeit-
punkt, vor ein, zwei Jahren? Wie konnte er glau-
ben, dass er damit durchkommen würde?
Ist Justin Trudeau ein Spieler? Größenwahn-
sinnig? Ist es bloß Doppelmoral? Die eigenen
Leute zweifeln staunend.
Trudeau war vor vier Wochen in Toronto. Er
besuchte dort die Angehörigen der beiden Opfer
des Attentats vom Juli 2018. Er schwor, gegen
Kriegswaffen auf Kanadas Straßen vorzugehen. Die
Frage nach den Fotos kam. Er sagte, die Fotos täten
ihm leid, entschuldigte sich mehrfach, und er sagte,
seine privilegierte Herkunft habe ihm den Blick
verstellt für das Schicksal der Ureinwohner und der
Schwarzen. Er schürzte die Lippen, als er das sagte,
klang zögerlich, und suchend wirkte sein Blick.
Danach ging Trudeau per Bus auf Wahlkampf-
reise und machte das bemüht, aber zaghaft, lä-
chelnd, doch rhetorisch tastend, verwundet eben.
Die einzige Fernsehdebatte endete laut Umfragen
unentschieden. Jener Zauber jedenfalls, der Trudeau
weltpolitisch an die Seite Angela Merkels und Em-
manuel Macrons brachte und Kanada im Wettstreit
der Systeme zur strahlenden Demokratie erhob,
wirkt in Ottawa und dem Rest des Landes in diesen
Wochen kaum mehr. Lässt sich eine solche Kraft,
wenn sie erst verloren ist, zurückgewinnen?
Dieser Justin Trudeau, Sohn des ehemaligen
Premierministers Pierre Trudeau, konnte einst
Dinge, die nur wenige Menschen beherrschen; das
ist noch nicht lange her. Er bewegte sich angstfrei,
egal wo er gerade war, schwitzte nicht, zuckte nicht,
lächelte. Er gab seinem Gegenüber das Gefühl, nur
für sie oder ihn da zu sein. Für diesen Text war er
nicht zu sprechen, aber bei zwei Begegnungen zu-
vor, 2017 in Hamburg und 2016 in Davos, war
der Mann zugewandt, charmant, neugierig.
Er lachte ungebremst, auch über sich. Er sah aus,
wie eine Menge Männer gern aussähen: markant,

sportlich, mit vollem Haar. Lustige Socken trug er, in
Lila und/oder mit Totenköpfen, und die Hemdsärmel
schlug er hoch; die Krawatte lockerte er. Schon klar,
dass das meiste davon Äußerlichkeiten sind, aber
diese Gelassenheit, dieser Witz, das war die hohe Kunst
politischer Kommunikation.
Und dann sagte und tat er das Richtige. Die Hälfte
seines Kabinetts mit Frauen zu besetzen und dies mit
einem schon heute legendären feministischen Slogan
zu begründen (»Because it’s 2015.«) war taktisch brillant
und formte, wenn man den Berichten aus der roman-
tischen Anfangszeit glauben darf, eine zusammen-
haltende Regierungsmannschaft. Trudeau schien es mit
dem Klima- und Umweltschutz ernst zu meinen und
schloss trotzdem schlaue Handelsabkommen; er ließ
syrische Flüchtlinge ins Land und galt dennoch als
Patriot, der mittanzte, als die Toronto Raptors die
nordamerikanische Basketball-Meisterschaft nach
Kanada holten.
Gilt das alles noch? Gilt es nichts mehr?

Wie sich die Rassismus-Debatte am 21. Okto-
ber auswirken wird, ist nicht ausgemacht, noch
nicht. Denn nein, nicht jeder politische Fall ist ein
freier Fall, manche Politiker stehen wieder auf.

Politologen sagen voraus, dass der Skandal
ein Medienskandal bleiben werde

»Ich habe viele Menschen enttäuscht, die mich für
ihren Verbündeten hielten«, sagte Trudeau zunächst
in Toronto und dann auf diversen Stationen seiner
Busreise, und er versprach zu lernen. Natürlich, sein
Gegner Andrew Scheer erklärt Trudeau für »nicht ge-
eignet, eine Regierung zu führen«. Aber die eigenen
Reihen haben sich geschlossen: Der Verteidigungs-
minister Harjit Sajjan, der ein Sikh ist, schrieb, er
kenne »Justin, und ich weiß, dass diese Fotos nicht die
Person darstellen, die er heute ist«. Die Außenminis-
terin Chrystia Freeland, eine mögliche Nachfolgerin,
schwärmte von Trudeau und schwor Beistand.

Die Umfragen deuten zudem an, dass viele Men-
schen weniger über persönliche Fehler, sondern eher
über Wirtschafts- und Klimapolitik nachdenken und
darum eine nüchterne Wahlentscheidung treffen
werden. Politologen sagen voraus, dass der Skandal
ein Medienskandal bleiben und für die Wählerinnen
und Wähler (von denen in Kanada nur 3,5 Prozent
schwarz sind) eine wundersame politische Seifenoper
ohne bleibende Wirkung sein werde.
Für Kanada wird es wohl eine Richtungswahl
werden, denn die Konservativen möchten diverse Um-
welt- und Migrationsgesetze rückgängig machen; wie
progressiv oder womöglich ja doch konservativ ist das
Land? Für Justin Trudeau geht es in diesen letzten
Tagen vor der Wahl darum, ob er sich immerhin noch
als guter Krisenmanager erweist – und anschließend,
nach der Schadensbegrenzung, kann es vielleicht da-
rum gehen, ob er die eigene Heiligsprechung vergessen
und ein erwachsener, entscheidungsfroher liberaler
Politiker werden kann.

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