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ls mich die Nachrichten aus
Halle erreichten, war ich gerade
in Paris. Ich saß bei einer jüdi-
schen Freundin zu Hause. Es
war Jom Kippur, und ich brach
erst gar nicht zur Synagoge auf,
da ich davon ausging, dass man
sich auch in Paris, wie mittlerweile fast überall in
Europa, aus Sicherheitsgründen vorher anmelden
muss, wenn man als Nichtmitglied einer Gemein-
de in eine Synagoge zum Gebet will. Jüdische
Realität in Europa, 2019.
Als mich also die Nachrichten aus Halle erreich-
ten, war ich nicht überrascht. Warum auch? Seit
Jahren warnen wir Juden vor den Entwicklungen.
Und niemand hört uns zu. Wir warnen davor, dass
Antisemitismus längst wieder salonfähig geworden
ist, aber nur wenige glauben uns. Im Gegenteil, wir
werden dann gern als »überempfindlich« abgewertet.
Doch Nichtjuden wollen selten einsehen, dass nur
wir wirklich wissen, wie sich das Leben als Jude in
Deutschland anfühlt. Wir hören die antijüdischen
Äußerungen in unserem Alltag, wir erleben die zu-
nächst schleichende, inzwischen galoppierende Ver-
schärfung der Lage hautnah. Auf der Straße »drau-
ßen«, aber auch im privaten Umfeld und im Beruf.
Überall. Die Schamlosigkeit hat sich breitgemacht.
Nicht nur bei Rechtsextremen und Neo nazis, nicht
nur bei rassistischen Linken, die in ihrem Hass auf
Israel gerne antisemitische Klischees benutzen und
nicht merken, dass sie keinen Deut besser sind als ihre
NS-Vorfahren, von denen sie sich doch so gern un-
terscheiden möchten.
Der Antisemitismus ist längst wieder in der Mit-
te der Gesellschaft, nein, nicht »angekommen«, denn
er war ja nie weg: Er ist einfach wieder hervorgekro-
chen aus seinen Löchern, er ist überall präsent, und
wir sehen, lesen und hören ihn, egal, ob es sich um
antisemitische Karikaturen, Klischeefotos oder Ver-
schwörungstheorien in renommierten deutschen
Tageszeitungen handelt, egal, ob in gepflegten Krei-
sen über die »Allmacht der jüdischen Lobby« oder
über unseren »unendlichen Reichtum« fantasiert
wird. Wir sind »die unbekannte Welt nebenan«, wie
der Spiegel unlängst titelte, also auf keinen Fall Teil
der deutschen Gesellschaft.
Man muss kein Jude sein, um zu wissen,
was sich in Deutschland zusammenbraut
Bildungsbürger, Intellektuelle, Lehrer, die sich
gern für vorurteilsfrei halten, glauben und reden
denselben Unsinn wie der Attentäter von Halle.
Lediglich sprachlich etwas gewählter und nicht
mit der Absicht, am nächsten Tag loszuziehen und
Juden in einer Synagoge oder sonst wo zu ermor-
den. Aber sie tun es inzwischen wieder laut und
ohne Bedenken. Ob im Großraumwagen der
Deutschen Bahn, in einem Restaurant oder in ei-
nem Buchladen. Und nur selten schreitet jemand
ein, macht den Mund auf, sagt etwas. Ich habe das
in den letzten Monaten und Jahren immer öfter
erleben müssen.
So etwa, als ein elegant gekleideter Herr in
einem vornehmen Münchner Lokal seinen
Freunden erzählte, »die Juden« seien seinerzeit
zu Goethe gekommen, weil er angeblich etwas
Judenfeindliches im Faust schreiben wollte, und
hätten ihm gedroht: »Denn die Juden – das steht
schon in ihrer Bibel – verfolgen einen bis in die
- Generation.« Woher »die Juden« überhaupt
wussten, dass Goethe gerade an seinem Faust ar-
beitete und was er genau schreiben wollte, blieb
freilich das Geheimnis des offensichtlich hoch-
gebildeten Herrn.
Als ich mich vor zweieinhalb Jahren entschied,
unter anderem auch wegen des wachsenden Anti-
semitismus nach Israel zu ziehen, waren viele mei-
ner nichtjüdischen Freunde entsetzt, hielten meine
Entscheidung für überzogen. Ja, natürlich, es gebe
Antisemitismus, das stritt niemand ab, aber so
schlimm sei es ja nicht. Nur, wie schlimm muss es
denn sein? Wie viele Juden müssen angegriffen,
geprügelt oder gar getötet werden, damit die
Mehrheitsgesellschaft endlich begreift? 6 Juden?
600, 6000 oder gar: 6 Millionen?
Das große Problem in Deutschland ist, dass
»Auschwitz« zur Messlatte für Judenhass ge-
macht wurde. Alles, was »weniger schlimm« als
Auschwitz ist, konnte jahrzehntelang sozusagen
unten durchspazieren. Das »Wehret den Anfän-
gen«, das »Nie wieder!« ist längst zur Phrase ge-
worden bei all den Gedenkveranstaltungen, die
nur noch starres Staatsritual sind und nichts,
aber auch gar nichts mit der gesellschaftlichen
Realität zu tun haben. Die Gemeinplätze, die in
solchen Reden von Politikern jeder Couleur ab-
gelassen werden, stammen alle aus demselben
Sprachbausteinkasten. Leeres Geschwätz. Denn
es sind längst keine »Alarmzeichen« mehr, wie
die Vorsitzende der CDU selbst noch nach dem
Attentat von Halle meinte. Wir sind bereits
»mittendrin«.
Als mich die Nachrichten aus Halle in Paris
erreichten, war ich also nicht überrascht. Aber Wut
packte mich. Nackte Wut. Nein, nicht nur auf den
Attentäter. Sondern auf das, was nun unweigerlich
folgen würde. Und folgte. Diese lächerlichen Mahn-
wachen vor Synagogen, teils mit Kirchengesängen
(!), das öffentliche Entsetzen oder besser: die deutsche
»Betroffenheit«, der schlagartig einsetzende Aktio-
nismus der Politiker, die – man staune! – auf einmal
zu begreifen scheinen, dass es ein Problem gibt mit
dem Antisemitismus in Deutschland.
Und dann erwischte mich nach der Wut, nach
der wahnsinnigen Wut, die Langeweile. Ja, wirk-
lich: Langeweile. Denn wir Juden kennen das alles
doch schon. So war es immer in der Bundesrepu-
blik. Es geschieht etwas, alle sind betroffen, ein
paar Menschenketten, bei denen sich alle wohl-
fühlen können, alle versprechen, es werde »nun
wirklich« etwas getan – und dann geschieht wieder
nichts. Nun mögen Sicherheitsexperten sofort ein-
wenden, es sei schon viel getan worden. Doch
selbst wenn, es ist ganz offensichtlich nicht genug.
Vom Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge
1994 bis nun zu Halle – die deutsche Gesellschaft
will nicht in den Spiegel schauen. Niemand will
hingucken und womöglich den kleinen Antisemi-
ten in sich entdecken. Man hat ja aus der Ge-
schichte gelernt.
Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen,
um sich nicht weiter demütigen zu lassen?
Man muss wahrlich kein Jude sein, um zu wis-
sen, was sich seit Jahren in Deutschland zusam-
menbraut. Nicht erst seit dem NSU-Skandal
könnten wir wissen, dass sich rechte Zellen auch
bei den Nachrichtendiensten, der Polizei und
anderen staatlichen Organisationen breitma-
chen. Dass Antisemiten und Rassisten im Netz
aktiv sind, sich international verbinden. Dass es
sie sogar in den eta blier ten Parteien gibt, nicht
nur bei der AfD.
Ich empfinde Langeweile, weil ich darüber
schon jahrzehntelang schreibe. Immer und immer
wieder. Nach jedem neuen Attentat, nach jedem
neuen Anschlag, nach jedem neuen antisemiti-
schen Skandal.
Als ich jung war, glaubte ich noch an die Kraft
der Worte, an die Kraft der Aufklärung. Heute
habe ich Zweifel. Ich sehe ja, dass es schlimmer
wird. Und ich muss deswegen leider froh sein,
inzwischen meinen Wohnsitz in Tel Aviv zu haben.
Zumindest für den Moment. Aber bin ich wirk-
lich froh darüber?
Deutschland, wo ich geboren und aufgewach-
sen bin, wäre eigentlich meine Heimat. Aber ich
musste leider schmerzhaft einsehen, dass mein
Heimatland immer noch nicht begriffen hat, dass
»deutsch zu sein« nichts mehr mit ethnischen Zu-
gehörigkeiten zu tun hat. Und wie kann Deutsch-
land meine Heimat sein, wenn es »seine« Juden
plötzlich als Minderheit gegen eine andere Min-
derheit missbraucht? Wenn selbst seriöse Politiker
von einer »judäo-christlichen« Kultur schwafeln,
die es so nie gegeben hat? Es gab eine christliche
Kultur, die uns Juden Tausende von Jahren ver-
folgt, verbrannt, ermordet, vergast hat. Sonst
nichts. »Judäo-christlich«, das bedeutet nicht, dass
Juden nun dazugehören, es heißt vielmehr: Der
Islam gehört nicht zu Deutschland. Mit dieser
scheinbaren Verbrüderung wird uns Juden sehr
deutlich gemacht, dass eben auch wir nicht wirk-
lich dazugehören. Eine Minderheit wird gegen
eine andere ausgespielt.
Es sind diese Verlogenheiten, diese Lügen, dieses
Verleugnen von Realitäten, die dazu führen, dass sich
die »Ränder« bestätigt fühlen, weil sie genau wissen,
dass auch in der Mitte der Gesellschaft dasselbe Ge-
dankengut existiert.
Aber es gibt sie natürlich, die Deutschen, die
ethnischen Deutschen, die tatsächlich wollen, dass
es jüdisches Leben in Deutschland gibt. Doch sie
vermögen nur wenig auszurichten. Denn das ei-
gentliche Problem liegt im politischen Konzept
der Bundesrepublik Deutschland. Für den Staat
haben wir Juden seit Jahrzehnten nur eine Funk-
tion gehabt: Wir waren und sind der Persilschein
für die alte westdeutsche Republik genauso wie
für das wiedervereinigte Land. Der Beweis, dass
Deutschland nichts mehr mit der NS-Zeit zu tun
hat. Dass es zu Recht in das westliche Bündnis
eingegliedert wurde.
Das ist die bittere Erkenntnis, der wir Juden in
Deutschland uns stellen müssen. Wir sind nur ein
Alibi. Was also muss noch passieren, bis auch wir
begreifen: Es reicht?
Als ich vor zwei Jahren nach Israel ging, benei-
deten mich viele jüdische Freunde. Sie sagten mir,
ich hätte recht, am liebsten würden sie auch ge-
hen, doch ihre Lebensumstände ließen es nicht
zu, noch nicht. Die Frage, die wir uns stellen müs-
sen, ist, wann der richtige Zeitpunkt gekommen
ist, sich nicht länger demütigen zu lassen. Ist er
jetzt gekommen, da man sich als Jude in Deutsch-
land inzwischen seines Lebens nicht mehr sicher
sein kann? Oder kommt er erst beim nächsten
Attentat auf eine Synagoge, wenn es tatsächlich
50, 60 oder 70 jüdische Tote im Post-Holocaust-
Deutschland gibt? Mehr als 70 Prozent der Juden
in Deutschland tragen in der Öffentlichkeit keine
jüdischen Symbole mehr, weil sie Angst haben.
Bei meinem Umzug nach Israel wurde mir na-
türlich der Vorwurf gemacht, ich würde das Feld
»kampflos« räumen, damit würde »Hitler gewin-
nen«. Deutschland dürfe nicht judenrein werden.
Warum eigentlich nicht?
Nein, ich habe nicht mit Deutschland gebrochen,
das kann und will ich gar nicht, dazu bin ich viel zu
sehr mit diesem Land verbunden. Aber ich will als
Jude in meinem Alltag frei leben und atmen können.
Es gab Zeiten, da hatte ich geglaubt, das sei möglich
in Deutschland. Es war möglich. Heute ist es nicht
mehr möglich. Ob das so bleibt, daran wird sich die
Mehrheitsgesellschaft messen lassen müssen.
Das Schlimmste, was passieren könnte? Dass
tatsächlich alle Juden Deutschland verlassen. Und
was dann geschähe? Nichts. Es würde gar nicht
auffallen. Aber die Deutschen, die blieben, hätten
dann ein Problem mit ihrem Land, mit ihren
Politikern, mit ihrer Gesellschaft.
Über das Attentat in Halle lesen Sie auch im Dossier,
ab Seite 17: Verschont und doch getroffen
A http://www.zeit.deeaudio
2 POLITIK 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43
»Alle sind betroffen.«
In Halle erinnern Kerzen
an den Angriff auf die
Synagoge und zwei Tote
Immer dasselbe: Erst werden Juden attackiert,
dann wird getrauert – spart euch eure Rituale!
RICHARD C. SCHNEIDER erklärt, warum er als
Jude nicht mehr in Deutschland leben will
»Diese
lächerlichen
Mahnwachen
vor Sy nagogen«
Richard C. Schneider, 62, ist Autor
und Dokumentarfilmer.
Bis 2017 arbeitete er als
ARD-Korrespondent in Tel Aviv
und Rom
Fotos: Uwe Steinert/imago (l.); Paula Winkler für DIE ZEIT (r.)