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ie versetzt man im Herbst
2019 einen Saal mit etwa
1000 jungen Menschen,
überwiegend männlich,
überwiegend konservativ,
in Ekstase? Ganz leicht:
Man erklärt ihnen zuerst,
dass »wir nicht in Berlin-Mitte bei veganem Chai
Latte philosophieren«, was insofern logisch ist, als
der Parteitag der Jungen Union am vergangenen
Wochenende zum einen in Saarbrücken stattfand
und dieser zum anderen ohnehin nicht fürs Philo-
sophieren bekannt ist. Anschließend ruft man: »Es
soll auch noch Leute geben, die im Sommer in den
Sommerurlaub nach Malle fliegen.« Man muss
wissen, dass auf einem Parteitag die maximale Ge-
fühlsregung üblicherweise rhythmisches Klatschen
ist, um zu erkennen, welche emotionale Wucht der
JU-Chef Tilman Kuban mit diesen Worten erzeug-
te. Denn plötzlich begannen die Delegierten hun-
dertfach, nun ja, zu singen: »Aber scheiß drauf!
Malle ist nur einmal im Jahr.«
Es müssen verrückte Zeiten sein, in denen eine
Ballermann-Hymne zum Kampflied wird, Peter
Wackel zum Widerstandsdichter und eine Ferien-
insel zum konservativen Utopia. Dort, wo der Ur-
laub noch unschuldig ist, wo sich diejenigen erho-
len, »die hart arbeiten, aber zum Lachen nicht in
den Keller gehen« (Tilman Kuban).
Oder um es mit dem JU-Aphoristiker Tommy
Gerhardt zu sagen: »Endlich normale Leute!«
Die politische Wirkung von Tilman Kubans
Appell und der Begeisterung seiner Jungunionisten
erschließt sich allerdings erst, wenn man sie als Teil
einer neuen, überraschenden und ganz und gar
unwahrscheinlichen Bewegung betrachtet: einer
ganz großen Koalition für die »kleinen Leute«.
Da ist Christian Lindner (FDP!), der sich Sor-
gen macht über die »soziale Spaltung« im Land und
der verhindern will, dass die »gut Betuchten« noch
besser gestellt würden.
Da ist Markus Söder (CSU), der gegen eine
»kosmopolitische Elite« wettert.
Da ist Alexander Dobrindt (CSU), der feststellt:
»Erderhitzung bekämpft man nicht mit sozialer
Kälte.«
Da ist die Welt, die sich ärgert über »Piesackerei«
der »Geringverdiener«, die der politischen Elite
dieses Landes offenbar »egal« seien.
Plötzlich sind die sogenannten kleinen Leute
geradezu umzingelt von neuen Freunden.
Diese Zeitenwende gebiert eigentümliche Ge-
schöpfe. Liberale Individualisten, die sich um den
Zusammenhalt sorgen, elitebewusste Konservati-
ve, die ihrerseits die Elitenkritik entdecken. Und
eine bürgerliche Politik, die plötzlich ganz altlinks
die Gesellschaft als Klassengesellschaft beschreibt.
Mit dem Mittelstand hat es sich ganz offenbar
ausnivelliert. Stattdessen ist die Rede von Gegen-
sätzen, die so schroff zu sein scheinen, dass man
sich fragt, wie sie so lange übersehen werden
konnten.
Politik in Zeiten des Klimawandels, das bedeu-
tet: verkehrte Fronten, neue Allianzen und flirrende
Begriffe. Und wo derart viel durcheinanderzu-
geraten scheint, hilft es, mit der alten Ordnung zu
beginnen, um die neue zu verstehen, sich der Öko-
logie also über die Ökonomie zu nähern.
Denn auf dem Felde der Wirtschaft scheint
selbstverständlich zu sein, was in der Ökologie an-
geblich nicht sein darf. Dass es Sachzwänge gibt,
zum Beispiel, und objektive Tatbestände, die man
nicht hintergehen kann. Und dass individuelles
Verhalten an moralischen Standards gemessen
wird. Affektkontrolle, Sparsamkeit, Eigenverant-
wortung, gar Verzicht (»den Gürtel enger schnal-
len«). Aus der bürgerlichen Leistungsethik ergeben
sich die ökonomischen Verhaltensnormen, und die
gilt es von jeher insbesondere gegen jene durchzu-
setzen, die das Bürgertum im Verdacht hat, zu einer
rationalen Lebensführung nicht recht in der Lage
zu sein. Man könnte sie die kleinen Leute nennen.
In der ökonomischen Krisenstimmung der Nuller-
jahre sah Paul Nolte in der ZEIT eine »Verwahrlo-
sung« der unteren Schichten. Der Vordenker einer
»neuen Bürgerlichkeit« forderte die »Vermittlung
kultureller Leitbilder und Normen« gegen das »Kon-
sumdreieck aus Tabak, Alkohol und Lottospiel«.
Kurzum: »Nicht Armut ist das Hauptproblem der
Unterschicht. Sondern der massenhafte Konsum von
Fast Food und TV.« Für Wirtschaftsminister Wolf-
gang Clement waren solche Leute seinerzeit schlicht
»Parasiten«. Sein Genosse Thilo Sarrazin, damals
Finanzsenator in Berlin, erklärte, es gebe einen »pro-
duktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben
und gebraucht werden«. Dem gegenüber stehe ein
Teil von etwa »zwanzig Prozent der Bevölkerung, der
ökonomisch nicht gebraucht wird«. Dieser Teil, so
Sarrazin, »muss sich auswachsen«.
Auch wenn man das zeittypisch neoliberale
Schnarren abzieht, ist leicht zu erkennen: In der
Krise werden die kleinen Leute angeraunzt, gemaß-
regelt, mit gebieterischen Appellen zur Ordnung
gerufen, schließlich drohte man ihnen per Agenda
2010 auch ganz handfest mit dem Absturz in die
Armut, wenn sie sich nicht am Riemen rissen.
Und auch im ökonomischen Normalbetrieb
lässt sich nicht so recht behaupten, dass die kleinen
oder auch nur die mittelgroßen Leute das Ziel jener
Kräfte wären, die sich ihnen nun so verbunden
fühlen. Einige Beispiele aus den letzten Monaten:
Als die Paketboten für bessere Arbeitsbedingun-
gen stritten, hieß es aus der CDU, jetzt sei »nicht
die Zeit für neue Belastungen für die Wirtschaft«.
Ein höherer Mindestlohn war, natürlich, eine »Ge-
fahr für den Wirtschaftsstandort«. Und als in Ber-
lin der Protest gegen die steigenden Mieten lauter
wurde, reagierte die FDP mit der Forderung, das
Grundgesetz zu ändern, um den »Respekt vor dem
Eigentum« zu stärken.
Das alles ist weder verwunderlich noch ver-
werflich. Es ist bloß ein bisschen erstaunlich, wie
sehr die bürgerlichen Kräfte ihrer Bürgerlichkeit
entfliehen wollen, wenn es nicht um die Wirt-
schaft, sondern um die Umwelt geht. Sparsam-
keit ist hier Unfreiheit, Mäßigung ist Gängelung,
und Selbstdisziplinierung klingt wie die Vorstufe
zur Ökodiktatur. Die schwäbische Hausfrau
stünde, wenn es um den CO₂- statt um den
Geldverbrauch ginge, vermutlich unter dringen-
dem Hypermoralverdacht.
Zwischen der ökonomischen Krise der Nuller-
jahre und der ökologischen Krise dieses Jahr-
zehnts vollzieht die Politik eine Schubumkehr:
Gerade noch hat man die kleinen Leute belehrt,
nun will man sie vor Belehrung schützen. Gerade
noch blickten die bürgerlichen Schichten stirn-
runzelnd auf die andere Seite des Abituräquators,
schon wird das Konsumdreieck aus Schnitzel,
Mallorca und Auto zur neuen Präambel des
Grundgesetzes erklärt.
Politik für die kleinen Leute also. Was davon in
der Wirklichkeit übrig bleibt, zeigte das Klimapaket
der Bundesregierung:
Es gibt eine höhere Pendlerpauschale, von der
die kleinen Leute wenig haben, da sie kaum Steu-
ern bezahlen, auch wenn die Regierung nun nach-
bessern will.
Es gibt Subventionen für Elektroautos, die sich
die kleinen Leute auf absehbare Zeit nicht werden
leisten können.
Es gibt Prämien für neue moderne Heizungen,
für die man allerdings erst einmal Haus- oder Woh-
nungsbesitzer sein muss.
Der Strompreis sinkt minimal – für die großen
Einkommen genauso wie für die kleinen.
Dass eine derartige Politik beinahe unwider-
sprochen bleibt, verweist auf ein tiefer liegendes
Missverständnis. Seit einigen Jahren ist es Mode,
Konflikte in erster Linie als Kulturkonflikte zu be-
greifen. In der hierzulande wohl einflussreichsten
Gesellschaftsdiagnose der letzten Jahre beschrieb
der Soziologe Andreas Reckwitz eine neue Klassen-
spaltung, die allerdings nicht in erster Linie mate-
riell, sondern kulturell erzeugt sei: Dem Sicher-
heits- und Strukturbedürfnis der alten industriellen
Mittelklasse stehe der Authentizitäts- und Selbst-
verwirklichungsdrang urban-liberaler neuer Mittel-
schichten gegenüber. Es seien die Lebensstile, die
Gegensätze konstruierten.
In der Ökologie lässt sich allerdings erkennen,
wie verkorkst die Sache mit dem Lebensstil sein
kann. Denn tatsächlich sind es die Konsum-
gewohnheiten der Reichen (Vielfliegen, große Au-
tos und so weiter), die Bedingungen erzeugen, un-
ter denen, global und national, zuerst die Armen zu
leiden haben. In der Bundesrepublik produziert das
obere Einkommenszehntel im Vergleich zum unte-
ren Zehntel die dreifache Menge an CO₂. Weltweit
sind die oberen Zehnprozent sogar für beinahe die
Hälfte der konsumbedingten CO₂-Emissionen
verantwortlich. Die untere Hälfte für ganze zehn.
Dies ist eine überaus simple und gut erforschte
Erkenntnis, die, zu Ende gedacht, derart grund-
stürzende Implikationen mit sich bringt, dass es
lieber niemand tut. Denn hier lagert unter der
Oberfläche die sozialistische Seite der Klimakrise.
Stattdessen wird der materielle Lebensstil-
konflikt mit einer Rhetorik des Kulturkampfs ent-
materialisiert. »Vegane Radfahrer« (Christian Lind-
ner) und eine »kosmopolitische Elite« (Markus
Söder) werden hier zu den Feinden der »normalen
Leute«, die sie belehren und bevormunden wollen
und am Ende mit eiferndem »Jakobinismus«
(Annegret Kramp-Karrenbauer) womöglich schnit-
zeltechnisch enteignen. In diesem verdrehten Klas-
senkonflikt veredelt die ökonomische Ungleichheit
am Ende die ökologische Untätigkeit. Schließlich
tut man ja alles nur für die kleinen Leute.
Doch die Inszenierung würde nur halb so gut
gelingen ohne die tragende Nebenrolle der Sozial-
demokraten. Denn die haben, einerseits, ebenfalls
ein Interesse an den kleinen Leuten und, anderer-
seits, durch deren jahrzehntelange Nichtbeachtung
gewisse Schwierigkeiten, die verteilungspolitischen
Effekte der Ökologie für eine ernsthaft sozialdemo-
kratische Politik zu nutzen.
Natürlich hätte die SPD nicht nur einen höhe-
ren CO₂-Preis, sondern zugleich deutlich steigende
(Mindest-)Löhne fordern können, um auch den
unteren Einkommensklassen einen Zugang zum
ökologisch reformierten Konsum zu öffnen. Sie
hätte für eine umfassende grüne Investitions- und
Infrastrukturpolitik werben können, für eine Auf-
wertung sozialer Dienstleistungsberufe als Teil ei-
nes Programms für gute und nachhaltige Arbeit.
Die SPD hätte, kurzum, den Gedanken wagen
können, dass Ungleichheit und Umweltzerstörung
einander bedingen und entsprechend gemeinsam
zu bekämpfen sind. Doch wäre eine derart sozial-
ökologische Denkrichtung dem Wähler einigerma-
ßen schwer zu vermitteln, wenn man ihm gerade
noch erklärt hat, dass es »das Soziale« gegen »das
Ökologische« zu verteidigen gelte.
So bleibt es die eigentliche Leistung der Sozial-
demokraten, dem materiellen Konflikt durch ihr
Mitregieren seine Spitze genommen zu haben.
Zum einen mit Sozialpolitik, vor allem aber mittels
Psychologie.
Wenn, wie vor einigen Tagen, bekannt wird,
dass die Ungleichheit in Deutschland auf einem
Rekordniveau liegt, dass zudem die kleinen Ein-
kommen im Wirtschaftsboom der letzten Jahre
nicht gestiegen, sondern real gesunken sind, dann
wird das konzentriert beschwiegen. Denn ein
Land, das in den vergangenen zwanzig Jahren mit
kurzer Ausnahme teilsozialdemokratisch regiert
wurde, darf schließlich kein ungerechtes sein.
Dies ist die politisch-psychologische Situation,
die den Kleine-Leute-Konservatismus gedeihen
lässt: Von der Emanzipation, der Ermächtigung
und Ermutigung, die lange Zeit mit der Partei-
nahme für die kleinen Leute verbunden war, traut
sich heute niemand mehr zu sprechen. Dass alles
bleibt, wie es ist, scheint das höchste aller Gefühle
zu sein. Und der Feind des Status quo sind die An-
maßungen der Ökologie.
Die Frage ist, wie lange das Wechselspiel zwi-
schen Affirmation und Achselzucken gegenüber
den kleinen Leuten gut geht. Wie lange lässt sich
glaubhaft versichern, dass man soziale Härten in
der Ökologie unbedingt verhindern will, sie aber in
der Ökonomie leider, leider in Kauf nehmen muss?
Es lohnt in diesem Fall, sich für einen Moment
an die USA zu erinnern. Denn dort hat der Kon-
servatismus jene Methode radikalisiert, die hier ge-
rade in ihren Grundzügen zu erkennen ist: Vor je-
der Wahl mobilisierte man die »einfachen Leute«
gegen »Washington« und die »Ostküsten-Elite«,
sorgte aber gleichzeitig in der Wirtschafts- und So-
zialpolitik dafür, dass die Abgehängten abgehängt
blieben. Es war ein Bündnis ohne ökonomische
Basis, geschmiedet durch kulturelles Ressentiment,
das immer weiter gesteigert werden musste, um als
Kitt zu taugen. Das Ergebnis ist bekannt.
Noch spricht wenig dafür, dass hierzulande
Vergleichbares droht. Doch wenn die Koalitions-
beschlüsse nicht ausreichen, um die Klimaschutz-
ziele zu erreichen (wonach es aussieht), und
schließlich weiter reichende Maßnahmen getroffen
werden müssten (was wahrscheinlich ist), dann
würde man sich wünschen, dass allen Parteien
mehr einfällt, als die Klimawende auf dem Rücken
der weniger Wohlhabenden auszutragen.
Denn eines ist in der Ökologiedebatte immer
klarer zu erkennen: Wer von den kleinen Leuten
redet, der will allzu oft nur die großen Leute
schützen.
- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 POLITIK 3
Illustrationen: Eglé Plytnikaitè (für DIE ZEIT, u.)
Sieh an: Der kleine Mann!
Wie die einkommensschwachen Milieus in der Debatte um den Klimaschutz missbraucht werden VON ROBERT PAUSCH
Ökonomie darf
schon mal wehtun.
Aber Ökologie?
Auf keinen Fall