Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1
DIE ZEIT: Herr Woller, eigentlich sind unter ande-
rem Diktatoren Ihr Spezialgebiet, nicht Torjäger. Wie
kommt man als Historiker von Mussolini zu Müller?
Hans Woller: Ich habe mich 30 Jahre lang mit der ita-
lienischen Geschichte im 20. Jahrhundert beschäftigt,
besonders mit dem italienischen Faschismus und mit
Mussolini. Und dann noch ziemlich intensiv mit der
bayerischen Geschichte nach 1945. Ich hatte das
dringende Bedürfnis, etwas anderes zu machen, die
alten Bahnen zu verlassen. Und da meine Leiden-
schaft Fußball ist, dachte ich: Warum nicht Fußball?
ZEIT: Weshalb haben Sie Gerd Müller als zentrale
Figur ausgewählt?
Woller: Ich kann Ihnen darauf nur eine persönliche
Antwort geben. Ich empfinde zu Gerd Müller eine
gewisse Seelenverwandtschaft, und die hat nichts mit
Fußball zu tun, sondern damit, dass ich auch so eine
Art sozialer Aufsteiger bin. Ich kenne die Verhältnisse,
aus denen Gerd Müller stammt, sehr genau. Bei uns
zu Hause gab es kein Buch und keinerlei intellektuel-
le Anregungen, ich bin sozusagen wild aufgewachsen,
wie die Brennnessel, und das war bei Gerd Müller so
ähnlich. Gerd Müller ist natürlich in ganz andere
Sphären aufgestiegen als ich, aber ich weiß schon, was
es bedeutet, aus ärmlicher Herkunft plötzlich in aka-
demische Kreise zu kommen, die einen völlig anderen
Hintergrund haben und schon mal was von Beetho-
ven gehört haben und von Thomas Mann. Ich weiß,
wie es einem Menschen als sozialem Aufsteiger geht.
Seine Geschichte hat mich angezogen.
ZEIT: Mit welcher Fragestellung sind Sie an die Ar-
beit gegangen?

Woller: Ich wollte die Sozialgeschichte eines Fußball-
spielers schildern, eines Spielers, der von ganz unten
kam und dann ganz groß wird und dann ganz große
Probleme bekommt. Und ich wollte ihn fußballerisch
rehabilitieren, wollte zeigen, dass Müller mehr als ein
Abstauber war, als einer, der immer an der richtigen
Stelle stand. Gerd Müller war ein genialer Fußballer,
er konnte wie kaum ein anderer das Spiel lesen, Spiel-
züge einleiten und taktisch denken.
ZEIT: Hatten Sie eine Ahnung, dass aus dieser Re-
cherche am Ende auch eine Kriminalgeschichte wer-
den würde?
Woller: Überhaupt nicht. Ich hatte von diesem Polit-
Sumpf, auf den ich gestoßen bin, überhaupt keine
Vor stellung. Ich wollte an dieser Figur beschreiben,
wie sich der Sport verändert hat, mit den Themen
Geld, Medien, Medizin. Und dann bin ich durch eine
Reihe von Zufällen mitten im bayerischen Amigo-
System gelandet.
ZEIT: Gab es dabei ein Schlüsselerlebnis?
Woller: Ja, das gab es. Ich bin durch einen Zufall auf
den Nachlass eines hohen bayerischen Beamten ge-
stoßen, Rainer Keßler, jahrelang Leiter der Bayerischen
Staatskanzlei. In diesem Nachlass, der im Hauptstaats-
archiv in München liegt, befindet sich ein Briefwechsel
mit dem langjährigen Präsidenten des FC Bayern
München, Wilhelm Neudecker. Und als ich den gele-
sen hatte, war mir klar, dass ich eine wirklich belast-
bare Quelle habe für Schwarzgeldzahlungen und gene-
rell für die hochproblematische Einmischung der Poli-
tik in die Geschichte des FC Bayern. Auf eine solche
Quelle zu stoßen, das ist schon ein erotischer Moment.
ZEIT: Können Sie ein Beispiel erzählen, was in diesem
Briefwechsel steht?

Woller: Da schreibt Neudecker in einem Brief an
Keßler vom 28. März 1980 zum Beispiel über seinen
Besuch im Bayerischen Finanzministerium, wie der
zuständige Minister ihm und dem damaligen Bayern-
Geschäftsführer Walter Fembeck erklärt, wie sie ihre
finanziellen Probleme lösen könnten. Sie hatten Pro-
bleme, weil Franz Beckenbauer damals den Verein
verlassen wollte. Der Finanzminister sagte, sie sollen
Beckenbauer alles bezahlen, was er will – und finan-
zieren mögen sie das doch mit den Einnahmen, die sie
im Ausland für ihre Freundschaftsspiele kassieren,
Schwarzgeld also.
ZEIT: Das war Anleitung zum Steuerbetrug, mit
freundlicher Empfehlung des Finanzministeriums.
Woller: So ist es: von höchster Stelle. Daher konnten
die Bayern davon ausgehen, dass die Finanzbehörden
niemals suchen, geschweige denn ermitteln würden.
ZEIT: Nun ist so ein Briefwechsel natürlich eine be-
lastbare Quelle, die aber allein all Ihre Schilderungen
und Thesen nicht stützen kann.
Woller: Der Fund im Archiv war tatsächlich nur der
Anfang. Über den Besuch im Ministerium hat Präsi-
dent Neudecker auch in seinen Memoiren geschrieben.
ZEIT: Wie außerordentlich fahrlässig.
Woller: In der Tat, vielleicht ist das ein Grund, warum
sie nie veröffentlicht wurden.
ZEIT: Wie haben Sie das Manuskript trotzdem ge-
funden?
Woller: Ausgerechnet in der »Erlebniswelt«, dem offi-
ziellen Museum des FC Bayern in der Allianz-Arena,
dort liegt eines von wenigen Exemplaren. Dieses Buch
hat es in sich: Neudecker beschreibt ausführlich die
diversen Verwicklungen der Politik und des FC Bayern.
ZEIT: Historischer Sprengstoff mitten im Bayern-
Museum?
Woller: Na, Sprengstoff ist vielleicht zu viel gesagt,
aber es ist ohne Zweifel ein für die Geschichte des FC
Bayern brisantes Dokument. Ich habe den Eindruck,
dass außer mir dieses Buch auch im Verein niemand
gelesen hat. Es gibt ja vermutlich noch einen großen
Nachlass von Wilhelm Neudecker, an den wollte ich
unbedingt rankommen. Aber über den wacht ein
Enkel von ihm. Ich habe mit ihm gesprochen, aber
am Ende hat er nicht mehr auf meine Briefe reagiert.
Schade. Eine Biografie über Neudecker wäre eine
interessante Sache.
ZEIT: Neudecker war bis 1970 noch Mitglied der
SPD, doch dann suchte er mit dem FC Bayern rasch
die Nähe zur CSU. Sie schreiben, Herr Woller, dass er
vor dem Misstrauensvotum gegen Willy Brandt alles
tat, um den SPD-Bundestagsabgeordneten Günther
Müller, der im Verwaltungsrat des FC Bayern saß,
umzudrehen und ihn ins schwarze Lager zu holen.
Woller: Ja, so hat es Neudecker dem Staatskanzlei-
Chef Keßler geschrieben.
ZEIT: Was hat diese atemberaubende Geschichte mit
dem FC Bayern und Gerd Müller zu tun?
Woller: Die Bayern haben verstanden, dass die CSU
für den Verein maximal wertvoll sein könnte und an-
dersherum. Franz Beckenbauer sagte, der Kanzler
Willy Brandt sei ein »nationales Unglück«. Uli Hoe-
neß lud Franz Josef Strauß zu seiner kirchlichen
Hochzeit ein, danach hielt Strauß in einem Club spät-
nachts eine launige Rede. Die wesentliche Figur war
aber Finanzminister Ludwig Huber, der spätere Chef
der Bayerischen Landesbank. Ein enger Mitarbeiter
von Huber war zeitweise Manager von Gerd Müller.
War schon alles ziemlich irre. Huber kümmerte sich
ganz besonders um den Verein und seine Spieler mit
Ratschlägen jeder Art.
ZEIT: Zum Beispiel?
Woller: Es gab einen Steuerskandal von Gerd Müller,
Ende der Siebzigerjahre, der bislang völlig unbekannt
war. Es ging um Millionen. Es wurde alles unter der
Decke gehalten. Soweit ich weiß, gab es keine Strafe
für Müller. Er musste nur sehr viel Geld nachversteu-
ern, was ihn damals an den Rand des Ruins brachte.
Es würde mich wundern, wenn Huber da nicht auch
involviert gewesen wäre. Ich hätte gern mehr darüber
erfahren, aber das Bayerische Finanzministerium
lehnte meinen Antrag auf Akteneinsicht, den das
Hauptstaatsarchiv unterstützte, ab mit dem Hinweis
auf das Steuergeheimnis. Das heißt nichts anderes, als
dass ein Verein beziehungsweise eine Person, die einen
Haufen Steuern hinterzogen hat, auch jetzt noch vom
Bayerischen Finanzministerium geschützt wird.
ZEIT: Sie sind zornig. Aber das Steuergeheimnis ist
schon ein hohes Gut, oder?
Woller: Es ist aus meiner Sicht überhaupt nicht nach-
vollziehbar. Es müsste ein Musterprozess zur Heraus-
gabe der Akten geführt werden, zu dem übrigens auch
der eine oder andere Archivar rät. Archivare ärgern
sich nämlich, dass sie gezwungen werden, ihre wert-
vollen Akten nicht herauszugeben. Aber wer hat die
Nerven, wer hat das Geld für einen solchen Prozess?
Wer steht ein solches Verfahren durch?
ZEIT: Sie zitieren Neudecker mit dem schönen Satz,
den er zu Franz Josef Strauß einmal gesagt haben soll:
»Wenn Sie dafür sorgen, dass alle Bundesligavereine
keine Vergnügungssteuer mehr zahlen müssen, sorge
ich dafür, dass alle Bayern die CSU wählen.« Diese
Steuer wurde schließlich tatsächlich abgeschafft –
aber kann man das dem FC Bayern vorwerfen, oder
muss man nicht einfach einräumen, dass die Verant-
wortlichen sehr geschickt und erfolgreich waren?
Woller: Klug und geschickt waren sie auf alle Fälle
und auch relativ skrupellos, aber sie waren vermutlich
nicht allein. Ich habe keinerlei Akten und Informatio-
nen dazu, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass
es in Nordrhein-Westfalen einen ähnlichen Sumpf
gegeben hat. Ich will den FC Bayern überhaupt nicht
allein an den Pranger stellen, könnte mir aber vor-
stellen, dass es in München besonders krasse Formen
angenommen hatte, wegen der großen Interessen-
identität zwischen dem FC Bayern München und der
Bayerischen Staatsregierung.
ZEIT: Haben Sie mit Uli Hoeneß über Ihre Recher-
cheergebnisse gesprochen?
Woller: Nein. Das Gespräch mit Herrn Hoeneß war
psychologisch außerordentlich schwierig. Als ich nur
kurz über Paul Breitner sprechen wollte, machte er

Foto: Werek/ullstein


»Es geht um


Millionen«


Der Historiker Hans Woller wollte nur eine Biografie


über Gerd Müller schreiben, den legendären Torjäger


des FC Bayern – und landete plötzlich in einem Sumpf


aus Schwarzgeldkonten und korrupten Finanzbehörden


gilt bis heute als der vielleicht
beste Bundesliga-Torjäger aller
Zeiten. Seine Tore haben den
FC Bayern groß gemacht. Nach
einem schlimmen Alkohol-
Absturz beschäftigte ihn der
Ver ein als Trainer. Heute lebt der
73-Jährige, schwer an Demenz
erkrankt, in einem Pflegeheim

Das Buch von Hans Woller
»Gerd Müller – oder wie das
große Geld in den Fußball
kam« erscheint in diesen Tagen
bei C. H. Beck. Woller, 67, ist
Historiker und war über
20 Jahre lang Chefredakteur
der »Vierteljahreshefte«
des renommierten Instituts für
Zeitgeschichte in München

Gerd Müller


Anstalten, das Interview abzubrechen, nach dem
Motto: Die Abmachung war, wir reden nur über
Müller. Da wusste ich, ein Gespräch über die po-
litischen Verwicklungen oder schwarze Kassen
macht überhaupt keinen Sinn.
ZEIT: Konnten Sie Franz Beckenbauer treffen?
Woller: Nein, ich habe ihn um ein Interview
gebeten, aber nichts von ihm gehört. Er hatte
genug andere Probleme, außerdem geht es ihm
wohl gesundheitlich nicht gut.
ZEIT: Herr Woller, Sie sind Wissenschaftler, Sie
müssen, was Quellen angeht, höchst sensibel sein.
Jetzt schreiben Sie in Ihrer Einleitung, dass Sie
Ihre Quellen nicht in allen Fällen nennen können,
auch, dass Ihnen in einigen Fällen nichts anderes
übrig blieb, als zu spekulieren. Hat Sie als Wissen-
schaftler geschmerzt, dass Sie sich auf teilweise
schlüpfriges Gelände begeben mussten, dass Sie
bei diesem Thema nicht so arbeiten konnten, wie
Sie es gewohnt sind?
Woller: Nein, gar nicht. Ich bin mir bei allen Sa-
chen, die ich geschrieben habe, völlig sicher, auch
wenn ich nicht in jedem Fall zwei Quellen habe.
ZEIT: Gilt das wirklich für alle Themen?
Woller: Bei einem, allerdings sehr wichtigen Punkt
bin ich nicht ganz sicher, und der zieht sich wie ein
roter Faden durch das Buch, das ist das Verhältnis
von Franz Beckenbauer zu Gerd Müller. Ich halte
meine Interpretation für richtig, dass sie einerseits
Freunde, andererseits harte Konkurrenten, wenn
nicht sogar Feinde waren.
ZEIT: Feinde?
Woller: Nun, ich kann diese These mit einigem
Material belegen, dass so bisher noch nicht be-
kannt war. Mehrere Zeitzeugen – Journalisten,
Funktionäre des FC Bayern und Mitspieler – ha-
ben sich entsprechend geäußert. Müller hatte nie
verwunden, dass Beckenbauer immer die Num-
mer eins war. Er wollte sogar den Verein wegen
Beckenbauer verlassen, auch weil er immer das
Gefühl hatte, schlechter behandelt zu werden.
Aber er konnte sich auf ihn verlassen, als es ihm
richtig dreckig ging, als er abstürzte.
ZEIT: Können Sie die Namen dieser Zeitzeugen
nennen?
Woller: Nein, interessanterweise wollte sich nie-
mand zitieren lassen. Insofern ist der Wissenschaft-
ler Hans Woller in diesem Punkt vielleicht mehr
ein Psychologe. Aber ich habe versucht, die Wacke-
ligkeit meiner Theorie auch deutlich zu machen.

ZEIT: Gerd Müller wurde Europameister, Welt-
meister, er war und ist der erfolgreichste Torjä-
ger, den Deutschland jemals hatte. »Bomber der
Na tion« wurde er genannt. Aber auch, von sei-
nem Trainer Zlatko »Tschik« Čajkovski: »kleines
dickes Müller«.
Woller: Das klingt lustig, alle haben gelacht, aber
Müller war empfindlich. Wenn über ihn gespottet
wurde, traf ihn das. Und er war auch als Mensch
vielschichtiger und schlauer, als ihn manche sehen
wollten. Er bewegte sich lange durchaus geschickt
in dem immer verrückter werdenden Medien-
betrieb. Und auch seine Geschäfte außerhalb des
Platzes liefen zunächst gut. Gerd Müller ist ein
sehr interessanter Mann ...
ZEIT: ... abhängig davon, ob der Ball ins Netz ging
oder nicht. Wenn er nicht traf, kamen die Krisen.
Woller: Ja, er schoss und traf auch aus unmögli-
cher Lage, aber wenn das Toreschießen als Haupt-
wurzel des Selbstbewusstseins gekappt wurde, war
nicht mehr viel da. Das ist häufig das Schicksal der
sozialen Aufsteiger.
ZEIT: Herr Woller, sind Sie eigentlich Bayern-Fan?
Woller: Sympathisant. Ich trinke morgens meis-
tens meinen Kaffee aus einer FC-Bayern-Tasse,
auf der »Präsident« steht. Die habe ich, glaube ich,
zum 60. Geburtstag geschenkt bekommen.
ZEIT: Nach dem Buch noch immer Bayern-
Sympathisant?
Woller: Ja, wenn ich auch manches von dem äu-
ßerlichen Glanz jetzt, um es vorsichtig auszudrü-
cken, etwas differenzierter sehe.
ZEIT: Sind Sie Gerd Müller eigentlich mal per-
sönlich begegnet?
Woller: Ich habe ihn als Spieler nur von der Zu-
schauertribüne aus gesehen oder im Fernseher.
Aber vor einem halben Jahr habe ich ihn besucht
in seinem Pflegeheim, wo er seit Jahren wegen
seiner schweren Demenz lebt.
ZEIT: Und?
Woller: Er hat gelächelt.

Das Gespräch führten Stephan Lebert und
Moritz Müller-Wirth

Gerd Müller hat 365 Tore
in der Bundesliga geschossen –
in der Zeit danach
lief es für ihn weniger gut


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


RECHT & UNRECHT 22


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Illustration: Lea Dohle

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DER KRIMINALPODCAST

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