Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

Wie reif sind Erstsemester?


Die Hochschulen klagen über mangelnde Fähigkeiten ihrer Studienanfänger. Eine Analyse VON THOMAS KERSTAN


Was wir wissen Was wir nicht wissen


HOCHSCHULE


Quellen


Zur Piaac-Studie siehe Beatrice Rammstedt:
»Grundlegende Kompetenzen«, 2013

Über Pisa arbeitete Manfred Prenzel:
»Fortschritte und Herausforderungen«, 2013

Olaf Köller: »Was nützen Ziele,
wenn man sie nicht erreicht?«, 2019

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie unter zeit.de/wq/2019-43

F


ür den obersten Hochschul­
vertreter ist die Sache klar: Die
Abiturienten sind nicht gut ge­
nug für die Universität. »Es gibt
gravierende Mängel, was die Studierfä­
higkeit zahlreicher Abiturienten angeht«,
klagte Peter­André Alt in der Frankfurter
Rundschau. Sein Wort hat Gewicht, er ist
Präsident der Hochschulrektorenkon­
ferenz (HRK). Die Rückmeldungen aus
den Hochschulen seien eindeutig: »Die
Studienanfänger erfüllen die Vorausset­
zungen deutlich schlechter als früher.«
Früher wurde das allerdings auch schon
behauptet. 1979 beklagte George Turner,
damals Präsident der Westdeutschen Rek­
torenkonferenz, die »ungleiche Studier­
fähigkeit« der Studienanfänger. Die Mäke­
lei an den Studienanfängern gehört also
zum Repertoire der Hochschulen.
Es gibt auf den ersten Blick einen
Grund dafür, nämlich den Ansturm auf
die Hochschulen. Im Jahr 2000 lag die
Studienanfängerquote noch bei 28 Pro­
zent. 2017 nahmen schon 46 Prozent eines
Jahrgangs ein Studium auf. Die Schüle­
rinnen und Schüler erwerben heute die
Hochschulreife an Gymnasien – aber auch
an integrierten Gesamtschulen und beruf­
lichen Gymnasien. Gelangen dadurch


viele junge Leute an die Hochschulen, die
mit einem Studium überfordert sind?
Die Piaac­Studie hat gezeigt, dass die
jüngeren Jahrgänge mehr können als ältere
Generationen. Wie die Pisa­Studie die
Kompetenzen von Schülern untersucht,
testete die Piaac­Studie im Jahr 2012 unter
anderem die Lese­ und Mathematikkom­
petenz der 16­ bis 65­Jährigen. Am besten
schnitt die Altersgruppe der 16­ bis 24­
Jährigen ab. Auch führt die Bildungsbetei­
ligung größerer Teile des Volkes nicht
zwingend zu schlechteren Leistungen – das
wiederum belegt die angesprochene Pisa­
Studie: Dort sind die durchschnittlichen
Leistungen der Gymnasiasten in Mathe
gleich geblieben, obwohl inzwischen viel
mehr Schüler aufs Gymnasium gehen als
im Jahr 2000, dem ersten Jahr, in dem die
Studie erhoben wurde.
Dass einige Erstsemester nicht studier­
fähig sind, darauf deuten die Abbruchzah­
len hin. 28 Prozent der Studienanfänger
beenden ihr Bachelorstudium ohne Ab­
schluss; ein knappes Drittel davon ist den
Leistungsanforderungen nicht gewachsen.
Abbrecherquoten von 25 Prozent waren
allerdings auch früher schon üblich.
Ebenso wichtig für die Frage nach
der Studierfähigkeit sind die Institutio­

nen, an denen diese erworben werden
soll: das Gymnasium und andere Schul­
arten, die zur Hochschulreife führen.
Eine Untersuchung des Kieler Bil­
dungsforschers Olaf Köller zeigt, dass
»erhebliche Teile der Schülerinnen und
Schüler am Ende der gymnasialen Ober­
stufe die durch Standards und Lehrpläne
definierten Ziele in einzelnen Fächern
nicht erreichen«. So erreichten
Schülerinnen und Schüler der
Mathe­Leistungskurse an Ge­
samtschulen im Mittel nicht
einmal das Leistungsniveau der
Grundkurse an Gymnasien.
Weitere Studien haben
Ähnliches ergeben, zuletzt
eine Untersuchung aus
Schleswig­Holstein im Jahr


  1. Dort zeigten sich
    erhebliche Schwächen in den
    Mathematikleistungen der
    Berufs gymnasiasten und drastische Un­
    terschiede in den Mathematik­ und
    Naturwissenschaftsleistungen der Schü­
    ler mit unterschiedlichen Profilen. Wäh­
    rend jene mit naturwissenschaftlichem
    Profil zu mehr als 50 Prozent die Ziele
    der Oberstufe erreichen, werden sie von
    80 Prozent der anderen Profile verfehlt.


S


chon der Begriff der Studierfä­
higkeit ist wolkig. Attestiert wird
diese in den meisten Fällen mit
der »allgemeinen Hochschulrei­
fe«, dem Abitur. Zuvor sollen Schüler in
der gymnasialen Oberstufe, so hat es die
Kultusministerkonferenz (KMK) verein­
bart, »vertiefte Allgemeinbildung« erwer­
ben, vor allem in den Kernfächern
Deutsch, Mathematik und ei­
ner Fremdsprache. Außerdem
sollen sie an das wissenschaftli­
che Arbeiten herangeführt
werden. Hinzu kommen
Schlüsselqualifikationen wie
Sozialkompetenz und Eigen­
verantwortlichkeit. Das klingt
nach einer umfassenden Be­
urteilung. Letztlich ist aber das
einzig relevante Maß, mit dem
die Studierfähigkeit ausge­
drückt wird: die Abiturnote.
Sie ist offenbar auch ein recht gutes
Maß für den künftigen Studienerfolg,
das haben mehrere Untersuchungen ge­
zeigt. Wer eine gute Abinote hat, wird
mit großer Wahrscheinlichkeit sein Stu­
dium erfolgreich absolvieren.
Andererseits unterscheidet sich die
Notengebung zwischen den Bundeslän­

dern erheblich. Formal gilt für das Abitur
überall die gleiche Norm: die KMK hat
sich auf sogenannte Einheitliche Prüfungs­
anforderungen der Abiturprüfung geeinigt.
In der Praxis sind die Anforderungen sehr
unterschiedlich. Zwar gibt es neuerdings
einen »Aufgabenpool« in Deutsch, Mathe­
matik, Englisch und Französisch, aus dem
sich alle 16 Länder bedienen können – aber
nicht alle nutzen ihn. Zudem können die
Aufgaben verändert werden, und die Be­
notung ist nicht einheitlich. So gibt es etwa
in Rheinland­Pfalz kein Zentralabitur, in
Hessen kann eine Präsentation die münd­
liche Prüfung ersetzen.
Noch mehr als die Prüfungen zählen
fürs Abitur die Noten, die in den Ober­
stufenkursen vergeben werden. In eini­
gen Ländern zählen die Noten der Leis­
tungskurse doppelt, in anderen einfach.
Auch die Zahl der Kurse, die Schüler ins
Abitur einbringen müssen, unterschei­
den sich. In Sachsen sind es 40, in Ber­
lin nur 32. Im Extremfall kann das be­
deuten, dass von zwei Jugendlichen mit
gleichen Leistungen der eine das Abitur
schafft und damit als studierfähig gilt,
während der andere durch die Prüfung
fällt – nur, weil er in einem anderen
Bundesland zur Schule geht.

Was die deutschen Schüler am Ende
der Oberstufe also wirklich können, bleibt
im Dunkeln. Die Noten geben darüber
wenig Auskunft. Eine harte Währung sind
sie dennoch, sobald ein Abiturient ein Fach
mit Numerus clausus studieren möchte.
Die KMK hat sich daher immerhin auf
überprüfbare Bildungsstandards für die
wichtigsten Fächer geeinigt. Am Ende der
Grundschule und am Ende der Mittel­
stufe wird durch deutschlandweite Tests
festgestellt, wie gut die Schülerinnen und
Schüler der verschiedenen Bundesländer
abschneiden. Auch für die Abiturienten
gibt es inzwischen Standards für Deutsch,
Mathematik und die erste Fremdsprache.
Inwiefern diese Standards erfüllt werden,
wird nicht überprüft – vermutlich, weil die
Leistungsunterschiede zwischen den Abi­
turienten der Bundesländer erheblich sind.
Es fehlen auch Studien darüber, inwie­
fern sich das breitere Fächerangebot auf
die Studierfähigkeit ausgewirkt hat. Fächer
wie Sozialkunde, Politik, Informatik, Wirt­
schaft und Recht standen früher ebenso
selten auf dem Stundenplan wie die dritte
oder gar vierte Fremdsprache. Sind sie ein
Gewinn für die Schüler, oder haben da­
durch andere Fächer an Tiefe verloren?
Man weiß es nicht.


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 WISSEN 39


46


Prozent eines
Jahrgangs
nahmen 2017
ein Studium auf

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