Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

DIGITALISIERUNG


Unsere Autorin hatte die perfekten Voraussetzungen für den Kurs:
Sie spricht Finnisch – verstand aber rein gar nichts von KI

Foto: Anton Sucksdorff für DIE ZEIT

Die Maschine, Tekoäly und ich


Finnland will seine Bürger fit machen für die digitale Zukunft – mit einem Online-Kurs über künstliche Intelligenz. Ein Selbstversuch VON JENNI ROTH


N


euronale Netze, Deep Lear-
ning, Wahrscheinlichkeits-
rechnung – für mich klingt
das eher abschreckend. Und
trotzdem werde ich mit genau
diesen Themen jetzt einige
Abende verbringen: Sie ge-
hören zum Online-Kurs »Elements of AI« – einer
Art Weiterbildungsprogramm am PC, das helfen
soll, Finnland fit für die künstliche Intelligenz (KI)
zu machen. Die Finnen haben viel vor, Weltmeister
in KI wollen sie werden, so hat es der Wirtschafts-
minister verkündet. 2017 verabschiedete Finnland
als einer der ersten Staaten der EU eine nationale
KI-Strategie. Darin geht es nicht nur um Investi-
tionen oder Kompetenzzentren, sondern auch um
die Finnen selbst. Erstes Etappenziel: Ein Prozent
der Bevölkerung soll lernen, was KI überhaupt ist,
was sie kann und was nicht. Und zwar mit diesem
frei verfügbaren Online-Kurs.
Demnächst erscheint auch eine deutsche Ver-
sion – und deswegen will ich vorab testen, was das
Projekt taugt. Meine Voraussetzungen sind per-
fekt: Als Halbfinnin spreche ich zwar die Sprache


  • verstehe aber rein gar nichts von KI. »Tekoäly«
    heißt »künstliche Intelligenz« auf Finnisch, aber
    auf der Kurs-Homepage steht überall das englische
    Kürzel »AI« (Artificial Intelligence). Dazu Fragen,
    die ich mir bisher nie gestellt habe: Wie beeinflusst
    KI mein Leben und meinen Job? Wie wird sie ge-
    macht, wie entwickelt sie sich?
    Tatsächlich ist KI ja keine Science-Fiction:
    Selbstfahrende Autos sind längst in der Wirklich-
    keit angekommen, auch die Gesichtserkennung –
    zum Beispiel beim automatischen Markieren von


Fotos in sozialen Medien oder bei der Passkon-
trolle am Flughafen. KI mischt bei personalisierten
Infos mit, auf Facebook, Twitter, Instagram, bei
maßgeschneiderter Online-Werbung oder Musik-
empfehlungen auf Spotify. Man bewege sich den
ganzen Tag durch eine einzige große Filterblase,
darum geht es gleich zu Beginn des Kurses. In mir
steigt die Frage auf, ob die KI eines Tages die Kon-
trolle über mein Leben übernehmen könnte. Die
konkreten Beispiele, um die es dann geht, sind
allerdings banal. Etwa, dass es die KI erlaube, Fotos
so zu bearbeiten, dass sie aussehen wie von van
Gogh gemalt oder wie eine Pixar-Animation, und
man daher auf der Hut vor Fälschungen sein solle.
Genau hier setzen die Macher des Kurses an.
»KI ist oft angstbesetzt. Wir wollen aufklären und

206 x 9 : 159, das macht 1854 : 159. Nach drei wei-
teren Matheaufgaben bekomme ich auf dem Bild-
schirm ein »Hurraa«.
Teil drei: maschinelles Lernen. Es geht um »bi-
näre Klassifizierungsprobleme«, lese ich, und um
die Struktur von Daten. Was kompliziert klingt,
lässt sich leicht auf den Alltag herunterbreche 372
n, zum Beispiel beim Online-Shopping. Ich bekom-
me eine Tabelle mit Dingen gezeigt, die verschiede-
ne Leute gekauft haben. Dann übernehme ich den
Job der KI: Ich ermittle, was das System dem Nut-
zer Jouni empfehlen würde, nachdem er grünen
Tee, T-Shirt, Sonnenbrille und Sandalen gekauft
hat. Antwort: Sonnencreme. Weil nämlich Ville,
dessen Käuferprofil Jounis am meisten ähnelt, zu-
letzt Sonnencreme gekauft hat. Für diese Aufgabe
reicht der gesunde Menschenverstand, aber Online-
Shopping-Seiten haben ja nicht nur sechs, sondern
Millionen Nutzer, die enorme Datenmengen pro-
duzieren. Dasselbe System greift natürlich auch bei

Musikempfehlungen, Filmen, bei Nachrichten oder
Social-Media-Inhalten.
Es folgt das Kapitel »Deep Learning«. »Optimie-
rungsmethode künstlicher neuronaler Netzwerke«
steht da – das ist wohl das Lernen der Maschinen.
»Tief« ist es, so lese ich, weil das Netz aus vielen
Schichten besteht, die miteinander verknüpft sind.
Virtuelle Assistenten wie Alexa, Chatbots oder die
neue Google-Bildsuche – sie gäbe es ohne Deep
Learning nicht. Die Algorithmen dieser Systeme
lernen mit jeder Frage, die ihnen gestellt wird, und
verbessern sich so selbst.
Letztes Kapitel: die gesellschaftspolitische Bedeu-
tung künstlicher Intelligenz. Dieses Thema scheint
den Kursentwicklern besonders wichtig. Der Infor-
matiker Teemu Roos bezeichnet »Elements of AI«
jedenfalls als Demokratisierungsprojekt: »Die Re-
gulierung von KI muss demokratischen Grund-
sätzen folgen, wofür aber das technologische Wissen
für alle frei verfügbar sein muss.«

Das Ein-Prozent-Ziel jedenfalls haben die Finnen
nur vier Monate nach dem Start des Kurses erreicht.
Dazu beigetragen habe wohl auch die »AI Chal-
lenge«, sagt Ville Valtonen von der Beratungsagentur
Reaktor, die das Marketing für den Kurs übernom-
men hat. Bei dem Wettbewerb sollten Unternehmen
so viele Mitarbeiter wie möglich weiterbilden. Kon-
zerne wie Nokia machten mit, der Telekomanbieter
Elisa und der Papierriese Stora Enso, insgesamt nah-
men rund 250 Firmen teil. Auch die finnische Re-
gierung schulte ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterin-
nen. Die Kursteilnehmer sollten am Ende in der
Lage sein, das, was sie über KI hören oder lesen,
kritisch zu bewerten und einzuordnen. Das könnte
funktionieren. Mit Fachleuten über neuronale Net-
ze diskutieren? Kann ich immer noch nicht. Eine
Unbekannte aber ist die Intelligenz im Rechner
auch nicht mehr.

A http://www.zeit.deeaudio

auch die Chancen aufzeigen«, sagt Teemu
Roos. Er ist Informatikprofessor an der Univer-
sität Helsinki und hat den Kurs für Laien ent-
wickelt. Den vielen und ausführlichen Kom-
mentaren im Kursforum nach zu schließen,
sind die Leute voll bei der Sache. Anders geht
es auch kaum, denn das hier ist kein läppisches
Dreiminutenquiz: Aus sechs Teilen besteht der
Lehrgang, er ist eine Mischung aus Theorie
und praktischen Übungen, von maschinellem
Lernen bis zu den Grundlagen des Programmie-
rens, insgesamt werden 60 bis 90 Stunden für
»Elements of AI« veranschlagt.
Ich bin immer noch bei Teil I, den Definitio-
nen. Die Texte sind simpel, die Beispiele an-
schaulich, die Seiten ansprechend illustriert.
Nicht mal die Wissenschaft habe sich bisher auf
eine klare KI-Definition geeinigt, erfahre ich.
Für KI sind viele Dinge leicht, die für uns
schwer sind – und umgekehrt. Beim Schach
Dutzende von Zügen abwägen: kein Problem.
Den Läufer greifen und über das Spielfeld bewe-
gen: hochkompliziert. Das erinnert mich daran,
dass Programmierer angeblich das Finnische
lieben: Die Sprache hat, im Gegensatz etwa zum
Englischen, zwar unzählige Regeln, aber kaum
Ausnahmen. Was Sprachschülern das Leben
schwer macht, macht es dem Computer leicht.
Zeit für den ersten Test. Sieben Fragen,
Multiple Choice: Beruhen Vorhersagen von
Aktienkursen anhand von früheren Verläufen
auf KI? (Ja, die Auswahl aus zahllosen ver-
schiedenen Verläufen erfordert KI). Handelt es
sich bei GPS-Navigation um KI? (Ja und nein:
Die Signalverarbeitung zur Ermittlung der
Koordinaten ist keine KI, aber Navigations-
vorschläge wie die kürzeste oder schnellste
Route sind KI-basiert).
Als Nächstes geht es um »vahva ja heikko
tekoäly«, also um »starke KI« und »schwache
KI«. Ich zweifle kurz an meinen Finnisch-
Kenntnissen. Heißt das wirklich so? Tatsäch-
lich: Als starke KI bezeichnet man ein künst-
liches System, das wirklich bewusst Entschei-
dungen treffen kann. So etwas gibt es noch
nicht. Schwache KI nennt man Systeme, die
intelligente Funktionen ausführen können und
für bestimmte Anforderungen entwickelt wor-
den sind. Die gibt es schon, für die Spracherken-
nung etwa oder die Navigation.
Ich lese mich noch durch Teil II, es ist stre-
ckenweise zäh. Und jetzt auch noch: »uskotta-
vuusosamäärä«, Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Sie ist offenbar ein Schlüsselelement der KI.
Fast alle aktuellen KI-Anwendungen basieren
zumindest teilweise auf der Berechnung von
Wahrscheinlichkeiten, erfahre ich. Wieso, das
erklärt ein Infokasten: KI wird oft bei Fragen
eingesetzt, bei denen Unsicherheiten eine Rolle
spielen. Und Wahrscheinlichkeiten helfen, sol-
che Risiken abzuschätzen und miteinander zu
vergleichen: Wie hoch ist das Unfallrisiko bei
einer Überschreitung des Tempolimits? Wie
hoch die Wahrscheinlichkeit, dass der Zinssatz
für eine Hypothek steigt oder dass KI auf Rönt-
genbildern Knochenbrüche korrekt erkennt?
Ich soll jetzt also dieses »probabilistische
Denken« üben. Etwa anhand der Wettervor-
hersage. Im Rechenbeispiel wache ich morgens
in Finnland auf, Wolken hängen am Himmel,
und ich muss abschätzen, ob es heute wohl
regnet. Ich bekomme die Information, dass es
durchschnittlich an 206 Tagen im Jahr regnet
(bei 365 Tagen ergibt das eine Wahrscheinlich-
keit von 206 : 159), und an neun von zehn
Regentagen morgens Wolken am Himmel
sind (Wahrscheinlichkeit 9 : 1). Das Regenri-
siko an diesem Wolkenmorgen beträgt also:

ANZEIGE

ANZEIGE


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 WISSEN 41


MACH, WAS WIRKLICH ZÄHLT.


FOLGEDEINERBERUFUNG.


bund


eswe


hr


karri


ere.d


e


FOLGE DEINER BERUFUNG.


#IT

WAS KÖNNEN WIR NOCH TUN?
Eine globale ökologische
Bestandsaufnahme

Hardcover - 288 Seiten - 24,99 €*

Jetzt http://www.komplett-media.de
lesen!

http://www.shop.zeit.de/erde

*zzgl. Versandkosten. Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg

107395_ANZ_10739500019244_24074228_X4_ONP26 1 06.09.19 16:03

Free download pdf