Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

8 POLITIK 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


Anfeindungen, Triumphe, seltsame Begegnungen: Wie die Klimaaktivistin Greta Thunberg das Jahr erlebte, vertraute sie


ALEXANDRA URISMAN OTTO an, Reporterin der schwedischen Zeitung »Dagens Nyheter«


Man muss bedenken, dass Greta Thunberg, bevor
sie zu einer der einflussreichsten Personen der Welt
wurde, nicht bloß ein ganz normales 15-jähriges
Mädchen war. Im Alter von elf Jahren litt sie an einer
schweren Depression. Sie sprach nur noch mit ihren
engsten Familienangehörigen, konnte nicht mehr zur
Schule gehen. Und hörte auf zu essen. Nach zwei
Monaten stellte ein Arzt der Kinder- und Jugend-
psychiatrie fest, dass Greta aufgrund ihrer Unter-
ernährung demnächst ins Krankenhaus eingewiesen
werden müsse. Dies war der Wendepunkt, der An-
fang ihres langen Wegs zurück.
Im Sommer äußerte sich Greta Thunberg in ei-
nem Interview mit Dagens Nyheter: »Ich war irgend-
wie total unglücklich. Es war nichts passiert. Wenn
es mir gelungen war, rauszugehen zum Supermarkt,
habe ich das in meinem Tagebuch festgehalten und
war stolz, dass ich das geschafft habe.« Als sie das
Tagebuch später las, habe sie gedacht, »dass ich vor
einem oder zwei Jahren von dem Leben, das ich
heute habe, nur träumen konnte, ganz unabhängig
von dem ganzen Aktivismus und der Bekanntheit«.

Greta Thunberg sitzt auf dem Vordersitz in Arnold
Schwarzeneggers Elektroauto, und es scheint ihr gut
zu gehen. Die unerfreulichen Folgen ihres Erfolgs
sind vor allem zu Hause in Stockholm bemerkbar.

Thunberg: Diejenige, die leidet, ist meine Schwes-
ter. Sie ist 13 Jahre alt und muss systematisches
Mobbing, Hass und Schikanen ertragen.
Von wem wird sie schikaniert?
Thunberg: Alle, die mir drohen und voller Hass
schreiben, richten ihren Hass gegen meine ganze
Familie. Der Unterschied ist, dass meine Angehöri-
gen zu Hause sind und ich ständig unterwegs und
unerreichbar bin. Die Leute wissen nicht, wo ich
wohne, wo ich nachts schlafe, wo ich mich aufhalte.
Ich habe keinen Alltag. Aber meine Schwester zu
Hause versucht, einen Alltag zu haben. Sie ist also
viel leichter zu erreichen.
Was tut ihr gegen die Drohungen?
Thunberg: Wir melden sie der Polizei.
Wie beeinflusst dich das?
Thunberg: Es ist schrecklich. Die Menschen fra-
gen sich, wie sie mir helfen können, aber diejeni-
gen, die wirklich Hilfe benötigen, bekommen sie
nicht. Sie werden nur verhöhnt und bekommen
Hassbotschaften. Meine Schwester ist dem am
stärksten ausgesetzt, aber für sie gibt es keine Hilfe.
Stattdessen bekommt sie überall Gegenwind.
Welche Unterstützung wäre nötig?
Thunberg: Freunde, die sie besuchen und fragen,
wie es ihr geht, die sich melden. Ich erhalte ständig
feine Einladungen von Menschen, die mir helfen

wollen. Die beste Art, mir im Moment zu helfen,
ist, meine Schwester zu unterstützen. Nicht weil
sie meine Schwester ist, sondern weil sie eine wun-
derbare und starke Person ist. Sie ist meine beste
Freundin.

Während ihrer Atlantiküberquerung im Sommer
hat Greta Thunberg nach einigen Tagen angefan-
gen, Kinderlieder zu summen, die sie glaubte ver-
gessen zu haben: »Wir haben eine Esche, die ist
mindestens 100 Jahre alt. Jedes Jahr wird sie grö-
ßer, am untersten Zweig hängt meine Schaukel.
Dort sitze ich oft und lass die Beine baumeln.«
Majas Buchstabenlied, von A bis Ö. Als sie an Land
ging, googelte sie als Erstes den Text der Strophe
zum Buchstaben U; die einzige, an die sie sich
nicht erinnern konnte.
15 Tage lang hatten Greta Thunberg und ihr
Vater Svante Thunberg den Atlantik überquert, zu-
sammen mit zwei Mann Besatzung und einem Ka-
meramann. Das Segelboot hatte Solarzellen, Was-
serkraft. Aus Sicherheitsgründen auch einen Motor,
aber der wurde nie benutzt. Auf dem Segel stand
eine klare Botschaft – gedruckt in großen, weißen
Buchstaben: »Unite behind the science«.

Thunberg: Die Reise war ... es war, als ob man sein
Leben noch einmal von vorne leben würde. Ich be-
gann, mich an alle diese Lieder zu erinnern, und mir
fielen neue Sachen aus der Zeit ein, als ich klein war.
Es ist schwer, solch ein Erlebnis zu beschreiben.

Sie schlief jede Nacht zwölf, manchmal 14 Stun-
den auf einer Pritsche. Wurde nie seekrank. Und
saß oft viele Stunden lang ganz still da, mit dem
Blick über das Meer.

Thunberg: Ich hatte mir vorgenommen, die Rede
zu schreiben, zu planen, was passieren sollte, wenn
wir ankommen und so. Aber das ging nicht. Das
Gehirn war völlig leer. Als wir da waren, dauerte es
ein bisschen, wieder in Gang zu kommen.

Bei der Ankunft in New York trafen die fünf Atlantik-
Überquerer auf 17 Boote mit verschiedenfarbigen
Segeln – es waren die UN, die ihnen ein Willkom-
menskomitee schickten. Jedes Boot repräsentierte ein
globales Nachhaltigkeitsziel.
War es eine wissenschaftliche Mission, zu der sie
sich aufgemacht hatte? Sie kam in ein Land mit einer
politisch polarisierten Bevölkerung, in dem das Ver-
trauen in die Wissenschaft und ihre Ergebnisse
schwindet. Zwar hegen die meisten Amerikaner
großes oder recht großes Vertrauen, dass Forscher
zum Wohle der Allgemeinheit agieren. Doch nur

sechs von zehn Amerikanern wollen, dass Forscher
bei wissenschaftlichen Fragen in der gesellschaftlichen
Debatte eine aktive Rolle spielen. Die, die am wei-
testen von Greta Thunbergs Weltsicht entfernt sind,
sind die älteren, republikanischen Wähler. Viele von
ihnen finden, dass politische Maßnahmen im Bereich
Klima sinnlos oder sogar schädlich sind. Nur etwa
ein Viertel der Republikaner »glaubt«, dass die Erd-
erwärmung auf dem Tun des Menschen beruht.
Gleichzeitig behaupten 60 Prozent der Ameri-
kaner von sich, Folgen der Klimaveränderung in
ihrem nahen Umfeld zu beobachten, zum Beispiel
durch die gestiegene Anzahl von Waldbränden,
Dürre, Überschwemmungen und Stürmen.

»Hello, how are you? I’ve seen you in the news!«
Der Mann mit dem weißen Cowboyhut steht ge-
nau vor der Tür zum Shop der Tankstelle. Greta
Thunberg hat das Elektroauto an der Ladestation
hinter sich gelassen, er stoppt sie auf dem Weg
hinein. Seit den 1970er-Jahren wurde im Prärie-
staat South Dakota kein demokratischer Gouver-
neur mehr gewählt, im Nachbarstaat North Da-
kota seit 1984 nicht mehr. Seit 1968 haben die
Einwohner beider Staaten für republikanische
Präsidentschaftskandidaten gestimmt. »Ich unter-
stütze dich«, sagt der Mann mit dem Hut.
Greta Thunberg nickt, dankt, lächelt. Sie ist
das gewohnt. Nicht nur, aufgehalten zu werden,
für Selfies zu posen, Autogramme zu geben – son-
dern auch mit Respekt behandelt zu werden.

Thunberg: Auf eine Art ist das immer ein positiver
Schock. Man freut sich darüber, denn das bedeu-
tet, dass es volksnah ist. Dass es gut ankommt. Wo
man auch ist, an jeder Ladestation sind Menschen,
die einen wiedererkennen. Viele erzählen, dass sie
an Orten wohnen, die kaputt und bedroht seien.
Dass sie die Zerstörung der Natur erleben und
wertschätzen, dass ich sage, wie es ist.
Gibt es niemanden, der kommt
und etwas Negatives sagt?
Thunberg: Nein. Nie. Das passierte ein paar Mal
während Tag 1, 2 und 3 des Streiks in Stockholm.
Bevor ich so bekannt wurde. Da tauchten Leute
auf und schrien, dass ich der »richtigen Forschung«
zuhören solle. Oder dass ich zur Schule gehen sol-
le. Aber dann hörte das auf. Und das zeigt ja nur,
wie wenige das sind, die das nicht mögen. Die sit-
zen da und verstecken sich hinter einem Bild-
schirm oder einem Brief. Die würden nie kommen
und laut sagen, was sie denken, denn sie richten
sich ja nicht gegen mich. Sie schreiben so, weil sie
Meinung machen wollen. Um die Wissenschaft zu
einer politischen Frage zu machen.

In dem einen Jahr, in dem der Fotograf Roger
Turesson und ich Greta Thunberg begleitet haben,
hat sich fast alles verändert: Greta wurde von einer
einsamen, fast in sich gekehrten 15-Jährigen ohne
Stimmrecht zu einer gefeierten, extrem mitteilsa-
men jungen Frau mit einer schwer überschaubaren
Machtbasis. Die Öffentlichkeit, in der zuvor De-
batten über die Klimafrage fehlten, wird nun ge-
prägt von grün gefärbten Wahlen und Millionen
von Menschen auf den Straßen der Welt, mit einer
gemeinsamen Agenda.
Doch eines steht unerschütterlich fest, genau
wie vor einem Jahr: das, was Greta Thunberg sagt.
Es ist wieder und wieder dieselbe Botschaft. Hört
auf die Wissenschaftler, hört auf die Wissenschaft-
ler, hört auf die Wissenschaftler!

Thunberg: Entweder hören wir zu und stehen hin-
ter der Wissenschaft oder wir tun es nicht. Entwe-
der stehen wir hinter dem IPCC und dem Pariser
Klimaabkommen oder wir tun es nicht. Man kann
nicht hinter dem Teil der Wissenschaft stehen, der
einem am besten gefällt. Entweder vermeiden wir,
eine Kettenreaktion in Gang zu setzen, die der
Mensch nicht kontrollieren kann, oder wir tun es
nicht. Auf eine Art merkt man, dass sich das ame-
rikanische Wissenschaftsbild sehr von dem in
Schweden unterscheidet. Aber es ist hier wie dort
dasselbe Phänomen. Hier ist es nur stärker. Man
sieht es deutlicher. Es gibt mehr Menschen, die
Sachen sagen wie »Ich stimme Greta nicht in allem
zu«. Zustimmen zu was? Die machen das zu einer
politischen Frage, aber ich spreche nie über Politik.
Ich sage, dass wir auf die Wissenschaft hören müs-
sen. Dass wir uns um die Zukunft kümmern müs-
sen. Ich habe kein einziges Mal politisch Stellung
bezogen. Ich habe nie eine politische Partei unter-
stützt, geschweige denn eine politische Meinung.
In deiner Rede vor den UN hast du über Wirtschafts-
wachstum gesprochen. War das eine Meinung?
Thunberg: Die Leute sagen mir die ganze Zeit,
dass sie meine Sicht auf das Wachstum nicht tei-
len. Ich habe nie gesagt, dass wir kein Wirtschafts-
wachstum haben können. Ich habe nur kritisiert,
dass sich die Machthaber darauf und auf Geld
konzentrieren, anstatt über das menschliche Leben
und das Ökosystem zu sprechen.

Am Tag nach der US-Wahl 2016 saß Greta Thun-
berg den ganzen Tag im Schlabberlook zu Hause
und schaute Nachrichtensendungen.
Thunberg: Ich werde nie vergessen, als Papa mich
weckte und sagte: »Es hat heute Nacht so viel ge-
schneit, dass du nicht zur Schule musst. Und übri-
gens, Trump hat gewonnen.«

Was war dein erster Gedanke?
Thunberg: In mir drinnen fühlte ich: »Wow, nun
ist es passiert.« Aber nach außen ließ ich mir nichts
anmerken.
Wolltest du, dass Donald Trump gewinnt?
Thunberg: Ich will, dass die Menschen aufwachen.
Ich dachte, wenn er gewählt wird, werden die
Menschen wohl aufwachen müssen.

Seit Donald Trump 2017 seinen Amtseid ableg-
te, hat ein Beschluss nach dem anderen die Klima-
gesetzgebung gelockert. Michael Burger ist der
Chef des Sabin Center an der Columbia Uni-
versity, das fortlaufend das Regierungshandeln
bewertet.
»Ich würde sagen, das ist der systematische und
umfassende Versuch, einen kompletten Kurs-
wechsel in der Klimapolitik zu vollziehen und
alle Maßnahmen der Obama-Administration
rückgängig zu machen«, sagt Michael Burger.
»Von der Kraftwerksemission bis zur Energie-
effizienz von Glühbirnen oder der Gewinnung
fossiler Brennstoffe.«

Wie würdest du den Blick des Präsidenten auf die
Wissenschaft hinter der Klimakrise beschreiben?
Thunberg: Er ist ein Leugner des Klimawandels.
Er leugnet die Wissenschaft. Er sagt, das sei ein
Bluff. Er glaubt nicht an sie, und er glaubt, dass
das, was er glaubt, wichtig sei.

Dies ist die letzte Fahrt der Arbeitswoche im
Elektroauto. Wir sind auf dem Weg nach Denver
und zu Greta Thunbergs 60. Freitagsstreik. In der
Kleinstadt Custer gibt es eine Stromtankstelle, im
Schaufenster des nahe gelegenen Souvenirladens
hängen unzählige T-Shirts mit dem Konterfei des
US-Präsidenten. Eines der Shirts zeigt Donald
Trump auf einem Motorrad, dazu den Text:
»Welcome to America. Speak English or get the hell
out of here.«

Wie siehst du Präsident Trump heute?
Thunberg: Die Klimabewegung wäre heute de-
finitiv nicht so stark, hätte Hillary Clinton ge-
wonnen. Es sind so viele gesellschaftliche tipping
points, die zu einem langsamen Aufwachen bei-
tragen. Es kann falsch sein, doch ich glaube,
dass man Trumps Wahl in Zukunft als Wende-
punkt ansehen wird.

Aus dem Schwedischen von
Ulrike Klees und Valeska Henze

© Dagens Nyheter, erschienen am 13. Oktober 2019

Die Frau, die aus


dem Himmel kam


A


ls Greta Thunberg ihren neuen
Namen bekommen soll, erhebt
sie sich von dem Plastikstuhl
und stellt sich auf den Boden der
Sporthalle. Chief Arvol Looking
Horse steht auf dem Podium
hinter ihr. Spricht ihren Namen
aus und gibt den Musikern ein Zeichen. Die Feier
wird von traditionellen Liedern und Trommeln be-
gleitet.
Über 500 Kinder haben sich in der Standing Rock
Community School in South Dakota versammelt, um
das Gespräch zwischen Greta Thunberg und der gleich-
altrigen Aktivistin Tokata Iron Eyes über die Klima-
krise zu verfolgen. Die meisten hier sind Ureinwohner


  • Sioux, die den Stämmen der Lakota, Dakota und
    Nakota angehören. Der Ort wurde 2016 durch Pro-
    teste gegen die geplante Erdölfernleitung Dakota
    Access Pipeline bekannt. Aus Angst vor einem verhee-
    renden Leck haben damals Tausende Menschen fast
    das ganze Jahr lang protestiert. Sie haben verloren, die
    Leitung wurde gebaut.
    »Dieser Ort liegt im Zentrum des Geschehens. Die
    Menschen hier sind am stärksten betroffen. Sie sind
    aber auch diejenigen, die den Kampf gegen die Klima-
    und Umweltkrise anführen. Sie haben noch immer
    eine Verbindung zur Natur, die viele von uns verloren
    haben. Sie wissen, wie wir diese Krise überwinden
    können«, sagt Greta Thunberg nach der Zeremonie.
    »Außerdem war es ärgerlich, dass die Medien lieber
    darüber geschrieben haben, dass Kim Kardashian mich
    verehrt, anstatt über die Sorgen der Menschen hier zu
    berichten. Nun ja, die Medien treffen manchmal
    merkwürdige Entscheidungen.«
    Jay Taken Alive, ein ehemaliger Häuptling der
    Sioux, hatte spontan vorgeschlagen, dass Greta
    Thunberg mit einem Lakota-Namen geehrt werden
    sollte: »Du weckst die Welt«, sagte er. Der Name:
    Mahpiya Etahan hi wi – die Frau, die aus dem Him-
    mel kam.
    Vor einem Jahr führten der Fotograf Roger Tures-
    son und ich unser erstes Interview mit Greta Thun-
    berg. Wir saßen auf dem kalten, grauen Straßen-
    pflaster am Mynttorget vor dem schwedischen
    Reichstag. Nur wenige Wochen zuvor hatte sie die
    erste Rede ihres Lebens über das Klima gehalten. Vor
    mehreren Hundert Personen im Rålambshovsparken
    von Stockholm erzählte Greta Thunberg, dass der
    Schulstreik, mit dem sie drei Wochen vorher ange-
    fangen hatte, jeden Freitag fortgesetzt würde, bis die
    schwedische Klimapolitik dem Pariser Abkommen
    entspräche.
    War sie nervös?
    »Situationen, die für andere stressig sind, regen
    mich nicht auf. Mir fällt es leicht, ruhig zu bleiben«,
    sagte sie damals.
    Als wir uns in der Prärie treffen, ist es zwei Wo-
    chen her, dass sie vor den führenden Politikern der
    Welt im UN-Gebäude in New York gesprochen
    hat. Jetzt sitzen wir in dem Elektroauto, das ihr der
    ehemalige Gouverneur Arnold Schwarzenegger
    geliehen hat.


Wie hast du dich während der Rede
vor der UN gefühlt?
Greta Thunberg: Davor war ich nicht nervös. Ich
dachte nur daran, dass dies groß sein würde, dass ich
mich konzentrieren müsste. Aber das war nicht
schwierig. Dann bin ich dort angekommen, und ich
habe einige der führenden Politiker der Welt getrof-
fen, die Selfies mit mir machen wollten.
Wer zum Beispiel?
Thunberg: Merkel. Sie hat ein wenig geredet und
natürlich gefragt, ob es in Ordnung wäre, wenn sie
das Bild in den sozialen Medien verwendet.
Dann ging ich auf die Bühne und hörte den Reden
der anderen zu. Als ich anfing zu sprechen, wurde
das plötzlich total bewegend. In dem Moment habe
ich wohl verstanden, dass dies hier eine wirklich
wichtige Rede sein würde.
Wie hast du die Rede vorbereitet?
Thunberg: Ich habe etwa seit Mittsommer über den
Inhalt nachgedacht. Eine Botschaft sollte lauten:
»How dare you?« – eine Schuldzuweisung und Be-
schämung der Machthaber. Danach habe ich das
gemacht, was ich immer mache. Ich habe es vor mir
hergeschoben. Und einige Tage vorher habe ich an-
gefangen, die Rede zu schreiben.
Bekommst du Hilfe, um in der Rede
die richtigen Fakten zu verwenden?
Thunberg: Ja, wenn die Rede einigermaßen fertig ist,
schicke ich sie an mehrere Wissenschaftler. Das sind
immer unterschiedliche, zum Beispiel ein Experte
für ein bestimmtes Gebiet. Und meist bekomme ich
innerhalb einiger Stunden eine Antwort. Kommen-
tare wie: Hier solltest du noch das ergänzen, oder so.
Wenn es sich um falsche Fakten handelt oder Dinge,
die missverständlich sind, ändere ich das.

Wäre Greta Thunberg Künstlerin, würde man sagen,
dass sie ihren internationalen Durchbruch während
dieser fünf Minuten in dem Saal hatte, in dem nor-
malerweise die Generalversammlung der UN tagt. Mit
vor Wut bebender Stimme richtete sie den Blick auf
die eingeflogenen Staats- und Regierungschefs im Saal.
»How dare you?«, sagte sie und nannte Fakten des Welt-
klimarats der UN (IPCC). »Die beliebte Idee, unsere
Emissionen in zehn Jahren zu halbieren, gibt uns nur
eine 50-prozentige Chance, unter einer Erderwärmung
von 1,5 Grad zu bleiben.«
Sie verlas ihre überprüften und bestätigten Zahlen,
erzählte den Weltpolitikern, dass diese 50-prozentige
Wahrscheinlichkeit auf dem Bericht des Weltklimarats
basiere – und dass dieser Faktoren wie Klimagerechtig-
keit nicht berücksichtige. Außerdem gehe das Szenario
davon aus, dass es Technologien gebe, die große Men-
gen Kohlendioxid aus der Luft auffangen könnten.
Technologien, die es bisher nicht gebe.
»Ein Risiko von 50 Prozent ist für uns einfach
nicht akzeptabel. Wir müssen mit den Konsequen-
zen leben«, sagte sie.
Sie wurde gefeiert. Sie wurde verhöhnt. Und in
der darauffolgenden Woche hat sie drei Millionen
neue Instagram-Follower gewonnen.

Stationen ihrer
Reise: Thunberg im
Oktober in South
Dakota (oben) und
im März in Hamburg
im Zug (rechts)

Thunberg mit Hund
Moses in Stockholm
(oben) und vor
einem Jahr in einem
Hotelzimmer in
London (links)

Fotos: Roger Turesson/DN



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 POLITIK 9


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